Der Ring
(Eine Geschichte nach - zum Teil - tatsächlichen Begebenheiten)
Die Radiomusik hob sie in Wolken aus Erinnerungen...
Sie war die Schönste in der Kirche. In ihrem bodenlangen Brautkleid
hing glitzernder Goldstaub und in ihren Augen schimmerten Tränen
puren Glücks. Börge streichelte ihren Arm, während sie zum Traual-
tar schritten. Die Orgelspielerin im Hintergrund lächelte aufmunternd
herüber. Der Pfarrer lächelte - alle lächelten. Ihr war, als würde die
Sonne, draußen, geradewegs hereinfluten und alle Festkleider der
Hochzeitsgäste in unzählige, zerfließende und glitzernde Bäche ver-
wandeln.
Auch während der viertelstündigen Ansprache des Pfarrers blieb sein
Lächeln erhalten. Börge streifte ihr den Ring über - ein Erbstück ihrer
Mutter: silber, mit blauem Stein. Er küsste sie leidenschaftlicher, als
erlaubt und dann gingen sie - nein, sie schwebten durch einen Korso
von lachenden Leuten, zum Ausgang - in strahlendes Tageslicht.
Die sanfte Musk bricht ab.
Svenja macht einen schwachen Versuch, noch einmal in ihre Erinne-
rungen vorzudringen.
Es misslingt. Die Wirklichkeit ist stärker.
Sie liegt verkrümmt und wimmernd auf dem Küchenboden. Ihr rech-
tes Ohr ist taub, als hätte genau dort eine Granate eingeschlagen. Sie
wälzt sich herum. Ein Stuhl...Der Küchenstuhl...
Mit letzter Kraft zieht sie sich daran hoch. Der betäubte Leib scheint
nicht mehr ihr zu gehören. In Zeitlupe kriecht sie auf den Stuhl und rich-
tet sich auf. Wie eine ferngesteuerte Puppe, deren Batterien auslaufen,
greift sie nach dem blutverschmierten Messer, vor sich, auf dem Tisch.
Schneidet sich damit tief in die Hand.
Sie tastet nach der halbgeschälten Kartoffel auf der Spüle. Die Knolle
entgleitet ihr und fällt ins Topfwasser. Das Wasser färbt sich leicht rötlich.
Bis eben war es klar und rein. Sie sieht zu, wie sich die rote Schlange aus
Blut mehr und mehr im Kochkessel breit macht.
Die verletzte Hand tut ihr nicht weh. Svenja wundert sich auch nicht wei-
ter darüber. Sie hat schon einiges mehr ausgehalten.
Das blutbefleckte Messer fällt mit einem Blop ins Wasser. Die blutende
Hand mit dem Trauring am Mittelfinger taucht ihm nach.
Sie zieht das Messer wieder hervor und ritzt die Spitze nun dicht neben
der Pulsader ein. Nur leicht und nicht tief. Sie spürt weder Angst, noch
irgendein unbestimmtes Gefühl von Schuld. Nichts fühlt sie. Garnichts.
In ihrem Innern kippt ein Zögern nach dem anderen um. Erloschene
Seelen spüren keinen Schmerz mehr. Es ist nur noch kalt dort drinnen.
Sie hebt die tropfende Messerklinge an die Augen. Dann erkennt sie da-
rin ihr Gesicht. Es ist dreißig Jahre alt, dieses Gesicht, und es hat schon
dunkle Tränensäcke. Der Mund ist entstellt und verkniffen. Sie öffnet ihn
etwas. Vorne fehlen vier Zähne. Ausgeschlagen.
lhr Lächeln wirkt für Sekunden wie das einer bösen Hexe. Aber sie ist
nicht böse - nur kaputt. Ihr strähniges Haar klebt wie an den Strand gewor-
fener Schlick am kahl gewordenen Kopf. Voll, lang und wellig fiel es ihr
einst bis über die Schultern, das Haar... Jetzt ist es dünn, klebrig und nur
noch an wenigen Stellen halbwegs üppig gewachsen. Ausgerissen...
Darunter, die Augen: sie starren sie wie schwarze, leere Höhlen aus der
Messerklinge an. Über den Glanz, der mal in ihnen lag, machte sich seit
langem wuchernde Traurigkeit her. Die Nase ist geschwollen, die blei-
chen Wangen auch, und das Kinn: schief, gebrochen, zerschlagen.
Am liebsten würde sie das blitzende Messer ins Radio pfeffern, um das
schmalzige Gedudel abzuwürgen.
