Wolfgang Küssner

Für die Insel - 1. Teil

Davon verstünde er/sie nichts, war häufig die ehrliche Antwort, der Kommentar, wenn es im Gespräch um klassische Musik ging. Folglich wurde Klassik auch nicht gehört. Und meine sich logischerweise anschließende Frage, was er/sie denn von sogenannter populärer Musik verstehen würde, da sich mein Gegenüber bereits als Hörer:in geoutet hatte, führte zu einem nüchternen: Wieso? Die Musik könne man doch einfach hören. Richtig. Das trifft allerdings auch für Klassik zu. Wozu also die selbsterrichtete Hürde? Nehmen wir sie, setzen wir zum kleinen Sprung an und entdecken eine große, neue Welt der Musik.

Leopold Stokowski (engl.-amerikanischer Dirigent, polnischer Vater, schottische Mutter) sei hier erwähnt: Es ist nicht erforderlich, Musik zu verstehen, man braucht sie nur zu genießen. Und von Leonard Bernstein (amerik. Dirigent und Komponist so bekannter Werke wie On The Town, West Side Story und Candide) das ergänzende Zitat: Es gibt keine leichte oder schwere Musik, sondern nur gute oder schlechte. Aus berufenerem Munde kann man das Hindernis zur Klassik kaum besser geebnet bekommen.

Doch was ist nun Klassik? Bei Wikipedia ist zu lesen: In einem engen musikwissenschaftlichen Sinn werden unter Klassik im deutschen Sprachraum die vorherrschenden europäischen Stile der Kunstmusik von etwa 1730 bis 1830 verstanden. In einem weiteren, umgangssprachlichen Sinn werden Klassik oder klassische Musik als Bezeichnungen für die gesamte Tradition der europäischen Kunstmusik gebraucht. Damit ist außereuropäische Musik aber noch lange keine Folklore. Und Begriffe wie U-Musik (Unterhaltung) und E-Musik (Ernste) bzw. leichte und schwere, populäre und etwa unpopuläre (?) Musik sollten wir – an Leonoard Bernstein denkend – ganz einfach vergessen, vor der Hürde zurücklassen.

Um die gespenstische Atmosphäre, das Geknatter der frühen Filmprojektoren zur Stummfilmzeit in den Lichtspielhäusern zu überbrücken, wurden zunächst Pianisten, später sogar ganze Orchester (die Salonorchester sind z.B. so entstanden) zur Musikuntermalung eingesetzt. Nun flimmmerten nicht nur Bilder über die Leinwand, diese wurden vertieft, emotionalisiert, interpretiert, spannender. Klassische Komponisten wie Eisler, Schostakowitsch, Saint-Saens, Honegger, Milhaud arbeiteten sehr früh für das Kino. Die Entwicklung ging weiter; bis hin zu Spiel mir das Lied vom Tod (1968), dort wurde der Film nach der Musik von Morricone gedreht. Doch das wäre jetzt eine andere Geschichte.

Was hat das nun mit klassischer Musik zu tun? Vermutlich sind nicht alle Leser:innen klassikkundig. Eine Hilfestellung sei angeboten. Die Klassik ist teilweise so etwas wie Musik ohne Film. Wir hören und unser Gehirn fantasiert die Bilder. Bei  Die vier Jahreszeiten von Vivaldi, bei Saint-Saens Karneval der Tiere, Smetanas Mein Vaterland, bei Mussorgskys Bilder einer Ausstellung oder bei Eine Alpensinfonie von Richard Strauß ist das relativ einfach, leicht nachvollziehbar. Und bei anderen Werken wird es etwas abstrakter, erschließt sich einem die Musik vielleicht nicht gleich beim ersten Hören. Bekanntlich ist Musik immer auch eine Frage ganz persönlicher Stimmung.

Leser:innen werden das Spiel kennen. Man soll eine gewisse Zeit auf einer einsamen Insel verbringen, darf nur ganz wenig Gepäck mitnehmen. Welche musikalischen Lieblingsstücke würden dazugehören? Ich greife diese Spielidee auf. Packe also meine Tasche. Leser:innen bekommen eventuell ein paar Anregungen oder fühlen sich bestätigt. Früher musste 180g schweres Vinyl ins Gepäck passen. Angekommen, fand man vor Ort keinen Plattenspieler. Die MusiCassetten waren eine Erleichterung, aber sperrig und unpraktisch. Heute, durch Komprimierung, Digitalisierung, Internet ist das alles keine Gewichtsfrage mehr. Riesige Dateien könnten mit auf die Reise gehen. Eine Grenze müsste, für ein Spiel wie dieses, vielleicht bei einem MB (Megabyte) gezogen werden. Doch bleiben wir beim alten Spiel. Ich versuche eine Auswahl zu treffen. Kein leichtes Unterfangen in anbetracht der doch so vielen schönen, wunderbaren, faszinierenden, im besten Sinne gefälligen, Kompositionen. Meine jetzige Befürchtung, ich werde ein weiteres mal auf die Insel reisen müssen. Hier aber zunächst mein kleines Wunschkonzert:

Zur Bühnenfassung des Dramas Peer Gynt von Henrik Ibsen komponierte sein norwegischer Landsmann Edward Grieg die Musik. Ist Peer Gynt kein Sympathieträger, das Stück mit dem Titel Morgenstimmung ist es auf jeden Fall. Das morgendliche Aufstehen kann kaum schöner sein. Es ist einen Versuch wert. Erste Klänge, Vorhang auf, goldene Sonnenstrahlen.....

