Der kühle Nachthimmel funkelte hell über der rauen
Oberfläche von Ganymed. Doch es waren keine Sterne, die sich in Kierans
kleinen Augen widerspiegelten. Es war der Meteoritenregen, der gekommen war,
um ihn von diesem Mond zu vertreiben. Kieran weinte nicht, nicht mehr. Er
hatte verstanden, dass seine Heimat kein Ort war.
Gleich
würde er zu Mutter und Vater ins Haus rennen und auf die glühenden
Punkte am Himmel deuten. „Der Himmel weint Feuer“ würde er
dann aufgeregt sagen. Mutter würde die Kanne mit dem Tee, den ihr Mann
und Sohn so liebten, fallen lassen. Ihre Hände würden vor die
sanften Lippen schnellen, die Kieran jeden Abend mit einem Kuss auf die Stirn
in den Schlaf schickten und ihre lieblichen blauen Augen würden sich mit
Schreck weiten. Das Lachen auf Vaters Gesicht würde fliehen, als
hätte es sich erinnert, dass es keinen Platz an diesem Ort hatte. An die
selbe Stelle würde dieser kühle, entfernte und gleichzeitig so
besorgte Blick treten, vor dem jedes Kind Angst hat, wenn er von der
stärksten Person in ihrer Welt stammt. Kieran kannte diesen Blick nur zu
gut. Er hatte ihn gesehen als der Schrott, der die Erde in einem Gürtel
umgab, anfing auf Lunas Oberfläche einzuschlagen. Er hatte ihn gesehen,
als die Fänge von Venus' Hitze sich durch die schützende
Hülle ihres Protektors gruben. Und er hatte ihn gesehen, als sich der
Boden unter ihren Füßen im Stickney Krater spaltete, bevor wenige
Stunden darauf der einzige Ort, den er jemals zu Hause genannt hatte, Phobos,
in zwei Teile brach. Jedesmal wenn sich dieser Blick wie ein Parasit auf dem
Gesicht dieses fröhlichen und herzlichen Mannes, den er Vater nannte,
festsetzte, fürchtete Kieran, er würde nie von ihm ablassen.
Auch diesmal würde Kieran die selbe Furcht erfüllen. Die
friedliche Szenerie dieser warmen Sommernacht würde welken und Chaos
würde aus dem Boden sprießen. Panik würde sich über den
Raum legen, wie ein tödlicher Dunst. Vater würde auf das
Kontrollzentrum des Protektors einhacken und die Komprimierungssequenz
einleiten. Mutter würde aufgeregt Anweisungen für Kieran rufen
während ihre feinen Finger die Schubladen im Wohnzimmer nach der Kette
ihrer Schwester durchwühlen würden. All diese Dinge würden
geschehen und sie würden seinem Gedächtnis eine weitere Narbe
verleihen. Aber jetzt stand Kieran einfach nur da, sein zartes Gesicht ohne
Emotion, seine Augen auf die unaufhaltsame Zukunft gerichtet. Die simulierten
Grillen zirpten die Melodie des brennenden Himmels über seinem Kopf. Und
für einen kurzen Moment schien es, als wäre die Zeit gefroren. Als
gäbe es nichts, außer diesen kleinen Jungen in seinem grünen
Schlafanzug. Die leuchtenden Punkte, die auf der Oberfläche seiner
aufmerksamen Augen reflektierten, nur eine Vision einer weit entfernten
Zukunft.
Und auch wenn Kieran sich gewünscht hätte, dass die
Zeit nie wieder ihren gewohnten Lauf fortgesetzt hätte, dass er für
immer hier stehen und das tödlich schöne Antlitz dieser Nacht
bestaunen könnte, wusste dieser kleine aber schon so reife Junge, dass
nichts in diesem Universum Bestand hatte. Sein Blick fiel auf die Höhle,
die sein Vater und er zusammen aus Gesteinsbrocken gebaut und wie die alten
Festungen der Erde angemalt hatten. Der Ort, in dem die Welt klein und sicher
war, wo es kein Feuer und keine Stürme gab und wo die Wahrheit, dass die
Menschheit nur noch aus ihm und seinen Eltern bestand, keinen Zutritt hatte.
