Tja, wo liegt denn überhaupt Nettetal? Obwohl ich dieses Jahr im Sommer bereits meinen 76. Geburtstag feiere, so Gott, das Schicksal, der bzw. das Coronavirus, sonst irgendjemand oder irgendetwas es zulassen oder wollen, hatte ich von der Stadt Nettetal ehrlich gesagt bis gestern, Dienstag, dem 24.März 2020, noch nie im Leben etwas gehört oder gesehen.
An diesem Tag las ich in der Internetliste 2020 des „Wortmagiers“ zum ersten Mal den Namen der Stadt Nettetal. Die Nettetaler Stadtbücherei hat zusammen mit der dortigen Sparkasse einen literarischen Wettbewerb ausgeschrieben. Auf fünf DIN-A4-Seiten sollen die Teilnehmer(innen) einen Text verfassen. Die Buchstaben müssen die Größe 12, die Zeilen einen Abstand von 1,5 mm besitzen. Der 10. Mai bietet die letzte Teilnahmemöglichkeit. Im Herbst findet in Nettetal die Preisvergabe statt. Eine Jury und das Publikum vergeben 1500 bzw. 500 Euro an die Jury- bzw. Publikumsfavorit(inn)en. Teilnehmen dürfen alle Autor(inn)en, die mindestens 18 Jahre zählen und in NRW leben. Das Thema ist frei wählbar. Ansonsten muss man nur ein papierenes Manuskript per Post unter Wahrung der Anonymität an eine bestimmte Adresse schicken.Von pdf-, dox-, doc-, odt- oder sonstigen Dateien auf USB-Sticks, anderen elektronischen Medien, Powerpoint-Präsentationen oder sonstigen Computermätzchen, die den Wettbewerbsveranstaltern die Arbeit erleichtern und den Autoren erschweren, ist keine Rede. Nur eine kleine Hürde gibt es: Die Einsender(innen) müssen mindestens einmal in einer Anthologie, also einer Geschichten- , Essay- oder Sonstwassammlung, etwas veröffentlicht haben, und das habe ich, in einer Veröffentlichung mit dem Titel: „Das schwere Los der Bienenkönigin zwischen Honigwaben und Imkerterror“ und insgesamt 95 ausgewählten unter insgesamt 3000 Beiträgen. Meine Geschichte war mit über 100 Seiten die bei weitem längste und trug den Titel: „Wie ich einst in acht Stunden mit der wenigsten Arbeit den meisten Honig sammelte“ von Berta Biene, selbstverständlich ein Pseudonym.
Für Anthologien und Gedichtbände schreiben einige Verlage Wettbewerbe aus, die oft nur den drei Siegern ein schmales Honorar einbringt, häufig in Form eines geschenkten Belegbandes. Eine geringe Zahl unterlegener Autor(inn)en gewinnt das Recht, künftig auch bei Wettbewerben mitmachen zu dürfen, bei denen eine Buchveröffentlichung zu den Teilnahmevoraussetzungen zählt und den Ruhm, einen unhonorierten Text publiziert zu haben, an dessen Verkaufserlösen sie niemand beteiligt. Die Mehrheit der hoffnungsvollen Einsender aber erlangt bis auf frustrierende Erfahrungen gar nichts.
Wenn Nettetaler Jury oder Publikum tatsächlich das beste literarische Werk auswählen oder Glück im Spiel ist, gewinnt jemand(in) sowohl den Jury- wie den Publikumspreis. Sie/Er dürfen dann 2000 Euro nach Hause tragen. Ein ordentliches Honorar für 5 Seiten.
Ich möchte nicht mit meinem Wissen strunzen, aber als Experte für literarische Wettbewerbe weiß ich, auch wenn ich ein wenig polemisiere: Manche Wettbewerbsausschreiber(innen) verlangen als Teilnahmevoraussetzung zwei veröffentlichte Romane und mindestens 50000 verkaufte Exemplare, einen davon wenigsten einmal auf Platz zehn der Spiegelbestsellerliste, und ein eingereichtes Manuskript, das drei Kilo wiegt. Der erste Preis besteht dann mit Glück aus dem freien Eintritt in die Vergabezeremonie und einer Zugfahrkarte zweiter Klasse zum Ort der Preisvergabe, manchmal nur aus dem Bahnbillet.
