Christiane Mielck-Retzdorff

Verborgene Talente

 

 

Henriette genoss es, seit sie Rentnerin war, jeden Morgen eine lange Radtour mit ihrem Hund Bosco zu unternehmen. Mit ihrem Mann Albert wohnte sie naturnah in einem Vorort der Großstadt Hamburg. Dieser konnte sich noch nicht mit dem Rentnerdasein anfreunden und arbeitete unverdrossen in seiner Kanzlei als Rechtsanwalt.

Bosco war ein rumänischer Straßenhund ohne erkennbare Abstammung. Nur sein schönes honigfarbenes Fell bewahrte ihn davor, dass die Menschen sich bei der ersten Begegnung vor ihm fürchteten. Dabei war er ein freundlicher, umgänglicher Geselle, dessen kluges Verhalten seiner Besitzerin stets Freude bereitete.

So musste sich Henriette auch nicht sorgen, als die beiden, kurz vor ihrem Haus in der benachbarten Neubausiedlung eine Frau mit ihrem zweijährigen Hund Schnuffi trafen. Man kannte sich bereits, die Tiere verstanden sich gut. Schnuffi war ein Baumwollhund, schneeweiß, mit sorgfältig gepflegtem Fell. Seine Besitzerin hatte es gar nicht gern, wenn der Kleine sich schmutzig machte.

Schon früh drängte sich Henriette der Verdacht auf, die Frau und ihr Mann hatten sich den Hund als Kindersatz angeschafft. Sie mussten recht vermögend sein, denn die Frau arbeitete, obwohl erst Mitte Dreißig, nicht. Schnuffi war für beide wohl der entzückende Schoßhund, dessen einzige Aufgabe es war, das Bedürfnis nach Zärtlichkeit seiner Hausgenossen zu erfüllen.

Bosco hatte bei der Radtour mal wieder nach Wasser gesucht, um sich bei den sommerlichen Temperaturen abzukühlen, wählte dabei eine etwas schlammige Stelle in einem Bachlauf und sah entsprechend dreckig aus. Um Schnuffi davor zu retten, sein weißes Haarkleid zu beschmutzen, nahm seine Besitzerin ihn eilig auf den Arm.

An dem Gesichtsausdruck des Hundes erkannte Henriette, wie sehr ihm diese Behandlung missfiel, doch er fügte sich. Ob seinem Frauchen überhaupt bewusst war, dass das Tier, welches sie auf dem Arm hielt, zu über 95 % die Gene eines Wolfes in sich trug. Henriette und Bosco zogen weiter.

Wenn die Temperaturen es zuließen, standen bei ihnen zuhause die Haus- und die Terrassentür immer offen. So konnte Bosco wählen, ob er sich lieber im Garten aufhielt oder den kühlen Schatten des Hauses suchte. Nach dem Verrichten einiger Hauarbeiten, setzte sich Henriette gern auf eine Bank unter einer Buche im Vorgarten und genoss einfach ihr entspanntes Leben.

Plötzlich tauchte Schnuffi auf und setzte sich vor sie hin. Vermutlich hatte er sich unter der Gartenpforte hindurchgeklemmt. Beide sahen sich nur an. Bosco kam auch hinzu, war ein freundlicher Gastgeber, begrüßte den Ankömmling und zog sich dann wieder unter eine Hecke zurück.

Henriette konnte in dem Blick von Schnuffi lesen, dass er gekommen war, um zu bleiben. Doch das war ja nicht möglich, denn er gehörte dem anderen Ehepaar. Prompt hörte sie auch die Frau den Namen ihres Hundes rufen. Leise sagte Henriette:

„Du musst wieder gehen. Dein Frauchen sucht Dich.“

Schnuffi schien sie zu verstehen, doch blieb ungerührt sitzen.

„Ich darf Dir nicht helfen. So sind nun mal die Gesetze der Menschen. Sie meinen, wenn sie ein Tier kaufen, gehört es ihnen.“

Henriette besaß eine andere Einstellung. Für sie war ein Hund ein gleichberechtigter Lebensgefährte mit eigenen Wünschen und Bedürfnissen. Sie hatte sich schon bei Boscos Vorgängern stets bemüht, dieses zu respektieren, gebrauchte nie Kommandos wie Sitz, Platz oder Aus, sondern sprach mit ihren Hunden wie mit einem Menschen. Der Erfolg gab ihr Recht, was viele Hundebesitzer für reinen Zufall hielten.

Schnuffis Frauchen holte ihren Hund ab, nahm ihn sogleich auf den Arm, schimpfte kurz mit dem Ausreißer, um ihn dann doch wieder abzuknuddeln. Und erneut meinte Henriette in dessen Augen Unbehaglichkeit, ja wenn nicht sogar einen Hilferuf zu erkennen.

