Lena Kelm

Achtlos

Sie sind nicht mehr wegzudenken aus dem Stadtbild, denke ich beim Überqueren der Hauptstraße meines Kiezes: Die Männer in den dreckigen, speckigen, abgewetzten, undefinierbaren Sachen, als Kleidung kann ich die Fetzen nicht bezeichnen. Genauso schlimm sehen die Matratzen unter den Männern aus und die schmutzigen Lumpen, die ihnen als Decken dienen. Die „polnischen“ Taschen wie sie im Volksmund genannt werden – aus Kunststoff, mit abgerissenen Henkeln, gefüllt mit dem ganzen Hab und Gut der Männer – werden als Kissen benutzt. Nicht, weil es sich darauf weich schlafen lässt und auch nicht, weil sie keine Kissen oder Decken ergattern könnten. Unter dem Kopf, meinen sie, ist ihr Gut vor Diebstahl geschützt.

Ja, ich rede von Obdachlosen, deren Obdach nun das vorstehende Dach der breiten Eingangstür des ehemaligen Kaufhauses C&A ist. Das Gebäude wurde schon zwischen 2015 und 2018 als Flüchtlingsunterkunft genutzt. Die Fassade verlor bereits damals ihren gepflegten Zustand. Bis zu fünf Männer hausen seit zwei bis drei Jahren dort, mit offener Toilette und Müllbergen. Ich bin dem Weinen nah, ohne Übertreibung. Gegenüber steht das historische Gebäude der Post über viele Jahre leer. Die Häuser verfallen, Menschen fallen so tief, dass sie nicht mehr imstande sind, sich aufzurichten. Das Bild ist herzzerreißend und die zunehmende Entwicklung macht mich mehr als traurig.

Die Obdachlosen – ausschließlich Männer, junge und alte, das Leben auf der Straße nivelliert Altersunterschiede – schlafen meist bis zum Mittag. Am Nachmittag, wenn die Anwohner nach der Arbeit einkaufen, sitzen sie in Erwartungsposition. Am späten Abend wird Nachschub geholt und der Tag abgeschlossen. Diesen Ablauf kenne ich, denn ich bin vom Fach, habe mit Obdachlosen in einem Erstaufnahmeheim gearbeitet. Deshalb weiß ich auch, die Männer leiden keinen Hunger, eher Durst zur Befriedigung ihrer Sucht. Das belegen auch die angebissenen Brötchen, Schnecken, Äpfel und anderes Essbares um ihr Straßenlager. Die Passanten schütteln entrüstet die Köpfe, drücken die Nasen zu, rümpfen hilft nicht. An warmen Sommertagen ist der Gestank um das Gebäude unerträglich – ungewaschene Körper, Matratzenlager, Müll und aus den Ecken riecht es nach WC-Becken.

Was eventuell vielen Passanten nicht klar ist – diese Männer gehen in keine Einrichtung, die ihnen zur Verfügung steht, um nicht auf der Straße zu leben. Im DRK-Heim, in dem ich tätig war, waren völlig heruntergekommene Menschen, die auf der Straße aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr leben konnten. Einer der älteren Obdachlosen vor dem C&A-Gebäude fiel mir durch sein verwahrlostes Aussehen besonders auf, er war vom Leben auf der Straße gezeichnet, ich sah seine gegerbte Haut, er war fast zahnlos, hatte offene Beine. Nie habe ich ihn reden gehört, höchstens ein unverständliches Nuscheln.

Irgendwann rückten die Bauarbeiten an der Hauptstraße bis zur Höhe des ehemaligen C&A-Geschäfts vor. Die Obdachlosen mussten weg. Nun sah ich den mir über Jahre vertrauten Straßenbewohner auf der anderen Seite – alleine. Es war kalt. Die anderen waren verschwunden. Er verkroch sich bis zur Nase unter der dreckigen Decke, trotzdem erkannte ich ihn. Er hatte sein Lager – im Untergeschoß der Ladenpassage, gegenüber dem Eingang von Aldi und Rewe – überlegt ausgesucht. Er durfte sein Bierchen-Geld nicht zu verpassen, ein wenig Essen musste er wohl auch. An kalten Wintertagen schlief er in der Eingangshalle. Die Luft war zum Schneiden, aber er wurde nicht verjagt.

- Fortsetzung folgt -

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 17.09.2020. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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