Die Einsendevorschriften sind wegen Elektronifizierung und anderer Firlefanzereien meist reichlich und umständlich. Die Veranstalter(innen) verlangen inhaltlich und formal perfekte Vorlagen, die keinen lektoralen Aufwand erfordern. Ich frage mich, wie sie wohl nachts handschriftlich zusammengeschmierte, zigfach korrigierte, durchgestrichene, umgeänderte, mit Kaffeeflecken verzierte Manuskripte genialer Autoren wie jene Balzacs in gedruckte Kleinode für Bibliophile verwandeln würden? Bei E-Book-Verlagen wie Amazon und Kindle muss der Autor selbst Titelblatt, Klappentext, Buchrückseite und vieles andere mehr konzipieren, damit dann die Leser des Kindle-Clubs das unter schweren Mühen erstellte Buch gänzlich umsonst, also völlig ertragsfrei für die/den Schreiber(in), lesen können. Das ebenfalls verfügbare Taschenbuch, bei den gleichen Buchvermarktern zu einem vernünftigen Preis von ca. 15 Euro bei 300 bis 500 Seiten und einem angemessenen Autorenhonorar erhältlich, kaufen natürlich nur unverbesserliche Altruisten mit Herz für arme Poeten. Nun ja, Schriftsteller verfolgen meist höhere Ziele: Welt, Menschen und noch vieles andere verbessern, mit denen die Öffentlichkeit und erst recht viele Verlage keineswegs den Grundsatz verbinden: „Erst kommt das Fressen und dann die Moral!“, sondern eher die uralte Volksweisheit: „Kühles Wasser, trockenes Brot, Wangen rot!“
Ich zum Beispiel war, sobald ich am Ende meines zweiten Schuljahres einigermaßen lesen konnte, bis heute immer eine leidenschaftliche Leseratte, dank vieler Leihbücher der Bibliothek unseres Dorfes am südlichen Rand des Ruhrgebietes: Robinson Crusoe, Die Schatzinsel, Entführt, Moby Dick, Tom Sawyer und Huckleberry Finn, Frühling, Sommer, Herbst und Winter im Försterhaus, Gepäckschein 666 undundund. Zwei Grundschullehrer legten diese und jede Menge sonstiger Schriften an Mittwochnachmittagen für vier Stunden in einem großen Klassenraum aus und verliehen sie für fünfzig Pfennig an lesewütige Dorfintellektuell(innen)e. Viele Tageszeitungen und Zeitschriften, der unterschiedlichsten Art, etwa Rasselbande und Hobby, weckten gleichfalls schon früh meine Neugier. Auch dank zahlreicher Comics entwickelte ich mich bald zum Lesesüchtigen: Tarzan, Mickymaus, Sigurd, Prinz Eisenherz, Tom Mix, Tom und Jerry, Hoppalong Cassidy usw. Ebenso erweiterten die unterschiedlichsten „Schundhefte“, z.B.: Billy Jenkins, Pete, Tom Prox, Jerry Cotton und ihre Gegenmodelle, die Contrahefte mit pädagogischem Anspruch, meinen Lesehorizont. Mit ihnen versuchte eine um das Bildungsniveau ihres jüngsten Sprösslings höchst besorgte Mutter dessen chaotisches Leseverhalten zu zivilisieren. Statt wie Dick Hanson in zahllosen Billy Jenkins Heften jeden Morgen zum Frühstück zwanzig Spiegeleier zu vertilgen und während der folgenden Schlägerei in Slims schmierigem Saloon das Mobiliar in Kleinholz zu verwandeln und mindesten 50 Revolverhelden durch die Fenster zielsicher in aufspritzende Pferdetränken zu schleudern, patrouillierte im Contraheft ein tapferer deutscher Förster, der niemals Whisky trank und selbst zu Ostern keine zwanzig Spiegeleier verzehrte, auf der Suche nach blutgierigen und tierquälerischen Wilddieben durch den grünen deutschen Wald.
