Vor mir sehe ich auf einmal die leere Mineralwasserflasche, die ich am Meia Praia fand nach den heftigen Sturmtagen. Das Meer spie Plastikmüll, eingedrückte Margarinedosen, Flaschenverschlüsse und verschrammte Kanister, Muscheln und Schlickhaufen aus. Da lag diese Flasche, neben ihr ein kleiner silbrig blauer Fisch, und zog meine Aufmerksamkeit auf sich. Ich stieß sie mit dem Fuß an, drehte sie herum, denn plötzlich wollte ich dringend ihren Herkunftsort wissen. Triumphierend stach mir arabische Schrift ins Auge. Ich begann zu träumen. Sie hatte den umgekehrten Weg über das Meer genommen, war von der Flut ans Land gespült worden. BARAKA stand auf dem Etikett, das bedeutet Segenskraft im Islam, ein Zeichen Gottes. Einige Jahre zuvor hatte ich in Westafrika gelebt und wusste, dass im islamischen Glauben Gegenstände mit diesem Segensspruch fantastisch aufgeladen werden konnten, besonders Wasser. Schon fühlte ich mich hinübergezogen auf die andere Seite des Meeres. Kam diese Flasche aus Marokko? Das war weit weg. Oder war sie aus Algerien angespült worden und hatte die lange Reise über das schwere Meer unbeschadet überstanden? Ich dachte an meine Freunde auf der nordafrikanischen Seite. Tranken sie dieses Wasser? Konnte ich ihnen etwa eine Flaschenpost schicken in meiner portugiesischen Mineralwasserflasche. Sofort ging ich ins Internet-Café und sendete ihnen Mails. Prompt erschienen ihre Antworten auf dem Bildschirm.
Wenn ich aus dem Fenster über den Strand von Boumérdes hinüberschaue, scheint er mir als Verlängerung deines Strandes in Portugal. Die Ähnlichkeiten, die ich auf deinen Fotos erkenne, die Landschaft, die weißen Häuser, ich war niemals in Portugal, aber vor vielen Jahrhunderten eroberten die Muslime diesen Küstenstrich. Ich sehe deine Haare im Wind wehen, so nah bist du – schrieb der algerische Freund.
Über den Atlantik und das Mittelmeer, aus dem Osten, schrieb der Freund:
Ich stehe wie der Fiedler auf dem Dach meines Hauses und schippe endlos Schnee. Ich wünschte, ich wäre in deiner Sonne.
Er schickt mir ein Foto von einem aufsteigenden Vogelschwarm in Form eines Herzens über einer gefrorenen Schneelandschaft. Aber wie speichere ich ein fliegendes Herz ab und noch dazu auf einem Computer, der nur portugiesisch versteht?
An den Küstenrändern der Kontinente verschwimmen die Grenzen hinter dem Horizont und reichern das Meer mit starken Träumen an, spüre ich. Die Wolken ziehen über uns hinweg und hinterlassen blasse Konturen unserer Fantasien.
Ich rieche den Duft der See und höre das Gekreisch der Möwen, ich sehe dich am gegenüberliegenden Strand in der Sonne zu mir herüber starren, ich winke dir zu, schrieb der marokkanische Freund – Wir atmen die gleiche Luft.
Die Flasche war aus Marokko.
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 08.08.2020.
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