Auch die Geborgenheit dieses Orts war nur eine Illusion und so wandte sich
Kieran ab und rannte so schnell, wie ihn seine kleine Füße trugen.
Der Protektor konnte Ganymeds geringe Gravitation ausgleichen, doch auf
Kierans Betteln hin hatte sein Vater diese Funktion abgeschaltet. Kieran hatte
auf Luna gelernt zu laufen und es war die ähnliche Gravitation hier, die
ihm wieder das Gefühl gab, in einer früheren Zeit zu leben, in der
er die Schwere seines Schicksals noch nicht verstand.
Von der
Terrasse des Folding-Hauses strömte warmes Licht und Gelächter
seiner Eltern zu dem kleinen Unheilboten, der nun über die
künstliche Oberfläche gleitete, von der ihn seine flinken
Füße hoch in die Luft stießen. In seinen Augenwinkeln eilte
die eisige Welt von Ganymed außerhalb des sommerlich warmen Protektors
entlang. Mit einem letzten kräftigen Sprung landete Kieran genau auf der
Schwelle zur Küche, wo sein Vater lachend über den Witz seiner Frau
am Herd hantierte.
„Kieran, es dauert bestimmt noch ein
bisschen, geh doch noch etwas spielen.“ Das selbstbewusste Schmunzeln
über ihren gelungen Scherz zierte noch immer ihr liebliches Gesicht, doch
in den Augen ihres einzigen Sohnes las seine Mutter die Wörter, bevor er
sie aussprach. Und alles geschah. Die Kanne glitt zu Boden, Vaters Lachen
verstummte und Kieran sah zu, wie seine Welt wieder einmal
auseinanderbrach.
Ganymeds Gravitation zog nur langsam an den
Gegenständen, die seine Mutter beim Durchwühlen der Schubladen
über ihre Schulter warf. Kleidung, Papier und Erinnerungen schwebten
durch das Zimmer wie Schneeflocken in einer kühlen Winternacht. Und
wäre da nicht diese Frau gewesen, die mit ihren zarten Fingern hektisch
nach Erinnerungen an bessere Zeiten suchte, hätte man meinen können,
der Zeitfluss an diesem Ort wäre verlangsamt gewesen.
Kieran
stand immer noch auf der Schwelle, wo er gelandet war, während um ihn
herum Frieden Chaos gebar. Er hasste es, nutzlos zu sein. Doch seine Augen
suchten vergeblich nach Halt in der Hysterie, die sich ihm offenbarte. Aus dem
Arbeitszimmer hörte er seinen Vater heftig fluchen.
„Wo
in aller Welt!“ Seine kräftige Stimme ließ die Luft zittern.
„Kieran! Papa braucht deine Hilfe!“ Kieran war schon losgerannt
bevor er seinen Satz beendet hatte.
Der voluminöse Mann, der
zwischen Stiften und umgeworfenen Akten auf den Schreibtisch lehnte, fauchte
wüste Sätze in seinen roten Bart, während seine kräftigen
Hände das dunkle Mahagoniholz abtasteten.
„Kieran! Ich
kann meine Brille nicht finden. Papa braucht deine Adleraugen!“
Ohne weitere Erklärung rannte der kolossale Mann auf die Tür zu und
klemmte auf seinem Weg den Jungen unter den Arm, der angesichts des
plötzlichen Sprints seines Vaters zusammenzuckte. Kierans Welt drehte
sich auf die Seite, während sein Vater durch den Korridor ins
Kontrollzentrum rannte.
Der Bär von einem Mann nahm sich nicht
einmal die Zeit, die Klinke herunterzudrücken. Stattdessen befreite er im
Rennen mit vorgehaltener Schulter die Tür aus ihrem Rahmen. Das
rechteckige Holzstück drehte sich ein paar Mal um die eigene Achse, bevor
es krachend auf dem blau leuchtenden Armaturenbrett in der Mitte des Raumes
landete. Kierans Vater wischte es kurzerhand zur Seite, stellte seinen Sohn
neben sich ab und begann auf die Tastatur einzuhacken.