Ich selbst durchquerte des öfteren mit Robinson Crusoe und seinem Diener Freitag ein abgelegenes Eiland voller Menschenfresser, sang auf einem Piratenschiff mit Kurs Schatzinsel unter vollen Segeln das Lied von den sieben Männern auf des toten Manns Kiste mit der Buddel voll Rum, schaute voller Freude zu, als der Menschenschinder Captain Bligh endlich im Beiboot von der „Bounty“ ablegte und verteilte mit Tom Sawyer an fleißige Jungmaler gegen angemessene Gaben, bunte Steine, Zwirnsfäden, Äpfel oder Birnen, das Recht, Tante Pollys Zaun weiß anzustreichen.
Zudem hatte mir meine Oma zum 8. Geburtstag eine Auswahl der Geschichten aus tausend und einer Nacht geschenkt. So waren mir Sindbad der Seefahrer, Ali Baba und die vierzig Räuber, Prinz Achmed und die Fee Peri Banu, Aladin und die Wunderlampe, das fliegende Pferd, die schöne Scheherazade samt dem Sultan und die goldene Stadt Bagdad schon in früher Kindheit vertraut.
Dass ich bis heute fast alle Kontinente, nur Australien noch nicht, bereist habe, hat sicher auch mit meiner Leseleidenschaft zu tun, und eigentlich brauche ich gar nicht mehr nach Australien, denn dort habe ich auf den Seiten des Jugendbuches „Minnewitt und Knisterbusch“ mit den beiden Titelhelden mehr Schafe geschoren als auf den Deichen der deutschen Nordseeküste das Gras mähen.
Ich hätte immer auch selbst sehr gerne spannende, unterhaltsame, lehrreiche Bücher und Geschichten geschrieben, aber was sprachen da meine gleichaltrigen Freunde, erwachsene Verwandte und Bekannte? „Nänä, bloß das nicht! Schriftsteller, alles brotlose Künstler, seltsame Heilige und Traumtänzer auf Seilen ohne Auffangnetze für den materiellen Notfall.“
„Aber Bücher, Geschichten oder Gedichte schreiben, die ich nicht aus der Hand legen kann, ohne sie zuende gelesen zu haben, wie W.S Maughams: 'Silbermond und Kupfermünze', Emily Brontes: 'Jane Eyre', Sinclair Lewis': 'Dr. med Arrowsmith', Jack Londons: 'Der Seewolf', Heinrich Manns: 'Der Untertan', Raymond Chandlers: 'Der lange Abschied', Thornton Wilders: 'Die Brücke von San Luis Rey', Paul Bowles' Geschichte: 'Sylvie Ann, der Boogie Mann', Theodor Storms Erzählung: 'Immensee', Matthias Claudius' Gedicht: 'Die Sternseherin Liese', Goethes: 'Prometheus' oder Schillers: 'Bürgschaft' ! Nichts wollte ich lieber!
Solche verbalen Diamanten: 'Sie war eine Blondine, für die jeder Kardinal seine Kathedrale in die Luft gesprengt hätte.' 'Abschied nehmen heißt ein Bisschen sterben.' 'Er besaß eine Visage, die aussah, als wäre darin gerade der Nachtexpress New York-Chikago entgleist.' 'Nur diese Stunde bist du noch mein! Sterben, ach sterben, soll ich allein!' 'Hier sitze ich und mache Menschen, zu lachen, zu weinen und zu freuen sich. Und Dein nicht zu achten wie ich.' 'Da ist ein Land der Lebenden und da ist ein Land der Toten. Und die Brücke zwischen beiden ist die Liebe, das einzig Bleibende, der einzige Sinn.' Ach, könnte ich doch nur so etwas schreiben! Meine Seele würde ich dem Teufel dafür schenken, wohl gemerkt, schenken!“
Allerdings wünschte ich mir nicht nur, derartige literarische Edelsteine zu fabrizieren, sondern zukünftig auch mit leckeren Speisen gefüllte Teller, eine gemütliche Wohnung, genügend Geld für Reisen, eine angenehme Tätigkeit ohne allzuviel Arbeit, und keineswegs: „Wasser und Brot, Wangen rot!“ Um nicht als armer Poet zu enden, beschloss ich bereits früh, den Beruf mit der meisten freien Zeit, einem ansehnlichen Gehalt und sinnvoller Tätigkeit zu ergreifen, also Lehrer zu werden. Und so unterrichtete ich denn an einer Dorfgrundschule und schied am Ende als Rektor aus. Das Schriftstellern verschob ich auf die Ferien, meine reichlich bemessene freie Zeit und auf die Jahre nach meiner Pensionierung.