Aber es dudelt immer weiter.
Svenja war immer die Besonnene, die Gelassene, die mit fast störrischer
Ruhe jede Anfeindung über sich ergehen ließ. Es lohnte sich nicht mehr,
jetzt diese Wesensart zu ändern. Sie hat gelernt, sich zu fügen - sich zu
beugen. Das Leben nach jener traumhaften Hochzeit vor fünf Jahren: er-
bärmlich. Sie fügte sich trotzdem einer Gewalt, die von da an in Strömen
auf sie niederprasselte. Und was hat sie getan, um dieser rohen Gewalt zu
entkommen?
Nichts tat sie. Garnichts. Bis heute...
Sie legt das Messer auf den Tisch zurück. Blickt hilflos umher. In der Kü-
che ist es still. Grauenhaft still.
Im Radio gibt es Nachrichten. Irgendwo ist wieder mal Krieg. Ein unbe-
quemer Politiker ist gestorben, und ein beliebter Schauspieler auch. Der
Papst verteufelt die Pille. Die Arbeitslosenzahl hat einen Rekordstand.
Das Wetter wird besser, weil das Hoch Elfriede die Herrschaft von Tief
Paul übernimmt....Alles ist weit, weit weg.
Wo bleibt die Sonne...?
Sie hebt das verletzte Kinn an, sieht zum Fenster raus. Das Licht blendet
sie. Die ersten Sonnenstrahlen kriechen an ihr hoch. Der Stuhl knarrt.
Sie tritt näher ans Fenster.
Ein Mann kommt die Straße entlang. Er steuert direkt auf das Haus zu.
Ihm folgen zwei Männer in Uniform. Polizisten.
Es klingelt Sturm.
Svenja schlurft langsam, wie eine Greisin, zur Wohnungstür.
> Was wollen Sie von mir?, < hört sie die eigene, brüchige Stimme über
die Sprechanlage. > Lassen Sie mich allein. <
Eine Pause tritt ein.
> Öffnen Sie, Frau Freese!, < antwortet die andere Stimme von unten.
Svenja drückt den Summer.
Schritte poltern die Treppen rauf. Dritter Stock. Es klingelt wieder - ein-
mal, zweimal.
Svenja öffnet nicht. Es bleibt still in ihrer Wohnung.
Die Männerstimme wirkt nervös - wird laut.
> Öffnen Sie! Niemand will ihnen Schlechtes. Wir sind von der Polizei. <
Und dann ruft die Stimme: > Wir haben nur ein paar Fragen. Jemand aus
der Nachbarschaft rief nach uns. Das kann ja auch ein Missverständnis
sein...<
Svenja presst ihr Ohr von innen an die Wohnungstür.
> Warum...? Was wollen Sie denn mit mir besprechen? <
Sie hält die Luft an, weil sie die Antwort schon kennt.
Der Mann auf der anderen Türseite stöhnt nunmehr genervt. Dann aber
siegt sein unerschütterlícher lnstinkt für knifflige Situationen, dieser Art.
> Ein Nachbar behauptet, Hilfeschreie aus ihrer Wohnung gehört zu ha-
ben. Die Schreie eines Mannes und die einer Frau...Irren ist ja mensch-
lich...Wir können den Sachverhalt in Ruhe klären, aber dazu sollten Sie
uns schon auch Gelegenheit geben, und öffnen. <
Wieder eine Pause.
Dann geht die Tür auf.
Svenja steht im Nachthemd da, das ihren geschundenen Körper nur spär-
lich bedeckt.
Der Mann atmet tief durch. Nackter Schrecken steht ihm ins Gesicht ge-
schrieben. Svenja taumelt vor und zurück. Dann stürzt sie erschöpft zu
Boden, ehe der Mann seine helfenden Arme ausstrecken kann.
Der bullige Polizist beugt sich hin - packt zu. Er hebt sie behutsam auf
und trägt sie ins Schlafzimmer, nach nebenan, um sie dort ebenso behut-
sam auf das Bett zu legen.
Er sieht lange auf die bewusstlose Frau herunter. Ihr Körper ist von un-
zähligen Brandnarben und von blaugrünen Flecken übersät. Außerdem
blutet ihre eine Hand stark - gefährlich stark, seiner Ansicht nach.
Holm, der Riesenkerl von einem Polizisten, hat schon viel Grässliches in
seiner Laufbahn gesehn, aber das Bild der geschundenen Frau, da auf dem
Bett, wird ihn nie wieder loslassen.
