Markus Boehme

Weg Heim

Ich merke erst jetzt, wie dringend ich diese Wohnung, die ich nun hinter mir lasse, verlassen musste. Erst jetzt wird mir bewusst, wie kurz ich davor stand, mich übergeben zu müssen. Zuviel getrunken. Natürlich. Und dann noch mehrere Stunden nahezu unbewegt an der selben Stelle gesessen. Geraucht. Wie fast alle anderen Anwesenden auch. Eine nette kleine Feier im engen Kreis mit netten Leuten. Eine sehr ruhige Feier, in deren Verlauf ich nichts weiter tat als ein wenig reden und eben zu trinken und zu rauchen. Als ich mich verabschiedete, dachte ich, ich täte es aus Müdigkeit. Doch diese ist nun schlagartig von mir gewichen. Hier draußen empfängt mich eine laue, klare Nacht, die mir zugleich bewusst macht, dass ich selbst nicht mehr so klar bin. Und dies geht einher mit dem Empfinden der Übelkeit.
Ich bin nur wenige Schritte aus dem Hauseingang getreten, und muss doch schon wieder stehen bleiben. Mich irgendwo festhalten. Durchatmen. Die Augen schließen. Jawohl, eindeutig, ein Fall leichter Trunkenheit. Doch schwer genug, mir übel schmeckende Magensäure in den Mund zu pumpen. Tief durchatmen. Besser? Ein wenig. Gut.
Mit dem Auto nach Hause zu fahren, sollte ich besser bleiben lassen. Eine Bahn fährt nicht mehr. Und selbst wenn, schon der Gedanke, mich in ein solches ruckelndes Gefährt zu begeben, stößt mich ab. Das Gefühl des Bewegt-Werdens dürfte mir in meinem derzeitigen Zustand nicht allzu gut tun. Auch nicht das viel zu grelle gelbe Licht. Auch nicht der dezent schale Geruch der Menschenmassen, die sich mit diesem Transportmittel den ganzen Tag haben bewegen lassen. Nein, dann doch lieber laufen. Zwar kann ich die Strecke nicht wirklich abschätzen, aber länger als eine Stunde dürfte ich wohl nicht unterwegs sein. Vorausgesetzt, ich beherrsche meine Laufwerkzeuge einigermaßen sicher. OK, ich sollte das testen. Langsam loslaufen. Bis vor zum Tor. OK, geschafft. Es geht. Gar nicht mal so schlecht. Tor auf. Hindurchgehen. Tor schließen. Gut. Nach rechts wenden. Loslaufen.
Mein Weg führt an einer einigermaßen großen Straße entlang, dass heißt, sie ist gut beleuchtet. Nicht so stark, dass mir das Licht unangenehm wird, aber doch stark genug, die Nacht ein wenig zurückzudrängen. Selbst mir selbst wage ich es kaum einzugestehen, doch das mulmige Gefühl in meiner Magengegend, nicht nur vom Alkohol hervorgerufen, spricht eine deutliche Sprache. Allein. Mitten in der Nacht. In einer Großstadt. Wer weiß, wem man da begegnet. Ob man möchte, oder nicht. Wer sonst, wenn nicht irgendwelche zwielichtigen Gestalten, könnten sich jetzt noch hier draußen herumtreiben? Keine Ahnung, ich will auf jeden Fall niemandem begegnen. Das wäre besser.
Es ist, wie ich es mir gedacht, wie ich es gehofft, hatte. Nirgendwo ein Mensch zu sehen. Die Fenster der Häuserfronten sind durchweg dunkel. Nicht einmal vereinzelte Autos sind unterwegs. Da es hier draußen nichts zu beobachten gibt, beginne ich, mich selbst zu beobachten. Bemerke, wie all meine Sinne auf Hochtouren laufen. Die Augen, wie sie unstet, fast hastig die Umgebung sondieren. Nichts bemerken, das zu bemerken lohnt. Das lohnt, an mein Gehirn weitergeleitet zu werden. Meine Schritte hallen überlaut, die Schuhe knarren leicht. Wenn ich über Kies laufe, erzeugt dies das eigenartig organische Geräusch aufeinanderreibender Steine. Ein viel zu warmer Ton, den man so nur wahrnimmt, wenn dies das lauteste, das aufdringlichste, Geräusch bleibt. Der einzige Ton, der nicht von mir selbst verursacht wird, ist das Summen von Elektrizität. Ein subtiler Brummton, der manchmal plötzlich und dann völlig unrhythmisch kollabiert. Sonst nichts. Ich habe das Gefühl, der allerletzte Mensch auf der Welt zu sein. Schon öfters habe ich versucht, mir das vorzustellen. Plötzlich sind alle Menschen vom Antlitz der Erde verschwunden, und nur ihre Errungenschaften zeugen noch davon, dass es diese Spezies, überhaupt so etwas wie Leben, einmal gegeben hat. Und ich wurde vergessen. Oder auserwählt. Wie man?s sehen will. Auserwählt, über diesen Platz zu wachen, ohne zu wissen, zu welchem Zweck.