Jetzt, fast 74 Jahre alt, habe ich drei Romane: „Altnazis und Antisemiten, eine Kindheit“, „Das Paradies, eine religionsfreie Zone“, „Liebe, oder was die Welt im Innersten zusammenhält“, zwei Dramen: „Mund voll Erde“, „Regenpitschige Wolkenhappen“, sowie mehr als 100 Gedichte und Kurzgeschichten, u.a.: „Kriegsdienstverweigerer Egon Sanft bringt Stuffz. Brüll zum Weinen“, „Der unaufhaltsame Aufstieg des Studienreferendars Albert Querfuß zum stellvertretenden Leiter der Schulaufsichtsbehörde Münster“, verfasst, insgesamt ca. 3000 Din-A4-Seiten, also ein durchaus ansehnliches Gesamtwerk.Wie viel Arbeit und Zeit seine Produktion erforderte, weiß nur, wer Ähnliches geschaffen hat, besteht es auch nur aus Buchstabenquantität bei vollkommen abwesender inhaltlicher Qualität, was jedoch in dieser Totalität kaum möglich ist.
Nun, ich halte es mit Goethe und seiner Ansicht: „Nur die Lumpe sind bescheiden, Brave freuen sich der Tat!“ und weiß ganz genau: „Meine Hauptwerke sind auf alle Fälle besser als die Hälfte alles dessen, was die Menschen bisher schriftlich zu Stande brachten.“
Und trotzdem, trotzdem fehlt mir bisher jeder durchschlagende Erfolg. Ja, ja, die anthologische Bienenkönigin! Und vor 25 Jahren ein gewonnener Gedichtwettbewerb! Erster unter 950 Lyrikern! Sogar ein angemessenes Honorar von 1100 DM für die realistische Beschreibung eines Tages im Leben des erfolglosen Dichters Ödipus Lustig! Er versucht zum tausendsten Mal, seinen Verleger Willnicht vom Wert der 200 Gedichte in dem illustrierten Poesieband „Etudes Lyriques“, „Lyrische Studien“, zu überzeugen, aber vergeblich wie bisher immer.
Nun, Ausschreiberin des Wettbewerbs war kein Verlag, sondern eine Vereinigung zur Förderung
literarischen Schaffens. Derartige Gruppierungen mit Namen „Sodalitas literaria Rhenana“, „Rheinische literarische Gesellschaft“, oder „Sodalitas Danubiana“, „Donau-Gesellschaft“, gab es bereits in der Renaissance. Mitglieder waren Fachleute mit literarischem Urteilsvermögen!
Aber meine Bekannten, Freunde und Verwandte! Darunter Ganghofer-, Pilcher- und Sturm der Liebe -Verehrer(innen): „Deine Sätze sind viel zu umständlich! Insgesamt alles viel zu langatmig! Das wirst du im Leben nicht los! Wer will das denn schon lesen? Total altmodisch! Nicht am Puls des Zeitgeistes?“ Seit wann besitzt der einen Blutkreislauf?
Und in den Vorworten vieler Bücher lese ich lauter Autorendank für warmherzige, verständnisvolle Probeleser, großzüge finanzielle Förderer, tatkräftige und wortmächtige Unterstützer!
Immerhin haben drei meiner Verwandten meine Gedichte gelobt, zwei jeweils ein spezielles Gedicht und eine Verwandte sogar meine Verse insgesamt. Das ist ja auch schon was.
Aber generell halten mich Verwandte, Freunde und Bekannte für alles Mögliche, eingeschlossen ein armes Dorfschulmeisterlein, aber nicht für einen Schriftsteller, für vollkommen verblödet - wie anscheinend einige Verlagsvertreter(innen) und Literaturagen(tinn)en - allerdings auch nicht.
