Wolfgang Scholmanns

Bullenangriff

„Puuuh, das war die letzte Kanne. Ist echt mühselig, den Rindern jeden zweiten Tag Wasser zu bringen.

Ein paar von ihnen hatten wir auf einer unweit des Hofes liegenden Weide untergebracht. Die alte Zinkwanne, die ich alle paar Tage mit Wasser füllen musste, diente dort als Trinkbehälter.

Die Geschichte ereignete sich Ende der Sechziger

und vieles ging noch nach althergebrachter Weise vonstatten.

Das Wasser wurde in alte, ausrangierte Milchkannen gefüllt, auf eine Handkarre geladen und auf diesem wackeligen Gefährt zur Weide transportiert. Ich füllte die Kannen immer nur halb, denn sonst waren sie für einen elfjährigen Jungen viel zu schwer.
In ein paar Tagen werden die Hornviecher in den Stall kommen, denn es geht auf Oktober. Sicher werden bald erste Nachtfröste den nahen Winter ankündigen.

Gott sei Dank kam Vater bald vom Melken zurück, dann würde erst einmal gefrühstückt. Nachher mussten noch Kartoffeln sortiert werden, denn als ich die Karre aus der Scheune holte fiel mir auf, dass die Sortiermaschine aufgebaut war. Sie stand mitten in der Scheune, vor einem großen Berg Kartoffeln. Da waren große und kleine zusammengewürfelt, gerade so, wie sie auf dem Feld geerntet wurden. Die Sortiermaschine filtert die kleinen Kartöffelchen heraus, sodass die Kundschaft sich nicht über Kartoffelzwerge beschweren konnte.
„Ganz schön kalt“, sagte Vater, der gerade in die Küche kam.

“Das Gras wächst kaum noch und die Kühe geben weniger Milch. Am Wochenende kommen sie in den in den Stall und die Rinder auch.“ Oh Mann, ging es mir durch den Kopf. Da will ich doch zum Fußballspiel. Kann ich mir mal wieder abschminken.

Meine Mutter schaute mich an. „Lass mal den Jungen, der möchte am Samstag Fußball spielen. Er hilft fast jeden Tag auf dem Hof und da wird er am Samstag wohl mal seinem Hobby nachgehen dürfen.“

„Nur die Ruhe, meine Lieben. Selbstverständlich kann unser Sohn zum Fußball. Wusste doch gar nicht, dass die am Samstag spielen. Die Viecher kriegen wir schon alleine in den Stall.“

„Das haben wir früher immer alleine gemacht, lieber Mann. Ist nicht so einfach, dauert ziemlich lange, aber wir schaffen das schon. Sie nur, wie sich der Junge freut.“
Ich war heilfroh, dass ich am Samstag zum Spiel durfte und tanzte in der Küche herum.

„Ja, da geht einem das Herz auf“, lachte mein Vater. „Der Jürgen kommt gleich zum Sortieren, da werde ich den mal fragen ob er am Samstag Zeit hat.“

Jürgen war ein Junge aus der Nachbarschaft. Er war damals fünfzehn und ein kräftiger Bursche. Seit seinem zehnten Lebensjahr kam er zu uns auf den Hof und hatte, im Laufe der Zeit, schon sehr viel gelernt. Trecker fahren beherrscht er schon fast so gut wie mein Vater und auch viele andere Arbeiten, die auf so einem Bauernhof anfallen, konnte Vater ihm anvertrauen.
Als wir die Scheune betraten, stand Jürgen schon an der Maschine und grinste. „Moin Männer, ausgeschlafen?“

„Ich zieh dir gleich die Ohren lang, du Flegel“, sagte mein Vater lachend.

„Als du noch in tiefen Träumen gelegen hast, bin ich schon zum Melken gefahren und Wolf hat die Rinder versorgt.“

„War nur ein Spaß, Heinrich.“

„Weiß ich doch, Junge. Schön, dass du da bist. So, aber jetzt mal ran. Hole schon mal den großen Anhänger, der hinter der Scheune steht, ich bereite hier alles vor. Wolf kann dir dabei helfen. Die sortierten Kartoffeln laden wir nach dem Wiegen und Einsacken sofort auf den Hänger, dann ist das Thema Kartoffeln, bis auf das Ausliefern, erst einmal erledigt.

„Okay Chef!“, riefen wir wie aus einem Munde und schlenderten zur Treckergarage.

Neben der Scheune befand sich die Hühner- und Entenwiese. Die Ställe für dieses Federvieh waren in die Scheune integriert. Neben diesen Geflügelställen gab es noch einen Stall. In dem waren unsere Bullen untergebracht. Na ja, an diesem Tag wohl nicht, denn als ich das Tor öffnete, um Jürgen, der gerade mit dem Trecker vorfuhr, den Weg frei zu machen, sah ich, dass die Stalltüre weit aufstand. „Die Bullen sind draußen, Jürgen. Da müssen wir aufpassen“.

„Ach Wolf, die sind doch ganz harmlos. Hab sie letztens noch gestreichelt.“

Wir wollten den Hänger ankuppeln, stellten jedoch fest, dass der Bolzen nicht in der Treckerkupplung steckte.

„Der liegt wohl noch in der Garage, ich hole ihn mal.“

Jürgen hatte Schmierfett an den Händen, das von der Anhängerkupplung stammte. Um dieses zu entfernen, nahm er einen alten Lappen, der unter dem Treckersitz lag, wischte das Fett an ihm ab und lief dann, den Lappen wild über seinen Kopf schwingend, zur Treckergarage. Einem der Bullen schien dieses Wedeln mit dem Tuch wohl gar nicht zu gefallen. Mit mächtigen Sätzen, stürmte er auf Jürgen zu, und erwischte ihn, mit einem seiner Hörner, am Oberschenkel. Mein Vater, der gerade zum Tor hinausschaute, war in Windeseile am Ort des Geschehens und schlug, mit dem Stiel einer Mistgabel, auf den Bullen ein. Der verschwand dann so schnell, wie er gekommen war und beobachtete das weitere Geschehen aus der Ferne. Vater schleppte den bewusstlosen Jürgen, dessen rechtes Bein wie verrückt blutete, ins Haus, während meine Mutter den Notarzt anrief. Jürgen, der aus der Ohnmacht erwacht war und uns mit schmerzverzerrtem Gesicht anschaute, wurde in den Krankenwagen verfrachtet. Meine Mutter hatte seine Eltern informiert und schon kurze Zeit später, trafen wir uns am Krankenhaus. Nach ersten Untersuchungen teilte man uns mit, dass wir uns keine Sorgen machen sollten. Die Wunde würde umgehend versorgt und wir könnten Jürgen bald besuchen.
Eine Fünfmarkstückgroße Narbe hat Jürgen von dem Angriff des Bullen zurückbehalten und wir waren froh, dass nichts Schlimmeres passiert ist.

Drei Tage musste er im Krankenhaus bleiben und nach seiner Entlassung lief er noch eine Weile an Krücken.

Heute lacht er über das damals schreckliche Ereignis und erzählt seinen Kindern manchmal, dass er in seiner Jugend ein berühmter Torero gewesen sei.

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 09.07.2020. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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