Die Umstände könnten nicht besser sein - ein winziges,
schäbiges Zimmer im vierten Stock eines Altbaus mit Blick in den
Hinterhof, französische Musik, billiger Rotwein und ein vergangenes Jahr
voller Erlebnisse, ein ganzes Leben voller Erlebnisse.
Jetzt müsste
doch der Moment gekommen sein, um den Roman, den Roman, den ich schon seit
Jahren schreiben will, endlich zu beginnen. Aber es kommt nichts. Ich sage
mir, dass ich in der falschen Stadt bin. Ich müsste in Paris sein, um
endlich schreiben zu können.
Dabei haben wir heute sogar
Paris-Wetter - ein klarer, blauer Himmel, die Temperatur etwas über
zwanzig Grad Celsius, ein schöner Spätsommertag oder vielleicht doch
schon einer der ersten Herbsttage? Die Sonne wärmt, im Schatten ist es
leicht kühl.
Der Wetterbericht sagt noch einige schöne Tage
voraus, aber dann wird es Hamburg-Wetter geben – kalt, grau und
Nieselregen. Ich werde die Sonne vermissen, meine Stimmung wird schlechter
werden. Brauche ich vielleicht schlechte Stimmung, um schreiben zu
können?
Dabei bin ich ja in einer latent schlechten Stimmung,
abgelöst von gelegentlichen Hochphasen. Sind das jetzt nun einfache
Stimmungsschwankungen oder bin ich vielleicht manisch-depressiv? Oder bin ich
doch nur ein Hypochonder?
Ich habe eine ziemlich klare
Vorstellung wie ein Schriftstellerleben, mein Schriftstellerleben aussehen
sollte. Ich liege am Boden, alles verloren, ich stehe vor dem Nichts und dann
fange ich an und schreibe und schreibe und schreibe; ich schreibe mir den
ganzen Schmerz, die Wut und den Hass von der Seele. Mein Roman wird ein
Erfolg. Ich werde reich. Ich heirate eine wunderschöne, junge Frau. Wir
haben drei Kinder.
Und dann kommt mein nächstes Problem. Ich hab
alles aus mir herausgeschrieben, aber der Verlag verlangt einen zweiten Roman.
Ich weiß, der zweite Roman wird nicht gut, weil er nicht mehr
authentisch sein wird. Er wird sich aber trotzdem gut verkaufen, weil meine
Leser auf eine ähnlich spannende Geschichte hoffen wie bei meinem
Erstling.
Beim dritten Roman entscheidet sich dann alles. Nachdem ich
meine Leserschaft mit meinem zweiten Roman verärgert habe, muss ich jetzt
liefern. Unter dieser ganzen Last muss ich jetzt versuchen, meinen ersten
Roman zu schreiben.
Der erste Satz ist der schwerste, er muss
sitzen. Wenn ich den Leser nicht mit dem ersten Satz abhole, wird er das ganze
Buch über gegen mich sein; alles kritisch betrachten.
Ich
höre die Kirchglocke. Seit ich dieses eine französische Lied
gehört habe, kann ich den Klang der Kirchenglocke nicht mehr ertragen.
Jeder Schlag bedeutet für mich Tod. Nach einer halben Flasche Wein wird
der Klang erträglicher, nach einer ganzen Flasche höre ich fast
nicht mehr hin. Ich kann mich jedoch nicht ständig betrinken, meine
Leberwerte sind jetzt schon schlecht. Und außerdem muss ich anfangen,
meinen Roman zu schreiben.
„Ich sitze in einem
winzigen, schäbigen Zimmer im vierten Stock eines Altbaus mit Blick in
den Hinterhof, höre französische Musik, trinke billigen Rotwein und
blicke auf ein vergangenes Jahr voller Erlebnisse, ein ganzes Leben voller
Erlebnisse zurück.“ – Ich habe meinen ersten Satz.
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 21.09.2020. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).
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