Aus meiner Erfahrung mit Literaturagenturen und Verlagen glaube ich schließen zu können: In kaum einem anderen Wirtschaftszweig gibt es so viele Bauernfänger wie im Bereich des Buchwesens.
Vor allem der Versicherung: „Ihr Buch passt hervorragend in unser Verlagsprogramm!“, die jede(r) Autor(in) am liebsten hört, sollten hoffnungsvolle Jung- oder Altschriftsteller(innen) in der Regel keinen Glauben schenken. Sie dient der Geschäftsanbahnung mit Neuling(inn)en und Trottel(inne)n auf Kosten dieser Naivling(innen)e. Häufig verschicken gerade die unseriösesten Verlage und Agenten das aufgedonnertste Marketingmaterial auf Edelpapier bzw. äußerst (schein)professionelles Anwerbematerial, nach der Devise: „Sehen Sie mal, in so ein ästhetisches Meisterwerk werden wir ihr dröges Manuskript verwandeln! Ja, und deswegen werden Sie auch verstehen, warum unser Verlag bzw. meine Agentur andere, d.h. höhere Kosten aufbringen muss als durchschnittliche Feld-, Wald – und Wiesenverlage bzw. - agenturen.“
Mit Farbe und Fotos aufgemotzte Internetseiten, voll gepackt mit Bildern prominenter Schriftsteller(innen), Schauspiele(rinnen), Künstler(innen) und anderer prominenter Prominenter bei Shakehands, Vernissagen, Lesungen oder Sektempfängen mit Literaturagenten der Spitzenklasse und den edelsten Verlagsvertretern Deutschlands oder gar der ganzen Welt! Welchen Buchstabenjongleur, Sätzedrechsler, Gedichteschmied oder Roman- bzw. Hörbuchmonteur aus der ganzen weiten platten oder gebirgigen literarischen Provinz wird das nicht überzeugen? Wovon? Ja, wovon denn bloß? Davon selbstverständlich, dass nicht für den eingereichten Plan eines Buches, ein Probekapitel und die Kapitelabfolge, also ein künftiges Buch, ein Verlags– bzw. Agenturvorschuss an die prekär vegetierenden Schreiber(innen) zu zahlen ist, sondern davon, dass der unter hohen Vorlaufkosten und -investitionen ächzende Verlag bzw. die finanziell dem Höchstrisiko ausgesetzte Agentur nur mittels eines saftigen Druck- und Lektoratskostenzuschusses seitens der rotwangigen, fettleibigen bzw. -lebrigen, sausbrausigen Provinzpoeten alias Prekärartisten wirtschaftlich langfristig überleben kann. Das ist die auf die Spitze getriebene Logik der freien Marktwirtschaft: Bücher erzielen nur dann Verlags- oder Agenturgewinne, wenn sie die Schriftarbeiter(innen) selbst bezahlen.
Auszug aus dem Mustervertrag eines „Zuschussverlages“ mit dem „Zuschussautor“, der den Zuschuss natürlich selbst zahlen muss:
„§2 Vertragsgegenstand: Die Parteien vereinbaren folgende Eckdaten: Das Buch erscheint als Taschenbuch (Softcover), Tantiemen pro Buch: 25% (sehr gut, üblich sind 10%), Tantiemen ab dem 301. Exemplar (äußerst schlecht, normal sind Vorschüsse nach dem Einreichen des Buchkonzepts für seine Fertigstellung und als Autor(inn)envergütung, Tantiemen schon ab dem ersten Exemplar) Erstauflage: 3000 Stück, Nachdrucke auf Kosten des Verlags, Freiexemplare 20 Stück, Autorenrabatte auf weitere Exemplare: 30%, Produktionsvergütung:5863,69 (oberschlecht, hier wird die/der Autor(in) übelst abgezogen).“
Erreichen Schriftsteller(innen), Verlage, Agenturen den Break-Even-Point, normaler Weise bei ca. 8000 verkauften Büchern, dürfte klar sein, dass bis hierhin nur ein größerer Druckkostenzuschuss der Autor(inn)en dem Buchprojekt überhaupt erst zur Buchrealität verhilft. Danach, in der Gewinnzone, wenn die Dichter(innen) ungefähr 50 oder mehr Prozent der Vorlaufkosten getragen haben, stehen natürlich dem Verlag 90 Prozent der Einnahmen pro Buch zu, dem Schriftsteller 10 Prozent, das ist ganz einfach gottgewollt, und dem Agenten, klar, 10 Prozent der Erträge der/des Schreiber(in)s.