„Kieran! Was steht auf der Kugel?“
Kieran schaute sich
hektisch um, auf der Suche nach der Kugel, von der sein Vater sprach. Der Raum
hatte keine Fenster und die einzige Lichtquelle war das blaue Leuchten des
Armaturenbretts und der Schein der Deckenlampe aus dem Korridor. Kieran liebte
seinen Vater dafür, dass er sein Vertrauen in ihn setzte und das Letzte,
was er wollte, war ihn zu enttäuschen. Doch so sehr er sich auch
anstrengte, seine Augen hatten sich der Dunkelheit noch nicht angepasst und
mit jeder Millisekunde, die er nutzlos dastand, breitete sich die Verzweiflung
weiter in ihm aus. Da erschien plötzlich ein Hologramm genau an der
Stelle, an der Kieran stand und tauchte den Raum in warmes Licht. Auf der
Oberfläche der orangefarbenen Kugel, bewegte sich ein blauer Schriftzug
über das Netz aus senkrechten und horizontalen Linien, die die
planetenähnliche Form überzogen. Kieran konnte lesen, aber was er
sah, ergab für ihn keinen Sinn.
„M-I-N-U-E-R-E-7-3-
2“
Die Finger seines Vaters flogen blitzschnell über die
Tastatur und prompt erschien ein neuer Schriftzug über dem
Vorherigen.
„T-R-A-4-F-3-E-R-R-1-E“
Eine
ironische Stille erfüllte die Luft, während Vater und Sohn gemeinsam
um ihr Überleben kämpften. Kierans hohe Stimme war die Melodie auf
den Rhythmus der raschen Tippgeräusche seines Vaters. Binnen weniger
Sekunden war die ganze Kugel mit blauen Schriftzügen
übersät. Mit einer abschließenden Handbewegung
drückte Kierans Vater einen Knopf und all die eingegebenen
Schriftzüge verschwanden im Inneren der Kugel. Auf einen Schlag leuchtete
das Hologramm hell auf und ein aggressives Rot verschlang das Innere des
Hauses. An die Stelle der Schriftzüge war eine fett gedruckte
„180“ getreten, die erst zu einer „179“ und dann zu
einer „178“ wurde. In weniger als drei Minuten würde sich die
schützende Hülle des Protektors abschalten und das gesamte Haus,
inklusive aller Objekte in ihm, würden auf die Größe eines
Kleiderschranks schrumpfen.
„Hör zu Kieran. Du musst
jetzt so schnell du kannst zur Puma rennen. Mach keine Umwege, nimm nichts
mit. Schaue nicht nach hinten. Hast du mich verstanden?“ Sein Vater
blickte ihm tief in die Augen.
Kieran presste die Lippen zusammen
und nickte verantwortungsbewusst, was das wärmste Lächeln auf das
besorgte Gesicht seines Vaters zeichnete. Er liebte seinen Sohn mehr als alles
andere in der Welt und auch wenn er ihm keine richtige Kindheit bieten konnte,
erfüllte es ihn mit unbändigem Stolz, wie reif dieser kleine Junge
mit seiner großen Zahnlücke für sein Alter war.
Kieran sprintete jetzt durch die rote Apokalypse, die noch vor ein paar
Minuten der friedlichste Ort im ganzen Universum war. Jede Lampe im Haus warf
schrilles Rot an die Wände und projizierte das Hologramm des Countdowns.
Mit jedem Schritt wurde die Zahl geringer, mit jedem Schritt kam der
Meteoritenregen näher. Im Wohnzimmer eilte seine Mutter immer noch von
Ablage zu Ablage, doch die Worte seines Vaters hallten durch Kierans Kopf und
ohne zu stoppen stieß er die breite Haustür ins Freie auf.