Tränen schießen ihm plötzlich in die Augen. Lange schaut er die Bewusst-
lose an - bis der Tränenschleier jeden Blick versperrt. Er wischt sich mit
dem Handrücken die Nässe vom Gesicht, geht zurück, nach nebenan.
Da liegt ein Mann im Kücheneck: reglos, erstochen. Der Anblick des Toten
erschüttert Holm wenig, muß er sich eingestehn. Die Frau im Nebenzimmer
´fasst ihn´ viel härter an. Sie hat sicher mehr aushalten müssen - viel mehr -
wahrscheinlich über Jahre, als der tote Mann dort, im Eck. Der erstochene
Typ am Boden hat es offenbar auch nicht anders verdient, wenn man nur
eins und eins zusammenzählen kann. Nein, was Besseres hat der Kerl wahr-
lich nicht verdient. Ziemlich klarer Fall von Notwehr, sinniert Holm. Nach
Tötung mit Vorsatz sieht das hier jedenfalls nicht aus.
Holm ruft per Handy einen Krankenwagen - und erst Minuten später den
schwarzen Wagen, in dem Leichen weggeschafft werden.
Zwei Jahre später:
Sie sehen sich gelegentlich. Svenja fühlt sich in der offenen Abteilung der
Psychiatrie nicht unwohl. Ihr früheres Leben ist in der Erinnerung verwischt.
Sie findet sich draußen kaum noch zurecht. Also bleibt sie hier. Börge, der
Mann, der sie über Jahre schlug und quälte, ist längst begraben. Doch den
Trauring - den Ring ihrer Mutter – trug sie noch lange. Bis zu jenem Tag,
als Holm, der gutmütige Polizist, Svenja abholte und sie für zwei, drei Stun-
den im Auto mit rausnahm.
Es war eine schöne Fahrt über flaches Land, vorbei an blühenden Kastanien-
alleen, die zu Gütern und den dazugehörigen Herrenhäusern führten.
Im Autoradio versprach der Wetterbericht ein Hoch für die kommenden Tage.
Svenja hielt den Atem an. Wann hatte sie zuletzt dieses Indigoblau des Him-
mels wahrgenommen? Sie bat Holm anzuhalten, um ein paar Schritte zu ge-
hen.
Links und rechts stand der Raps in sattem Gelb, von der Frühlingssonne
warm bestrahlt. Er nahm ihre Hand, drückte sie sanft und spürte, wie sie sie
ruckartig zurückzog. Berührungen ließen sie erschauern, seit ihr Mann brutal
alle Wärme aus ihrem Körper geschlagen hat. Holm gab ihre Hand frei, ver-
suchte, sie am Arm zu streicheln, doch auch hier erschrak sie. Sie liefen nah
beieinander zum nahe gelegenen See.
Dort setzten sie sich ins Gras und sinnierten vor sich hin; beobachteten, wie
sich die Sonne im See golden spiegelte. Holm wandte sich ihr zu und erblickte
in ihren Augen einen bernsteinfarbenen Glanz, wie er ihn noch nie zuvor gese-
hen hatte.
Svenja fasste zaghaft nach seiner Hand und bat ihn um Verzeihung: „Ich weiß,
ich bin hart geworden durch diese Ehe. Als du mich damals am Sterben gehin-
dert hast, habe ich dich dafür gehasst. Jetzt bin ich froh, dass ich mit dir diesen
wunderschönen Augenblick erleben darf. Danke....Holm ist nicht dein richtiger
Vorname, oder?“
„Ole. Holmsund kommt hintendran. So nennen mich die Leute im Revier...ein-
fach Holm.“
Er legte langsam den Arm um ihre Schulter und streichelte sie sanft. Er mochte
sie. Eigentlich damals schon. Hatte was mit seiner Vergangenheit zu tun. Sehr
früh verließ er sein Elternhaus, um der täglichen Gewalt zu entfliehen. Er lebte
monatelang auf der Strasse, jobbte gelegentlich, um sich über Wasser zu halten.
Wenn´s nicht reichte, klaute er sich das, was ihm fehlte. Er war clever genug,
sich nicht von der Polente erwischen zu lassen. Mit seiner ersten Liebe fand er
in´s Leben zurück und auch zu seiner Berufung. Polizist wollte er werden. Ein
ordentliches Leben führen. Hat er nie bereut. Manchmal hat er ein Auge zuge-
drückt und einigen ´Gestrauchelten´ den richtigen Weg gewiesen. Ein ´harter
Bulle´ war er gewiss nicht.
