Dietmar Penkert

In Träumen ist alles möglich


Ich gehe über Wiesen und Täler, über Prärie und Heide. Um mich herum ist üppige Landschaft mit wunderschönen Blumenwiesen oder grünen Hainen, und die zuckerweißen Wolken, die über mir schweben begleiten mich auf meinem Weg. Ich fühle die Freiheit und die Schönheit der pastoralen Gefilde um mich herum mit jeder Faser. Andererseits, es wirkt so phantastisch und unkörperlich, und da wird mir bewußt, daß ich träume.
Ich erlebe diesen Traum aber weiter, obwohl ich weiß, daß ich träume. Wie ungewöhnlich, denke ich mir fröhlich und unbeschwert, denn hier stört mich nicht die Last der Wirklichkeit und des Alltagslebens. So wandere ich weiter und bin selber gespannt, was weiter passiert. An einem kleinen Hügel breite ich die Arme aus und lasse mich nach vorne fallen, weil mir eine Idee kommt. Ich falle nicht, sondern schwebe sanft den Hang hinunter. Ich habe geahnt, daß das funktioniert. Eine phantastische Fähigkeit, und in Träumen ist ja alles möglich.. Ich schwebe auf eine kleine Siedlung von Häuschen und Gärten zu, in denen kleine Zwerge emsig arbeiten. Ich nehme den Duft von Apfelblüten und anderen Blumen wahr. Neben mir sehe ich einen dieser Zwerge in einem riesigen Tulpenkelch schaukeln, und ich muß kichern. Wenn das nur Martin sehen könnte!
„Da bist Du ja, Martin!”, rufe ich, als ich plötzlich meinen besten Freund neben mir stehen sehe. „In Träumen ist alles möglich, nicht wahr?”
„Komm! Wir werden uns mit den anderen treffen!”, verkündet Martin. „Wir haben doch ein Abenteuer vor uns!”
Ich weiß eigentlich gar nicht, was für ein Abenteuer wir vor uns haben, aber ich empfinde das Gefühl, etwas erleben zu müssen. Wie in einem Abenteuerbuch. Etwas, das mich mit Stolz und Begeisterung erfüllt. Und ich bestimme in dem Augenblick selber das Abenteuer, weil es ja mein eigener Traum ist. Oder vielleicht weiß ich einfach nur, was für ein Abenteuer wir erleben werden, meine Freunde und ich.
Da sehe ich schließlich auch andere Freunde von mir. Wir sind alle Helden in einer Fantasywelt. Martin ist Zauberer in dunklen Roben, Andy ist ein großgewachsener Krieger und hat die gleichen langen Haare wie in Wirklichkeit. Und David ist ein stämmiger Zwerg, und ist eigentlich gar nicht mehr David. Ich selber bin ein Ritter aus dem edlen Orden dieses Königreichs, das ich gerade träume.
„Auf zum Wald Hayvendale!”, fordere ich meine Gruppe auf, damit wir unser Abenteuer erleben können.
„Vertreiben wir die Schurken, die das Reich bedrohen!”
Andy bläst in eine Fanfare, und es hört sich wie in einem Ritterfilm an. Irgendwie erklingen auch andere Fanfaren, vielleicht von meinen treuen Gefolgsleuten, die ich allerdings nicht sehe. Doch in Träumen ist ja alles möglich. Es ist einfach Hintergrundmusik.
Dann höre ich die motivierten Beifälle der anderen. Auch einige der kleinen Wichte jubeln uns zu und wünschen viel Glück. Wenige Augenblicke später sind wir in einem prächtigen Wald. Die Nachmittagssonne scheint golden durch das Gehölz.Wir befinden uns vor einer Forteresse. Auf den Türmen stehen Leute. Banditen, maskierte Gestalten aber auch Gesichter, die ich von irgendwo kenne. Mädchen aus der Schule, die das Geschehen beobachten, Leute aus der Nachbarschaft. Dann sehe ich auch meinen Wirtschaftslehrer Linnert, der aber zu den Feinden gehört. Ich weiß, daß wir fast am Kernpunkt des Abenteuers sind. Denn hier sind die Feinde, die Bösen, diejenigen, gegen die wir uns behaupten müssen, um als Helden hervorzugehen. Da sehe ich auch plötzlich die Gestalt ‘Spock’, vom Raumschiff Enterprise, das ich erst am Vortag im Fernsehen geschaut habe. Er hält eine Tasse Kakao in der Hand. Verrückt! Ich weiß nicht, welche Rolle er hat. Vielleicht ein Freund, oder aber auch nur ein kühler Beobachter.
Ein Mädchen aus der Schule betrachtet die Szene. Es ist Daniela, für die ich heimlich schwärme. Aber zusammen mit einigen anderen Mädchen kichert sie über uns. Nein, über mich. Denn ich stelle fest, daß ich keine Schuhe mehr, sondern nur zwei verschiedene Socken trage, was mir einmal in der Schule passierte vor lauter Zerstreutheit und Eile in der Früh. Ich erröte vor Scham und will als Überspielung dieser Peinlichkeit mein edles Schwert ziehen, während ich motivierend rufe: „Auf zum Gefecht, Leute!”. Aber mein Schwert ist auf einmal nur noch mein Kamm. Und die Mädchen kichern weiter.
„Mach lieber deine Hausaufgaben, Du Trottel!”, sagt Linnert, der Wirtschaftslehrer, welcher plötzlich neben mir steht, in seinem grauen Anzug und mit seinem dicken Gesicht. Er reißt mir ein Büschel Haare aus und geht wieder zurück. Dreht sich kühl um, als seien wir überhaupt keine Bedrohung für ihn. Er nimmt mich in keinster Weise ernst.
„Wir werden uns das nicht gefallen lassen!”, rufe ich und meine damit die Gruppe der Feinde, zu denen auch mein Wirtschaftslehrer gehört. Meine Stimme klingt unsicher. Die anderen wirken unmotiviert. Schließlich trennen sie sich von mir, gehen einfach weg. Andy hat statt seiner Rüstung nur normale Kleider an, wie wir alle. Er packt einen Busfahrplan aus seinem Rucksack und sieht etwas nach.
„Ihr dürft nicht weggehen!”, rufe ich verzweifelt meinen Freunden nach. „Wir müssen doch das Abenteuer zu Ende bestehen! Das Königreich retten!”
Mein ganzer Stolz ist dahin, meine ganze Würde ist in Luft aufgelöst. Ich bin nur wieder ein schwacher, unbedeutender Junge, den die Mädchen nicht ernst nehmen und auslachen. Wie in der Schule. Und nun zerstreut sich die Freundesgruppe, meine letzte Hoffnung in diesem Abenteuer. Auch Spock fliegt plötzlich durch die Baumwipfel davon.
„Bleiben Sie hier, Mr. Spock”, will ich ihm bedeutend befehlen.
„Ich muß doch wieder zurück auf die Enterprise!”, ruft er zurück und verschwindet zwischen dem Geäst nach oben. Kleine Zweige und Blätter fallen mir auf das Gesicht, kleine Rindenstückchen in die Augen. Verzweifelt reibe mir die Augen und sehe mich blinzelnd um. Der Turm ist nicht mehr da. Auch der Wald ist jetzt bloß ein normaler kleiner Hain neben dem Schrottplatz in meiner Straße.
„Ihr dürft nicht gehen! Martin, bleib Du doch wenigstens!”, sage ich eindrinlich, aber mein Freund meint nur beiläufig, er müsse noch seine Hausaufgaben machen.
„Bitte bleibt doch hier, das Abenteuer ist sonst aus!”
Die Hintergrundmusik aus Fanfaren und Trompeten, die vorher noch so bedeutungsvoll ertönte, verwandelt sich nun in eine andere eintönige, stumpfe Melodie...