Vom tschechischen Komponisten Bedřich Smetana ist eine sinfonische Dichtung mit dem Titel Mein Vaterland überliefert. Eines der sechs Stücke trägt den Namen Die Moldau. Es bringt einen kleinen Fluss zum klingen, der sich seinen Weg von der Quelle, als kleines Rinnsal über Steine, kräftiger werdend und  Hindernisse nehmend, bahnt, um als  großer, majestätischer Fluss Prag zu grüßen und zu durchqueren.

Bei Bilder einer Ausstellung des russischen Komponisten Modest Mussorgsky entsteht schnell der Eindruck, sich auf dem Rundgang durch eine Galerie zu befinden. Bitte unbedingt vor dem zweiten Bild mit dem Titel Das alte Schloss verweilen und schauen, äh, jetzt natürlich - hören.

Vier kurze Violinkonzerte des Italieners Antonio Vivaldi stecken hinter dem Titel Die vier Jahreszeiten, dem wohl bekanntesten Werk des Komponisten. Interessierte bekommen klirrende Kälte, Gewitter, Schlittenfahrt, Sturm, Bauerntanz und vieles mehr geboten. Empfehlung: Der Winter. Hat auf der einsamen Insel unter südlicher Sonne vielleicht sogar eine abkühlende Wirkung.

In Bonn 1770 geboren. Hinterlassenschaft ca. 240 klassische Werke. Darunter 9 Sinfonien, 5 Klavierkonzerte, eine Oper. Sein Name: Ludwig van Beethoven. In meinem Reisegepäck die Sinfonie Nr. 6 Pastorale (abgeleitet von Pastor, meint Hirte, ländlich, friedvoll). Das sollten Hörer:innen unbedingt genießen: Den  2. Satz mit dem Titel Szene am Bach. Tempovorgabe vom Schöpfer: Andante molte moto (meint ruhig, stark bewegt).

Vom polnischen Komponisten Henryk Gorecki nehme ich die Sinfonie Nr. 3, auch als Sinfonie der Klagelieder bekannt, sein erfolgreichstes Werk, mit ins Gepäck. Mir hat es besonders der 2. Satz angetan, das von einer Sopranstimme vorgetragene Gebet an der Wand einer Zelle im Gestapo-Hauptquartier. Das geht unter die Haut. Doch: Vorsicht in depressiven Phasen.

Die folgende Musik wirkt auch in den Beinen. Der in New Orleans geborene Louis Moreau Gottschalk (1829-1869), auch Chopin der Karibik tituliert, ist vielen vermutlich unbekannt. Etliche kurze Stücke für Klavier kommen aus seiner Feder. Aber auch Sinfonisches, wie beispielsweise A Night in the Tropics. Als Appetithappen: Danza (aus dem Album Piano Music Vol. 1 – Philip Martin als Pianist). Hörer:innen werden nach mehr verlangen.

Urspünglich waren es Werke für 4 Hände am Klavier, die der in Hamburg geborene Johannes Brahms, mit folkloristischen Einflüssen aus Ungarn, komponierte. Orchester-Arragements folgten recht schnell und werden heute meistens gespielt. Titel: Ungarische Tänze Nr. 1-21. Da die einzelnen Stücke relativ kurz sind, gleich zwei Empfehlungen: Tanz Nr. 5 und Nr. 6.  

Eine weitere Aufforderung zum Tanz. Konkret: Walzer. Um ganz genau zu sein: Walzer Nr. 2 aus der Suite Nr. 2 von – der Name wurde bereits genannt – Dmitri Schostakowitsch (1906-1975). Russischer Komponist. Aus der Suite für Varieté-Orchester. Ein Muss. Bitte nicht mit der Suite für Jazz-Orchester Nr. 2 verwechseln.

Der Autor dieser Zeilen wurde auf den Vornamen Wolfgang getauft. Das Geburtshaus lag an der Mozartstraße. Vielleicht ist mir dieser Komponist deshalb etwas naheliegender, vertrauter als andere. Seine Werke sind absolut überzeugend. Wie zum Beispiel Eine kleine Nachtmusik, eigentlich Serenade Nr. 13 für Streicher in G-Dur KV 525 von Wolfgang Amadeus Mozart. Keineswegs zum Schlafen gedacht. Der erste Satz ist viel zu lebhaft. Die Romanze (2. Satz, Andante, also langsam) ist deutlich ruhiger. Es ist eine abendliche Musik. Zum Chillen.