Diese Szene wiederholte sich nun täglich. Schnuffi erschien, erkundete mehr und mehr, geduldet von Bosco, den Garten und fühlte sich bald heimisch. Es dauerte zwar eine lange Zeit, aber irgendwann erkannten auch seine Besitzer, dass ihr Hund sich bei ihnen nicht wohl fühlte, denn es war erstaunlich, was er sich alles einfallen ließ, um auszureißen. Beleidigt und fast wütend schlug das Ehepaar Henriette vor, ihnen diesen undankbaren Köter abzukaufen. Diese fragte zuerst Bosco und dann ihren Gatten, ob der Kleine zu ihnen ziehen dürfte. Mit deren Zustimmung durfte Schnuffi einziehen.

Das vierbeinige Team konnte von seiner Erscheinung nicht unterschiedlicher sein, aber der kleine Schoßhund erwarb schnell genug Kondition, um bei den Radtouren mitzuhalten. In der Natur entdeckte er in sich den bisher schlummernden Wolf. Wenn er zusammen mit Bosco Bachläufe erkundete, kehrte er oft als schlammige Moorkröte zurück. Doch offensichtlich wusste er, wie er sich des Drecks wieder entledigen konnte, so dass Henriette ihn zuhause nur kurz zu bürsten brauchte, bis er wieder wie eine Schneeflocke erstrahlte.

Bosco war ein sehr kluger Hund, doch in Schuffi glaubte sein neues Frauchen Fähigkeiten zu erkennen, die über das Übliche hinausgingen. Bei beiden Tieren reichten zwar kleine Gesten, um ihr Verhalten wunschgemäß zu beeinflussen, aber Henriette fühlte, dass Schuffis wacher Geist nicht ausgelastet war. Er brauchte wohl besondere Beschäftigung. Also begab sie sich mit ihm zu einem Hundeverein und legte dort in ungewöhnlicher Geschwindigkeit alle für einen kleinen Hund möglichen Prüfungen ab. Die anderen Mitglieder waren so fassungslos, dass sie sogar Bestechung mutmaßten.

Eines Tages besuchte Henriette und ihren Mann ihr Neffe Gunther, der beim Zoll arbeitete. Schnuffi lebte dort erst ein ¾ Jahr und der junge Mann kannte ihn noch gar nicht. Natürlich fand er den Hund erstmal nur niedlich, während dieser dem Gast offensichtlich große Sympathie entgegenbrachte. Als seine Tante ihm aber von den erfolgreich und mit höchster Punktzahl bestandenen Prüfungen des Kleinen erzählte, wurde er hellhörig.

„Wisst ihr übrigens, dass der erfolgreichste Drogenspürhund beim Zoll eine niedliche, kleine Cockerspaniel-Hündin ist. Vielleicht besitzt ja auch euer Schoßhund verborgene Talente. Ich wünsche mir schon lange, zur Hundestaffel des Zolls zu wechseln. Darf ich …. Wie heißt der Hund nochmal?“

„Schnuffi.“, erklärte Henriette. „So tauften ihn schon seine Vorbesitzer und wir wollten ihm keinen anderen Namen geben. Als wir ihn kauften, bekamen wir auch seine Abstammungspapiere ausgehändigt. Stell Dir mal vor. Laut denen ist der Name unseres Hundes Dorian Edler von Flockenstein. Die spinnen doch, diese Züchter.“

„Ist doch auch egal, wie der Kleine heißt. Darf ich ihn beim Zoll mal vorstellen? Dort können sie feststellen, ob er als Drogenspürhund geeignet ist. Wenn Schnuffi den Test besteht, werde ich darauf bestehen, dass wir nur als Doppelpack zu haben sind und mein Traum erfüllt sich.“

Gunther strahlte allein bei diesem Gedanken so viel Freude und Zuversicht aus, dass Henriette und ihr Mann ihren Neffen nicht durch Ablehnung des Vorschlags bekümmern wollten. Und das Erstaunlichste war, dass Schnuffi, so als habe er jedes Wort verstanden, ausgelassen um den Gast herumhüpfte. Also wurde Gunther erlaubt, den Hund für eine Begutachtung durch den Zoll mitzunehmen.

So wurde Schnuffi dort getestet und die Ergebnisse waren so überragend, dass seinem Einsatz als Drogenspürhund unter der Aufsicht von Gunther nichts mehr im Wege stand. Zwar vermisste Henriette Schnuffi, doch es tröstete sie die Einsicht, dass der Kleine seine Berufung gefunden hatte. Und wie stolz war sie, wenn sie in der Zeitung lesen konnte, dass der Champion unter den Drogenspürhunden wiedermal erfolgreich war.

Wenn sie also auf dem Hamburger Flughafen jemanden sehen, der vermeintlich auf einen Fluggast wartete und einen entzückenden, weißen Schoßhund an der Leine führt, dann wissen sie: Schnuffi hat Dienst.

 

 

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