Ingrid Baumgart-Fütterer

Ein ganz normaler Unterrichtstag?

Bekanntlich hat – vom Volksmund bekundet und von Lehrern bedauert – nur Morgenstund Gold im Mund. Denn zu vorgerückter Stunde lässt die „Wachsamkeit“ der Schüler zu wünschen übrig, und die Worte des Lehrers verlieren im Laufe des Tages, ungeachtet jeglicher Eloquenz, an Gewicht. Selbst ausgeklügelte pädagogische Highlights verlieren an Brillanz, sobald sie von der Müdigkeit der Schüler überschattet werden. Was sollte sich der Lehrer einfallen lassen, um die erlahmende Motivation seiner Schützlinge in Schwung zu bringen? Abwechslung heißt das Zauberwort. Demzufolge müsste ein breites Methodenrepertoire das Abrakadabra eines jeden Lehrers bedeuten, der seine Schüler mit Worten zu fesseln vermag.

Doch weit gefehlt ! Zeigt er im abgedunkelten Raum Dias, wird die Zirbeldrüse, unser „drittes Auge“ durch das schummrige Licht zur vermehrten Melatoninproduktion angeregt, woraufhin sich die Großhirnrinde aufs Schlummern einstellt.

Vielleicht sind praktische Übungen angebrachter, um die Schüler aus ihrer Lethargie zu reißen. Denn wer derart in Bewegung gerät, tut sich mit gleichzeitigem Dösen unweit schwerer als im Ruhezustand. Indem der Lehrer den Schülern Beine macht, kommt er seinem gesteckten Ziel zumindest einen Schritt näher, und der schief hängende Schulsegen ist vorerst wieder zurechtgerückt.

 

Prediger in der Wüste

 

Schüler, die sich nicht angesprochen fühlen, sind kaum in der Lage, die nötige Aufmerksamkeit zu zollen. Gähnend kämpfen sie gegen das Einschlafen an oder versuchen durch ein flottes Mundwerk ihre geistige Regsamkeit zu beweisen. Ein Unruheherd kann sich zu einem Flächenbrand ausbreiten, der die Worte des Lehrers verschlingt, noch bevor er an die Vernunft der Schüler appellieren könnte. In dem Fall fühlt er sich nicht selten wie ein Prediger in der Wüste.

Allmählich beginnt er, an seinen pädagogischen Fähigkeiten zu zweifeln. Seine grauen Zellen begeben sich auf Fehlersuche. Das Entgleisen der Unterrichtssituation wird von ihm einer gründlichen Analyse unterzogen. Mit erhöhter Phonzahl versucht er sich endlich Gehör zu verschaffen. Doch gehen die hochfrequenten Schallwellen im anschwellenden Rhabarbergeraune unter.

 

Glanz in der Stunde

 

Jetzt zeigt sich, wer beim verbalen Tauziehen den längeren Atem hat. Der Lehrer ringt um Worte in dem Versuch, die Schüler davon zu überzeugen, dass seine Beiträge interessanter sind, als jene des Banknachbarn oder die literarischen Höhepunkte im Science - Fiction – Roman, der anstelle des Lehrbuches aufgeschlagen vor dem Schüler liegt.

Um in diesem „Theater“ wenigstens halbwegs von den Schülern in seiner Rolle wahrgenommen zu werden, zieht der Lehrer eine Schau ab, die einen professionellen Entertainer vor Neid erblassen lassen würde. Ist für ihn die Schlacht noch zu gewinnen? Viel Zeit bleibt nicht mehr. Gottlob, Pause! Kampfpause! Kräfte sammeln und das Überdenken durchschlagender Handlungs- und Konfliktlösungsstrategien. Wer wird sich diesmal geschlagen geben? Wird der Lehrer einen, wenn auch hart erkämpften Sieg davontragen, der sein Selbstwertgefühl so aufpoliert, dass sich dessen Glanz bis in die nächste Unterrichtsstunde hinüber retten lässt? Oder ist es nur eine Frage der Zeit, bis die Macht seiner Worte gebrochen ist und die letzten Illusionen von lernenden Schülern wie eine Seifenblase zerplatzen?

Auf zur Schlussrunde. „Wo anfangen, wenn man mit seiner Weisheit am Ende ist?“ Und es kommt, wie es kommen muss. Wie befürchtet, geben die Schüler nach der Pause ihren anderweitig gerichteten Interessen unverhohlener Ausdruck als zuvor.

 

Man kann regelrecht verfolgen, wie sich die Aufmerksamkeit davonstiehlt. Der eine steckt seine Nase in ein weiteres Kapitel des Science – Fiction – Romans. Ein anderer blendet sich aus, ist alles andere als geistig helle. Einige träumen mit offenen Augen vor sich hin. Andere, die schlafend in sich zusammensacken, drohen von ihren Stühlen zu rutschen. Der eine schreibt einen Liebesbrief. Ein anderer bohrt sich gedankenverloren in der Nase. Einige daddeln auf ihrem I-Phone herum. Manche arbeiten mental ihre letzten Freizeiterlebnisse auf. Eine Dreiergruppe diskutiert angeregt über das  Fußball - Pokalendspiel am kommenden Wochenende.