Der Protektor simulierte immer noch eine warme Sommernacht mit zirpenden
Grillen und einem Duft von verkohltem Feuerholz. Kieran liebte es, wenn dieser
rauchige Geruch durch das halbgeöffnete Fenster in sein Zimmer schwebte,
um ihm einen Nachtduft zu singen. Jetzt nahm er ihn nicht einmal wahr. Seine
Aufmerksamkeit galt dem Y-förmigen Transporter am Rande der Barriere. Das
blaue Glas der zwei Cockpits funkelte im Kontrast zu der mattschwarzen
Lackierung, wie die Augen einer Raubkatze, die im Schutz der Schatten lauert,
um ihre Beute mit einem gezielten Schlag ihrer mächtigen Pranke zu Boden
zu bringen. Mutter wollte nicht, dass Kieran lernte, die Puma zu fliegen, doch
auch Mütter gehen irgendwann schlafen. Einmal im Monat stand Kierans
Vater nachts vor dem Fenster seines Sohnes. Die Iontriebwerke des Transporters
waren lautlos, weswegen Mutter nicht hörte, wenn Vater und Sohn abhoben,
um durch die Wirbelstürme auf Jupiter zu fliegen. Die Puma war auch nur
von einem Cockpit bedienbar, aber ähnlich wie Segelboote in den alten
Zeiten, erleichterte es die Navigation erheblich, wenn die Besatzung als Team
agierte, um den Kurs zu bestimmen. Anfangs übernahm sein Vater noch einen
Großteil der Steuerung, doch schon nach wenigen Flügen fing Kieran
an, den Geist des Schiffs zu verstehen. Es dauerte nicht lange, bis er fast
ohne Hilfe zielsicher durch Asteroidenfelder manövrieren und all die
hundert Schalter und Knöpfe im Cockpit bedienen konnte. Es war aus diesem
Grund, dass Kieran nun die Treppe zum linken Cockpit hochhechtete, um die
Triebwerke zu starten.
Kieran wusste nicht, welche Prozesse im
Inneren des Transporters abliefen, aber er wusste, welche Hebel er umlegen
musste, um die Puma zum Schnurren zu bringen. Kein Geräusch, nur ein
leichtes Vibrieren und alle Anzeigen leuchteten hell auf, alle Zeiger schlugen
kurz aus, bevor sie ihre normale Position einnahmen, als würden sie sich
nach einem erholsamen Schlaf strecken. Mit einem Blick auf das Display
über der Steuerblase stellte er sicher, dass der Elektronenaustausch in
den Triebwerken reibungslos ablief, bevor sich Kieran auf dem Sitz neben dem
des Piloten anschnallte. Nicht dass er auch nur im Ansatz gewusst hätte,
was zu tun gewesen wäre, wenn die Anzeige nicht die gewohnten drei
Pfeilen präsentiert hätte, aber er hieß jede Gelegenheit
willkommen, sich in dieser Hektik fähig zu fühlen.
Die
entfernten Stimmen seiner Eltern nahmen Gestalt an, während nackte
Füße im schnellen Takt auf die kühlen Stufen der Metalltreppe
auftrafen. Erleichterung strömte ihn das von Sorge gekrümmte Gesicht
seiner Mutter, als sie Kieran auf seinem Sitzplatz entdeckte. Sie fuhr mit
ihren Fingern zärtlich über seine Wange und Kinn, bevor sie zum
Steuer eilte. Für einen kurzen Moment hielt die aufgewühlte Frau
inne und wunderte sich, dass die Triebwerke schon liefen. Doch innerhalb
weniger Bruchteile einer Sekunde erinnerte sie sich, dass dafür keine
Zeit blieb und nahm mit einem verwunderten Kopfschütteln ihren Platz
ein.
Es war erst jetzt, dass Kieran anfing zu realisieren. Erst
jetzt fing er an zu verstehen. Jetzt, da es zu spät war, holte ihn die
Realität ein. Limi. Kieran schlüpfte aus seinem Gurt und sprang von
seinem Sitz.
„Was in aller Welt hast Du vor?“ Die
ozeanblauen Augen seiner Mutter durchbohrten ihn.
Kieran
antwortete nicht. Mit jedem Atemzug glitt der Hauch der Chance, die ihm noch
blieb, aus seinen Fingern.
„Kieran! Wage es nicht!“
Er hatte schon längst erspäht, wie seine Mutter heimlich ihren
Gurt gelöst hatte. Flink duckte er sich mit einer Drehung unter ihren
Händen weg, bevor er die steile Treppe hinabschoss, das aufgebrachte
Rufen und Flehen seiner Mutter im Nacken. Die Luke war vom Cockpit aus
verschlossen worden, doch Kieran wusste, dass der Hebel neben dem Ausgang alle
anderen Eingaben überbrücken konnte. Mit einem Sprung, der aufgrund
der geringen Gravitation nicht viel Kraft erforderte, zog er den Griff
herunter und die Tür schnellte auf.