So, jetzt noch nach links. Das ist die letzte Abzweigung, die ich nehmen muss. Dies ist meine Straße. In einigen hundert Metern Entfernung steht mein Haus. Ich werde froh sein, wenn ich es erreicht habe. Dies ist eine kleinere Straße als jene, auf der ich den bisherigen Weg zurückgelegt habe. Die Fahrbahn selbst ist natürlich noch genauso breit wie bisher, doch die Bürgersteige, die sie an beiden Seiten flankiert, sind schmaler. Die Häuserfronten rücken näher zusammen. Die Lampen auseinander. Hier wird es ein wenig dunkler, was nicht bedeuten soll, dass man weniger sieht. Als ob es bisher was zu sehen gegeben hätte. Der Fußweg selbst ist nun gepflastert und ich stelle etwas überrascht fest, dass mir dieses neue Gehgefühl gefällt. Vorerst. Das minutenlange monotone Dahinstapfen auf nahezu unveränderlichem Boden ist mir irgendwie in die Gelenke gefahren. Noch ein Grund mehr, mich auf Zuhause zu freuen. Einen kleinen Nachtimbiss. Auf mein Bett. Nun ist es eindeutig Müdigkeit und nicht mehr Trunkenheit, die an meinen Lidern zerrt.
Hier, in dieser Seitenstraße, die ich zu meinem Zuhause zähle, weht der Nachtwind etwas stärker. Er ist schwer und schon ein wenig feucht. Äußerlich noch warm, doch in seinem Inneren vermag ich, die erste Kälte des sich ankündigenden Herbstes zu spüren. Herbst. Schon wieder. Mit dem Sommer habe ich nichts anzufangen gewusst. Aber ich habe nicht gelitten. Nicht gefroren. Schon jetzt hält sich die Melancholie in Reichweite. Fast in Reichweite. Auf der Lauer. Sie kommt stets mit der Kälte. Stets verdamme ich sie. Und stets begrüße ich sie, trotzdem. Denn sie ist wahrhaftig. Wahrhaftiger als diese Häuser hier. Die eine einzige Kulisse bilden. Die Kulisse für mein Leben. Mein Leben. Das ich darstelle. Inszeniere. Wer schaut zu?
Unwillkürlich wende ich mich um. Wer schaut zu? Ich kann niemanden hinter mir entdecken. Niemand schaut. Niemand sieht, wie ich das Eingangstor zu dem Haus, in dem ich wohne, aufschließe. Es geht auch niemanden was an, denke ich zynisch.
Es sieht mir auch niemand zu, wie ich die Haustür öffne. Dann die Wohnungstür. Niemand. Ohne Licht gehe ich in mein Schlafzimmer. Ich kenne all die Umrisse, die sich unscharf in der Dunkelheit abzeichnen. Mein Heim. Mir ist, als bewegte ich mich in meinem Innersten. Ich schaue in das Zimmer und schaue damit auch in mich selbst. Mein Altar, den ich für meine Individualität erbaut habe.
Ich kenne auch den Geruch. So gut, dass ich ihn kaum noch wahrnehme. Nur in besonders wachen Augenblicken. So wie jetzt. Langsam entkleide ich mich, finde zielsicher den Stuhl, um T-Shirt, Hose und auch den Rest abzulegen. Dann bleibe ich unschlüssig einige Sekunden vor dem CD-Regal stehen. Entnehme ihm schließlich eine CD. Ich brauche kein Licht, um zu wissen, nach welcher ich gegriffen habe. Ich brauche Musik zum einschlafen. Ich kann die laute Stille nicht ertragen. Das Rauschen meiner Gedanken, die mich bis weit in den Morgen wach halten würden.
Jetzt kann ich mich ins Bett legen. Mich unter der Decke zusammenrollen.
Auch hier ist niemand.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 21.09.2003. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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