Svenja entkleidete sich nach und nach, um ein Bad im kühlen See zu nehmen.
Den Ring ihrer Mutter, der ihr ein kostbares Andenken war, legte sie zu ihren
Utensilien. Holm sah ihr wie erstarrt zu. Die Narben am Körper waren verheilt -
die in der Seele sicher nicht. Als sie sich entfernte, fiel ihm auf, wie leicht ge-
bückt ihre Haltung war. Fast ängstlich.
“Svenja, vielleicht solltest du den Ring, der dich immer wieder an deine un-
glückliche Vergangenheit erinnern wird, besser in eine Schatulle schließen.
So bewahrst du das Andenken, ohne die Erinnerungen mit in die Gegenwart
zu nehmen. Ist nur so ein Gedanke...“
Lachend winkte sie ihn zu sich heran. Sie schwammen gemütlich im glitzern-
den Wasser.
Er sah sie plötzlich mit anderen Augen: Eine Frau, die sich im Wandel befand.
Und noch viel mehr: Eine schöne, begehrenswerte Frau.
Ihre nassen Körper trockneten schnell in der warmen Sonne. Als sie sich anklei-
den wollte, zog er sie an sich und küsste sie zärtlich. Scheu erwiderte sie seinen
Kuss. Plötzlich durchströmte sie ein Glücksgefühl, das ihr seit langem fremd
war. „Ole, ich bin dir unendlich dankbar“.
Während der Heimfahrt hatte sie das Gefühl, sich in einer schwankenden Schau-
kel zu bewegen. Ohne festen Boden. Festen Boden – hatte sie den überhaupt?
Da - plötzlich die scharfe Linkskurve...Ole - von ihrem stillen Lächeln kurz ab-
gelenkt - übersteuerte und der Wagen flog dicht an einem knorrigen Alleebaum
vorbei, die kleine Böschung hinab und blieb seitwärts, mit zischenden Rädern
und kreischendem Motor in einem Rübenacker liegen. Scherben splitterten.
Keine Schreie. Nur jäh eintretende Stille und Dunkelheit überall.
Dann endlich wieder Licht..Und eine schwache Stimme: > Svenja? <
> Ole?...Gottseidank! <
Erst viel später nahm sie den stechenden Schmerz in ihrer Hand bewusst wahr.
Der Ring ihrer Mutter war in der Mitte auseinandergesprungen und grub die spit-
zen Silberkanten in ihren Finger. Beunruhigt sah sie Ole an. Zitternd nahm sie das
auseinander gebrochene Schmuckstück und packte es in ihre Jackentasche. Ole
hatte ganz recht: sie wird ihn nicht mehr tragen.
2.
Sie sitzt mit bandagiertem Bein auf der Terrasse der Klinik und wartet auf Ole.
Heute wird er sie besuchen: mit bandagiertem Arm und Kopfverband. Jedes-
mal bringt er ihr Blumen mit. Er weiß, wie sehr sie sich darüber freut. Manch-
mal verwechselt sie ihn noch mit jemand anderem, der schon lange tot ist. Wa-
rum, weiß sie nicht. Er ist doch ihr Mann. Der andere Mann? Wenn sie manch-
mal, in einsamen Stunden an ihn denkt, sieht sie einen glitzernden See - ihren
See - und den zerbrochenen Ring. Dann spürt sie Schläge und blutende Küsse.
Sie steigt dann nackt ins Wasser und schwimmt der Sonne entgegen.
Erzählung: (c) Ingrid Bezold & Ralph Bruse
Foto: Ingrid Bezold
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Der Beitrag wurde von Ralph Bruse auf e-Stories.de eingesendet.
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 26.07.2020. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).
Erlebtes Leben: Emotionen – Impressionen
von Fritz Rubin
Wie herbstlich wird die Dämmerung,
wie gläsern ihrer Lüfte Kühle,
die Schatten liegen auf dem ›Grün‹
und rufen leis’ »Auf Wiederseh’n!«
Der Sommer sagt: »Adieu, macht’s gut,
ich komme wieder nächstes Jahr!«
Entflammt noch einmal mit aller Macht
den ganzen Horizont mit seinen bunten Farben!
Wehmut tief in meinem Herzen
und Hoffnung zugleich,
glückselig
das
Erinnern
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