Aus den Fenstern links
und rechts des Eingangs drang bedrohliches rotes Licht, was dem Folding-Haus
die Erscheinung einer wütenden Bestie gab. Kieran rannte direkt auf den
geöffneten Schlund zu. Auf dem Weg lagen samtgrüne Pantoffeln, zehn
Meter voneinander entfernt, in der Hektik von den Füßen seiner
Mutter abgefallen. Die glühenden Punkte am Nachthimmel über der
Szenerie waren auf das Zwanzigfache ihrer ursprünglichen Größe
angeschwollen. Hundert brennende Augen schauten zu, wie ein kleiner Junge in
seinem Schlafanzug so schnell rannte, wie er konnte, um das Wenige, was ihm
noch blieb, zu retten.
Kierans Atem ging schnell, als er auf der
Schwelle zum Korridor landete. Sein Blick fand die fauchende Siebenundzwanzig,
die als Hologramm von der Decke hing. Sechsundzwanzig. Kieran war flink. Zeit
war sein Gegner.
Er rannte am Wohnzimmer vorbei, passierte das
Arbeitszimmer und das Kontrollzentrum, bis er endlich die Tür zu seinem
Raum aufstieß. Die Schreibtischlampe tauchte das Zimmer in schreiendes
Rot, unter ihr lungerte der Countdown. Neunzehn. Achtzehn. Kierans Welt
brannte. Die Panik war lautlos, aber sie machte ihn taub. Dieses vertraute
Zimmer kam ihm so furchtbar fremd vor. Und da, inmitten des Untergangs,
schlummerte sie ohne eine einzige Sorge in der Welt. Ihr spitzes Gesicht auf
den Pfoten abgelegt, die Augen geschlossen. Der buschige Schwanz verdeckte
ihre feine Schnauze und schützte sie und ihre sanften Träume vor dem
hässlichen Antlitz der Realität. Ihr sonst schneeweißes Fell
leuchtete rot im Licht des Alarmsystems. Genau wie Kieran, war Limi die Letzte
ihrer Art. Wie konnte er sie jemals vergessen?
Ihre laubbraunen
Augen schauten Kieran erschrocken an, als er sie fest an sich drückte.
Sie hatten ihm schon so viel genommen, aber nicht Limi. Mit einer Hand
öffnete er das Fenster, während die Andere den Polarfuchs an seine
Brust presste. Ihre flauschigen Ohren zuckten nervös hin und her, als
würden sie die herankommende Gefahr hören. Kieran kletterte aus dem
Fenster und lies sein Zimmer mit dem bedrohlichen Countdown hinter sich.
Elf.
Zehn.
Neun.
Das ganze Universum hielt inne. Seine
Eltern würden eher sterben, als ohne ihn zu gehen. Die Menschheit hing an
den Beinen dieses kleinen Jungen. Und diese Beine rannten, rannten so schnell,
wie sie noch nie gerannt waren. Die Puma war noch ungefähr fünfzehn
Meter entfernt. Kieran sprang.
Acht.
Sieben.
Kein Geräusch.
Sechs.
Fünf.
Brennender
Himmel.
Vier.
Drei.
Kieran streckte seine
nackten Füße nach vorne. Jeden Moment würden sie den kalten
Boden des Transporters finden und Kieran und Limi wären sicher. Oder der
Protektor würde sich deaktivieren und niemand könnte Junge und Fuchs
vor Eis, Feuer und Leere retten.
Zwei.
Eins.
Bomp.
Luke schloss. Schutzblase löste sich auf. Kälte
und Sturm überfiel den Transporter und Kieran drehte sich um, um durch
das Fenster zu beobachten, wie das Haus zusammenklappte und in einem
Lichtstrahl in den Bauch der Puma gezogen wurde.
Limi löste
sich aus seinem Griff und schnellte grazil die Treppe zum linken Cockpit
hinauf. Kieran wollte ihr hinterher, doch stolperte und fiel auf die Knie. Am
liebsten wäre er einfach hier liegen geblieben, aber das plötzliche
Ruckeln des Transporters brachte ihn zurück in die Realität und
erinnerte ihn, dass die Gefahr noch nicht vorüber war. Er rappelte sich
auf und stürmte die selbe Treppe hoch.