 

Der rote Faden reißt.

 

Andere haben die erstaunliche Fähigkeit entwickelt, mit offenen Augen zu schlafen und dabei den Eindruck zu erwecken, als wären sie „ganz Ohr“. Schon lange, bevor  sein Unterricht endet, ist der Lehrer mit seinem Latein am Ende. Die sinkende Motivation der Schüler bringt ihn auf die Palme. Sein Adrenalinspiegel übersteigt den medizinisch vertretbaren Höchstwert. Sein Organismus ist auf Flucht eingestellt. Doch die Pflichten stecken ihn in eine Zwangsjacke, die jeglichen Fluchtversuch vereitelt. Mit den Worten: „Was mich nicht umbringt, macht mich stark“, muntert er sich in seiner Not auf. Und dies sei ihm auch dringend geraten. Denn ansonsten würde sich die Tortur beim Anblick der Schüler steigern. Ihre Gesichter sind wie ein offenes Buch, dem ganze Kapitel über gähnende Langeweile, Verdruss, Desinteresse gewidmet sind. Ihre trägen Gedanken halten mit dem vorgegebenen Lerntempo nicht Schritt. Der rote Faden reißt zum wiederholten Male.

Stimmt das Ganze schließlich hinten und vorne nicht, so dass sich der Lehrer mit seinem Unterrichtsstoff selbst bei blühender Fantasie nicht in den Ergebnissen der Klassenarbeiten wiederfinden kann, wird das pädagogische Ungemach einzig und allein ihm angelastet. Wird er denn nicht dafür bezahlt, dass er den Schülern das Denken abnimmt und für sie lernt? Demzufolge kann es doch nicht angehen, dass sie nach dem Unterricht weniger wissen als zuvor. Ein Lehrer, der den Schülern nichts beibringt, ist ein Hohlkopf, der möglicherweise selber nicht versteht, was er anderen verständlich machen will. Und wenn er Unsinn verzapft, ist es mehr als verständlich, dass er damit auf das Unverständnis seiner Schüler stößt.

 

Klassenarbeit als Schlachtfeld

 

Doch wenn er daraufhin für deren Unverständnis weiterhin kein Verständnis aufbringt, lässt er bei ihnen erst recht den eigenen Unverstand erkennen. Wenn der Schüler aber mehr Verstand besitzt als sein unbelehrbarer Lehrer, dann ist Unterricht unnötig wie ein Kropf. Damit bestätigt sich, was Schüler schon immer wussten, Lehrer jedoch nie wahrhaben wollten. Folglich muss der Schüler zu Hause selber lernen und praktisch die geistige Arbeit leisten, die der denkfaule Lehrer ihm abnehmen sollte. Und sollte dieser Schüler bei Prüfungen besonders gut abschneiden, bildet sich sein Lehrer möglicherweise ein, dies sei seiner pädagogischen Fürsorge zu verdanken. Manch ein Lehrer scheint nicht nur sich selbst zu beweihräuchern, sondern auch unter retrograder Amnesie zu leiden. Dieses Leiden zeigt sich sporadisch in laut vernehmbaren Ausrufen während der Rotstiftkorrektur von Klassenarbeiten, die hernach Schlachtfeldern ähneln.

 

Mit Blindheit geschlagen

 

„Solch ein Unsinn ! Wie kommt der Schüler bloß darauf? Das habe ich nie und nimmer so gesagt! Da steckt keinerlei Logik dahinter!“ Und weil sich Lehrer hierbei oft die Haare raufen, haben nicht wenige unter ihnen eine Stirnglatze, die

sie euphemistisch als Denkerstirn bezeichnen. Aber nicht nur an der Denkerstirn erkennt man den Pauker. Auch am Kopfschütteln, am belehrenden Zeigefinger und vor allem daran, dass er sich nie an die eigene Nase fasst, statt dessen  diese allzu gern nicht – wie zu erwarten – in Bücher, sondern in fremde Angelegenheiten steckt.

Beim Anblick seiner Schüler schießen dem Lehrer immer mehr Fragen durch den Kopf. Was bedeutet das eine oder andere Kopfschütteln? Was wollen die Blicke, die ihn mustern, ihm verdeutlichen? Was will der Zeigefinger auf der Schülerstirn mit seinen Drehbewegungen andeuten?

Will er mit seinem kreisenden Finger seine Ansichten über den Geisteszustand des Lehrers zu verstehen geben? In dieser angespannten Situation machen dem Lehrer nicht nur die Fragen, die er sich selbst stellt, zu schaffen, sondern auch alle möglichen und unmöglichen Fragen, mit denen die Schüler ihn löchern. Wehe ihm, sollte er die richtige Antwort nicht parat haben oder sollte sich seine Antwort im Nachhinein als unrichtig herausstellen.

