Christiane Mielck-Retzdorff

Verlassen

 

 

Das 14jährige Mädchen kam zu sich. Ihr Augen blinzelten im grellen Sonnenlicht. Sie spürte stechenden Durst. Langsam richtete sie sich auf, lehnte sich an die Steinmauer hinter ihr. Melina brauchte einige Zeit, um ihren Schwindel zu überwinden und ihre Umgebung klar zu erkennen. Sie saß auf den Pflastersteinen eines Bürgersteigs neben dem ein schmale Straße verlief. Sie schaute nach rechts und links, erspähte aber weder geparkte noch fahrende Autos. Es herrschte eine unwirkliche Stille.

Sie wusste nicht, wo sie war. Ihre Umgebung unterschied sich deutlich von der ihrer Heimat Deutschland. Einige Palmen überragten die Mauern. Solche Bäume kannte Melina nur aus dem Urlaub im Süden mit ihren Eltern. Keine Menschenseele kreuzte ihren Blick.

Das Mädchen versuchte sich zu erinnern. Es war Sommer und in diesem Jahr verbrachte sie die Ferien mit der Familie an der Nordsee. Auch wenn das Wetter dort als wechselhaft bekannt war, hatte Melina dem freudig zugestimmt, weil sie ihre beste Freundin treffen konnte, die dort jedes Jahr mit ihren Eltern Urlaub machte. Leise flüsterte sie deren Namen, Nina, ohne eine Hoffnung auf Antwort.

Es war doch schon Abend gewesen. Die gleichaltrigen Mädchen besuchten gemeinsam eine ausgelassene Strandfete, bei der auch Alkohol floss. Aber bei dessen Genuss hielt sich Melina stets zurück. Da war doch dieser attraktive Mann gewesen, der ihre Gesellschaft suchte. Seinen Namen hatte sie vergessen. Höflich versorgte er sie mit Getränken. Schließlich küsste er Melina und beide schlichen zu einem Ort, wo sie vor den Blicken der anderen Gäste geschützt waren. Warum war sie dem Drängen des Fremden so willenlos gefolgt? Ab diesem Zeitpunkt verlor sie jede Erinnerung.

Das Mädchen quälte die große Mittagshitze, die Sonne, die ihr Gehirn beinahe zum Sieden brachte. An der Mauer abgestützt erhob sie sich. Um ihren zarten Körper schlackerte ein fremdes T-Shirt, dass der Größe nach einem Mann gehörte. Sonst trug sie nur einen Slip. Ihre Füße waren nackt. Als sie stand, brannte das Pflaster unter ihren Sohlen. Angestrengt sah sie sich nach Schatten um. Die Sonne stand senkrecht am Himmel. Entlang der beiden Bürgersteige rechts und links verliefen hohe, weiß getünchte Steinmauern, die die dahinter liegenden Häuser schützten. Aber nirgendwo entdeckte das Mädchen einen Ort, an dem sie den Sonnenstrahlen entkommen konnte. Ihr brennender Durst übernahm die Herrschaft über ihre Gedanken. Sie musste dringend etwas trinken.

Taumelnd machte sie sich auf den Weg zu einem der gusseisernen Tore, die den Einlass in eines der Häuser versprachen. Erleichtert entdeckte sie eine Klingel, auf die sie drückte. Kein Lebenszeichen war hinter den Gitterstäben zu erkennen. Also drückte sie erneut und energischer, aber ohne Erfolg. Melina wankte zum nächsten Tor, klingelte dort wieder, doch niemand zeigte sich. Weitere Versuche ließen sie vermuten, dass die Gegend mittags vollkommen verlassen war. Die Menschen, die manchmal verstohlen die Vorhänge zur Seite schoben, zum Gartentor guckten und dort das unglückliche Mädchen sahen, bemerkte Melina nicht. Das Unverständnis für ihre Situation paarte sich mit dem Verlagen nach einem Getränk zu Verzweiflung.

Melina entschloss sich, um Hilfe zu rufen, doch ihre Stimme gab nur ein dünnes Krächzen von sich. Ihr Mund war beinahe ausgetrocknet. Auch wenn sie sich sehr schwach fühlte, zwang sie sich, weiter zu gehen. Irgendwo musste sie doch einen Menschen finden. In der Ferne hörte sie einige Polizeisirenen, was sie glücklich machte, denn wo Polizei war, lebten auch Menschen.

Schließlich gelangte sie zu einem Haus, das auf einem uneingezäunten, verwilderten Grundstück stand. Einladend sah das dunkle Gemäuer nicht aus, aber ihr Überlebenswille besiegte jede Angst. Als am Eingang keine Klingel fand, hämmerte sie entschlossen gegen die hölzerne Haustür. Schließlich erleichtert sie das Geräusch von sich nähernden Schritten und es wurde ihr geöffnet.

Der Mann, der vor ihr stand, machte keinen vertrauenserweckenden Eindruck. Seine ungewaschenen, langen Haare hingen strähnig vom Kopf. Ein wildwuchernder Bart verdeckte Teile seines Gesichts. Die Kleidung war dreckig und verschlissen. Kein Lächeln zierte seine Miene. Kalte Augen starrten auf das hübsche, blonde Mädchen, als sei sie eine Erscheinung aus einer anderen Welt. Doch Melina lächelte, überglücklich jemanden gefunden zu haben, der ihr helfen konnte.

Da sie nicht wusste, ob der Hausherr Deutsch verstand, bettelte sie in den drei ihr bekannten Sprachen um Wasser. Dabei konnte sie nur noch flüstern. Schließlich deutete ihr der Mann, ins Haus zu kommen. Melina trat ein.

 

 

 

 

 

 

 

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Trug und Wahrhaftigkeit: Eine Liebesgeschichte von Christiane Mielck-Retzdorff



Zum wiederholten Mal muss sich die Gymnasiastin Lisa-Marie in einer neuen Schule zurechtfinden. Dabei fällt sie allein durch ihre bescheidene Kleidung und Zurückhaltung auf. Schon bei der ersten Begegnung fühlt sie sich zu ihrem jungen, attraktiven Lehrer, Hendrik von Auental, der einem alten Adelsgeschlecht entstammt, hingezogen. Aber das geht nicht ihr allein so.
Die junge Frau muss gegen Ablehnung und Misstrauen kämpfen. Doch auch der Lehrer sieht sich plötzlich einer bösartigen Anschuldigung ausgesetzt. Trotzdem kommt es zwischen beiden zu einer zarten Annäherung. Dann treibt ein Schicksalsschlag den Mann zurück auf das elterliche Gut, wo ihn nicht nur neue Aufgaben erwarten sondern auch Familientraditionen, die ihn in Ketten legen.

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