Claudia Savelsberg

H-A-S-S

Erika hatte viel Pech in ihrem Leben gehabt und musste viele Schicksalsschläge einstecken. Sie haderte mit ihrem Dasein und wurde im Laufe der Jahre hart und verbittert. Sie entwickelte einen unermesslichen Hass auf ihre Umwelt, auf alle Menschen. In großen Lettern schrieb Erika das Wort auf einen Notizblock - „H-A-S-S.“ Minutenlang starrte sie darauf, schließlich fand sie ihre eigene Definition für den Begriff: „Habe-Alle-Saumäßig-Satt“. H-A-S-S. Dieses Gefühl beherrschte ihre Gedanken, Erika mutierte zu einem verbiesterten Menschen.

Manchmal saß sie abends am Wohnzimmertisch und schrieb im milden Licht einer Leselampe mit feinsäuberlicher Schrift die Namen derjenigen, denen ihr Hass galt, in eine Kladde. Sie notierte die Namen, Adressen, Telefonnummern und Geburtstage. Pedantisch und korrekt. Gleichzeitig gespenstisch und wie von Wahn getrieben.

Ganz oben auf der Liste standen ihr geschiedener Mann, ihre Zwillingsschwester und ihre Freundin. Ihr geschiedener Mann hatte sie betrogen. Ihre Zwillingsschwester hatte hatte ihr in einer finanziellen Notlage kein Geld leihen wollen. Ihre Freundin hatte sie nicht im Krankenhaus besucht. Sie alle hatten einfach nur Hass verdient, dachte Erika, und ihr Gesicht verzog sich zu einer hässlichen Grimasse.

Die Liste der Hass-Objekte wurde länger und abstruser. Eine Nachbarin war zweimal grußlos an ihr vorbei gegangen. Ein Nachbar hatte sich beschwert, weil sie an einem Feiertag den Rasen gemäht hatte. Eine Kassiererin im Supermarkt hatte ihr einen Artikel doppelt berechnet. Diese Leute musste man einfach hassen, dachte Erika. Wieder verzog sich ihr Gesicht.

Ihr Hass auf die Menschen nahm krankhafte Züge an. Erika merkte es nicht, vielleicht wollte sie es nicht merken. Ihre Zwillingsschwester machte sich Sorgen und bat Erika lieb und fürsorglich darum, den unnötigen Hass zu begraben und wieder positive Gefühle in ihr Leben zu lassen. Wutentbrannt drückte Erika das Gespräch weg. Sie hüllte sich in ihren Hass wie in einen schützenden Kokon, wurde selbstgerecht, verlor die Bodenhaftung und den Sinn für die Realität. Der Hass war zu ihrer zweiten Natur geworden und beherrschte ihr Leben.

Sie war allein. Die Menschen hatten sich von ihr abgewandt, weil sie Erikas beständigen Hasstiraden, die sie mit keifender Stimme abfeuerte, nicht mehr ertrugen. Sie mochten auch Erikas Anblick nicht mehr. Ihr Gesicht, das beherrscht wurde von den zornig zusammen gezogenen Augenbrauen, den eiskalten Augen und dem drohenden Blick. Erika hatte das Aussehen einer Hexe angenommen, sie jagte den Menschen Furcht ein.

Der Hass fraß sie innerlich auf wie ein wucherndes Krebsgeschwür. Sie alterte täglich um Jahre. Ihr Gesicht, gezeichnet von tiefen Falten und Furchen, verlor jede halbwegs menschliche Ausstrahlung. Als Erika ihr Spiegelbild sah, schrie alles in und an ihr nur noch H-A-S-S. Sie erkannte plötzlich, dass sie sich selbst mehr hasste als alle anderen Menschen. Verzweifelt ballte sie die Fäuste und schrie laut auf. Es war nicht der Schrei eines Menschen, sondern der Schrei eines waidwunden Tieres. Erika wusste, dass es zu spät war für einen Neuanfang in ihrem Leben; denn der Hass hatte bereits ihr Herz zerfressen. Sie starb noch in der Nacht an Herzversagen. Niemand kam zur Beerdigung, nur die verhasste Zwillingsschwester folgte dem Sarg. Sie hoffte, dass Erika jetzt von den Qualen des Hasses erlöst war.

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 05.08.2020. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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