In Halle an der Saale wurde 1685 Georg Friedrich Händel geboren. Einer der großen deutschen Komponisten des Barock. 42 Opern, 25 Oratorien und etliches mehr. Ein kleines Musikstück von ihm an dieser Stelle. Die Suite Sarabande in d-Moll HWV 437. Je nach Geschmack als Stück für Cembalo, Klavier oder auch Orchester zu hören. Meine Empfehlung wäre die etwas kräftigere Orchesterversion. Ohrwurmgefahr.

Der in Wien gebürtige Franz Schubert wurde nur 31Jahre alt. Er zählt unbestritten zu den größten Komponisten der frühen Romantik. Er hat etwa 600 Lieder vertont, darunter Winterreise, Die schöne Müllerin, Schwanengesang, Das Forellen-Quintett und vieles mehr. Ein weniger bekanntes Stück befindet sich in meinem Gepäck: Divertissiment à la hongroise D. 818 für zwei Klaviere. Mein Vorschlag: Dritter Satz – Allegretto (ein wenig lebhaft).

BACH ist Anfang und Ende aller Musik (Max Reger). Er war Gottes musikalisches Gehirn (Laurence Cummings). Das Werkeverzeichnis (BWV) von Johann Sebastian Bach umfasst etwa 1100 Kompositionen. Und ich habe mir vorgenommen, diesen Musiktitel mit auf die Insel zu nehmen: Toccata und Fuge BWV 565. Als Orgelversion sicherlich bekannt. Hier eine Orchesterfassung mit Kurt Redel und dem Munich Pro Arte Chamber Orchestra.

Von München nach Bayreuth ist es fast ein Katzensprung. In der Musikwelt ist der Name Bayreuth eng mit Richard Wagner verbunden. Von ihm gibt es eine sinfonische Dichtung für Kammerorchester mit dem wunderschönen, sehr leicht zu merkenden Titel Tribschener Idyll mit Fidi-Vogelgesang und Orange-Sonnenaufgang, als Symphonischer Geburtstagsgruß. Seiner Cosima dargebracht von ihrem Richard. Muss aber nicht auswendig gelernt werden. Die Kurzform lautet Siegfried-Idyll. 1870 heimlich komponiert. Sollte ja eine Überraschung sein. Von Wagner ist man eigentlich voluminöseres in puncto Orchester gewohnt. Dennoch ein recht hörenswerter Geburtstagsgruß.

Ein volles Sinfonie-Orchester erfordert die Sinfonie Nr. 1 c-Moll op. 68 von Johannes Brahms, 1862 begonnen, doch erst 1876 uraufgeführt. Laut Brahms empfahl sich das Werk nicht durch Liebenswürdigkeit. Von karger Ernsthaftigkeit war bei Kritikern zu lesen. Der 4. Satz ist in seiner Form einzigartig für Brahms Schaffen und in der sinfonischen Literatur. Die hymnusartigen Klänge sind ohrwurmverdächtig. Sehr empfehlenswert.

An dieser Stelle eine minimalistische Komposition von John Adams (geboren 1947 in Worchester, Massachusetts), ein Zeitgenosse also. Grand Pianola Music (von 1982) der Titel. Daraus in meinem Gepäck der Part 3 On the great Divide. Ich gebrauche den Begriff gern noch einmal: hymnisch. Nur Mut. 

Eines der weltweit populärsten Stücke der klassischen Musik ist die Sinfonie Nr. 9 d-Moll op. 125 von Ludwig van Beethoven. Die letzte vollendete Sinfonie des Komponisten, mit großem Orchester, Chor, Gesangssolisten und dem Text aus Schillers Ode an die Freude im 4. Satz. Alle Menschen werden Brüder... Gesamtdeutsche Olymiamannschaften traten zu diesen Klängen an; zeitweise Ersatz-Hymne Westdeutschlands; seit 1972 offizielle Hymne des Europarates. Ein Muss.

Aus Estland stammt Arvo Pärt. 1935 erblickte er dort das Licht der Welt. Sehr filigrane Klänge habe ich von ihm dabei. Eine schöne, bezaubernde, Komposition für Klavier und Violine von 1978. Spiegel im Spiegel. Ich lernte dieses Musikstück durch das Ballett Othello von John Neumeier kennen; eingesetzt, um das Pas-de-Deux der Liebenden, Desdemona und Othello, zu untermalen. Grandios. Eine der wohl schönsten musikalischen Liebeserklärungen. Himmlisch. Und das auf Erden.

Vor der oben erwähnten zweiten Reise zunächst der Hinweis: Fortsetzung folgt.

 

PS:

Geneigte Leser:innen hätten nun in der Zwischenzeit die Möglichkeit, auf YouTube oder bei anderen Anbietern die genannten Musiktitel zu hören, zu entdecken, für das eigene Gepäck vorzumerken. Vielleicht liegen unsere Wunschtitel ja gar nicht soweit auseinander.

August 2020

© 2020

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 25.08.2020. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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