Lehrer sind angesichts der Frustrationen und des Elends ganzer Schülergenerationen wie mit Blindheit geschlagen. Das rührt daher, dass sie selber keinen Blick habe für das, was der Schüler kann, sondern meist nur sehen, was er nicht kann. Schließlich stellt das Nichtkönnen der Schüler die Existenzgrundlage des Lehrers dar. Lauter supergescheite Schüler wären ihm demzufolge sogar unliebsam. Der Lehrer ist nicht ganz unschuldig an der mangelnden Unterrichtsbeteiligung der Schüler. Sein Verhalten veranlasst geradewegs unzählige durch Noten genervte und gestresste Schüler dazu, stundenlang über Strategien nachzudenken, deren Anwendung dem Lehrer doch noch die Augen öffnen könnte für das Leid all derer, denen er schlechte Beurteilungen schreibt.

Schülergebrüll holt den nachdenklichen Lehrer in die Realität zurück. Der Wunsch nach einer längeren Pause wurde inzwischen unüberhörbar. Doch kann der an den Zeitplan gebundene Lehrer derartige Anliegen nicht jederzeit erfüllen. Seine abschlägige Antwort findet nicht gerade Beifall.

 

Kaugummiblase platzt

 

Ein Schüler lässt eine Kaugummiblase nach der anderen zerplatzen. Nach der Vorstellung klebt er den Kaugummi zu den sechs anderen unter die Bank. Aus der hinteren Reihe dringt verhaltenes Lachen hervor, das sich zu frechem Kichern steigert. Zwischen zusammengesteckten Köpfen wird unablässig getuschelt. Papierflugzeuge segeln durch den Klassenraum. Sie versinnbildlichen die geistigen Höhenflüge ihres Lehrers, denen sie nicht zu folgen vermögen. Der „Pauker“ jedoch missdeutet diesen Wink mit dem Zaunpfahl.

Das Abschweifen der Gedanken zwecks wechselseitigen Eintauchens in Vergangenheit und Zukunft dient dem Schüler als Selbstschutz. Nur so vermag er sich vor der Wortgewalt des Lehrers schadlos zu halten. Wer sich von ihm zu viel eintrichtern lässt, würde letztlich einem zu stark gefüllten Krug gleichen, der nicht anders kann, als überzulaufen. Das wäre doch die reinste Verschwendung angesichts der (geistigen) Armut dieser Welt! Nach Ansicht der Schüler sollte der Lehrer erst mal lernen, diesbezüglich maßzuhalten.

 

„Schwamm drüber“

 

Der Lehrer kramt in seinen Kenntnissen über Verhaltenspsychologie und gruppendynamische Prozesse. Was steht geschrieben in den Überlebensberaterbüchern für schülergestresste Lehrer?

Bloß nicht alles auf sich beziehen. Dies täten nur Leute mit Minderwertigkeitskomplexen. Nur nichts hineininterpretieren. Alle Geschehnisse einer objektiven Betrachtung unterziehen. Positiv denken! Eine positive Betrachtungsweise wird nicht nur ausgeuferte Unterrichtsgeschehen in die gewünschte Richtung lenken. Doch bald kommt seinen Überlegungen die gewissenpeinigende Frage in die Quere, ob er seine Schüler aus diversen Gründen

nicht doch überfordere und demzufolge lernunfähig werden ließe. Die Angst vor dem Versagen treibt ihm den Schweiß auf seine Denkerstirn. Steht nicht in der Bibel geschrieben: „Im Schweiße Deines Angesichts sollst Du Dein Brot verdienen?“ „Lieber Gott, steh mir bei“ fleht seine innere Stimme und schickt ein Stoßgebet zum Himmel.

Derweil hämmert sein Herz. Kurzatmigkeit lässt ihn, zur Freude seiner Schüler, leise treten. Denn jetzt haben sie das Sagen und anstandslos schluckt er die Direktiven seiner Schüler, obwohl diese ihm derart auf den Magen schlagen, dass es ihm den Appetit verleidet. Wie konnte er sich nur so breitschlagen lassen?

Warum müssen ausgerechnet die altgedienten Lehrer dermaßen verstaubte Ansichten haben? Waren sie nicht selber einmal jung? Aber anscheinend ist das so lange her, dass sie sich daran nicht erinnern können, sagen sich die Schüler. Dabei wird doch behauptet, dass das Langzeitgedächtnis im fortgeschrittenen Alter besser funktioniere als das Kurzzeitgedächtnis Zum Glück wird es einem alten Lehrer wegen seines vergesslichen Kurzzeitgedächtnisses leichter fallen, Schülern ihr unterrichtsfeindliches Störverhalten im Hier und Jetzt nachzusehen. Und am Ende eines jeden Schultages wird er sich, noch vor der Tafel stehend, leichten Herzens sagen können: „Schwamm drüber. „ Welch ein Glück, dass auch Lehrer älter werden !

 

 

 

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