Seine Mutter wollte
schimpfen, doch ihr Körper zitterte noch immer von der Gewissheit, ihr
einziges Kind verloren zu haben und aus ihrem leicht geöffneten Mund
drang nichts, außer ein leises Geräusch der Erleichterung. Ihre
Mundwinkel verzogen sich und sie drückte den kleinen Jungen fest an sich.
Sein Kopf versank im losen Haar seiner Mutter, während sie ihre Lippen
gegen seine Schädeldecke presste.
„Mach das nie
wieder.“
Sie küsste seine Stirn und wies ihm, sich auf
seinen Platz zu setzen, den Limi mit unangefochtener
Selbstverständlichkeit für sich in Anspruch genommen hatte. Kieran
hob sie unter ihrem empörten Blick hoch und schnallte sich an. Seine
Mutter, die ihre Konzentration jetzt der Steuerblase gewidmet hatte, legte
drei Schalter um, bevor sie mit einer ansteigenden Handbewegung den
Transporter zum Abheben brachte. Kierans Blick wanderte aus dem Fenster,
während die Puma innerhalb weniger Sekunden auf mehrere hundert km/h
beschleunigte. Der Aufschlag des ersten Kometen, circa einen Kilometer
entfernt, schleuderte eine riesige Wolke Eisstaub in die Luft, der langsam,
wie im Traum zu Boden glitt. Die nächsten Zwei rissen die Oberfläche
an der Stelle auf, wo Kieran noch vor zehn Minuten den Sternenhimmel
beobachtet hatte. Ein aufgeschleuderter Eisbrocken schliff das Heck der Puma
und brachte den Transporter gefährlich ins Trudeln. Doch Kierans Mutter
ballte die von der Steuerblase umgebene Hand zur Faust und stabilisierte die
Flugbahn. Ein violettes Warnlicht blinkte auf dem Display auf. Im anderen
Cockpit zweigte Kierans Vater Energie von den Triebwerken zu den unteren
Reflektoren ab. Limi, die von der Erschütterung die Treppe
heruntergeschleudert worden war, hastete auf Kierans Schoß, wo sie von
ihrem Freund fest umklammert wurde. Hätte Kierans Mutter nicht im letzten
Moment die Hand zur Seite gerissen, hätte der nächste Komet wohl das
ganze Schiff zerteilt. Ein Gesteinsbrocken nach dem anderen, brachte die
kraterreiche Oberfläche von Ganymed zum Bersten. Alles versank in grau-
türkisem Staub, bis die Puma endlich mit blau funkelnden Augen und einem
Schweif aus Asche und Eis aus der Wolke herausschoss. Kieran beobachtete aus
dem Fenster, wie Jupiter in seiner gewaltigen Größe hinter dem
Chaos auf Ganymed aufging. Das durchdringende Auge des Gasgiganten sah
regungslos zu, wie Kierans Höhle von Staub und Gestein verschlungen !
wurde. G
anymed war nicht länger ein funkelnder Mond, sondern ein aufgequollenes
Chaos aus Eis und Dreck. Kieran wandte den Blick ab.
Das wirre
Haar seiner Mutter hing über der Lehne ihres Sitzes, während sie
sich von der Steuerblase löste und ihr erschöpftes Gesicht in den
Händen vergrub. Durch die Fingerspitzen spähte sie in die endlose
Leere, die sich vor ihnen erstreckte. Sie war sich so sicher, endlich ein zu
Hause für ihre Familie gefunden zu haben, doch wieder konnte sie ihrem
einzigen Sohn keine Heimat bieten. Und auch wenn sie der Wahrheit nie ins
Gesicht blicken wollte, begriff sie nach und nach, was sie schon immer
befürchtet hatte. Für sie gab es keine Heimat und es würde nie
eine geben, denn sie waren die Nomaden der Unendlichkeit.
Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Kurt Michel).
Der Beitrag wurde von Kurt Michel auf e-Stories.de eingesendet.
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 17.08.2020.
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