Der Wecker klingelt. Ich erwache aus meinem Traum und verspüre eine tiefe Entäuschung. Zum einen weil es nur ein Traum war, und zum anderen, weil er so ein banales, schlechtes Ende hatte und der Wecker ertönte. Nur ein intensives Nachgefühl bleibt. Es ist Dienstag 6:00 Uhr früh, irgendwann im November. Draußen ist es noch dunkel. Aber ich muß trotzdem in die Schule. Heute ist Klassenarbeit in Mathe.
Ich reibe meine Augen und weiß, daß ich mich gleich aus dem Bett quälen muß. Ein Schmerz irritiert mich. Meine Kopfhaut tut weh, weil der Wirtschaftslehrer mich an den Haaren gezogen hat. Ich fahre mir unbewußt durchs Haar und streiche kleine Ästchen und Blätter heraus, die mir auf den Kopf gerieselt sind.
„In Träumen ist alles möglich”, murmele ich müde vor mich hin, aber lächle fröhlich.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 24.09.2003. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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Über den Tag hinaus zu schauen, heißt für mich, neben dem Alltag, dem normalen Alltäglichen hinaus, Zeit zu finden, um das notwendige Leben mit Gefühlen, Träumen, Hoffnungen, Sehnsüchten, Lieben, das mit Lachen und Lächeln zu beobachten und zu beschreiben. Der Mensch braucht nicht nur Brot allein, er kann ohne seine Träume, Gefühle nicht existieren. Er muss aus Freude und aus Leid weinen können, aber auch aus vollem Herzen lachen können. Jeder sollte neben dem Zwang zur Sicherung der Existenz auch das Recht haben auf romantische Momente in seinem Leben.

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