Wenn ein ökonomisch ungebildeter Poet von Zeit zu Zeit ungeduldig darauf reagiert, dass sein vor sieben Jahren eingereichtes Werk trotz reichlicher telefonischer oder mailiger Anfragen immer noch keinen Verlagsleser gefunden hat, ha, dann weiß er es jetzt: „Fuck, fuck, fuck! That's the springende Punkt: Kalkulieren, Kalkulieren, Kalkulieren! Wie soll man bei dieser Sklavenarbeit auch nur die Zeit finden, eine einzige Buchseite zu lesen! Und dann wohin mit diesen Büchergebirgen! Wohin damit!“ Kein Wunder, dass solche Literaturexperten zwanzig Jahre lang den ersten Roman des inzwischen überaus erfolgreichen, aber leider bereits verstorbenen sizilianischen Krimiautors Andrea Camilleri nicht veröffentlichten und Robert Schneiders Bestseller „Schlafes Bruder“, durch Riesenauflagen in 41 Ländern verbreitet, mit größtem Erfolg verfilmt und zu einem Musikstück verarbeitet, über zwanzig Verlagen nicht gut genug für eine Veröffentlichung erschien.
Büchermacher wie ich, die ein Buch anfertigen, weil das Schreiben, ihr Ein und Alles, den größten und wichtigsten Teil ihrer Existenz ausmacht, die etwas ausdrücken wollen, das ihr Herz, ihren Verstand, ihre Existenz bewegt, schreiben immer, auch dann, wenn niemand danach fragt, ob sie schreiben, schlafen, wachen, leben oder tot sind.
Schreibinfizierte besitzen eine sehr genaue Vorstellung darüber, worin der Sinn ihrer Lebensleidenschaft besteht. Sie wollen ein Menschheitsthema wie z.B. die Liebe auf eine Art darstellen, die ihnen für dieses Thema besonders geeignet erscheint, mit Schwerpunkten, die ihnen bei Gesprächen und ihrer Lektüre aufgefallen sind.
Autoren bemühen sich, ihr Thema für ihre Leser so zu öffnen, dass sie nicht anders können, als ihre freie Zeit zum Lesen zu nutzen. Ein Schriftsteller, der es schaffte, mit einem Buch die Aufmerksamkeit auch nur einer(s) Leser(in)s so lange zu fesseln, bis sie/er es in einem Zug durchgelesen hatte, dem gelang meiner Ansicht nach bereits ein sehr, sehr gutes Buch, nämlich eins das ununterbrochen unterhielt, zumindest eine menschliche Seele.
Die/der Schreiber(in) ist wie Gott. Der Dichter bringt den Leser in Orte, die er noch nie gesehen hat, in Gesellschaften, die ihm fremd sind, führt ihn in Diskussionsrunden, die ihn staunen lassen, schafft Menschen.
Als Beispiel möchte ich das letzte Buch nennen, das ich gelesen habe: George Grishams: „ Kammer“. Die Kammer ist keine Gerichtskammer, obwohl der Verfasser Jurist war, sondern eine Gaskammer im Gefängnis Parcham des US-Staates Mississippi. Die Hauptpersonen sind ein weißer Rassist, ehemals Ku Klux Klan-Mitglied, für widerliche Morde verantwortlich und sein Enkel, Anwaltsneuling in einer großen und einflußreichen Chikagoer Kanzlei, der ihn in letzter Minute vor der Todesstrafe bewahren will. Das Buch ist eine dicke Schwarte. Ich habe sie in fünf Tagen, immer, wenn ich freie Zeit hatte, zuende gelesen,
Was habe ich alles gelernt? Ich lernte die rassistische Welt der Südstaaten der USA zur Zeit der Bürgerrechtsbewegung und des Ku Klux Klans der 60er Jahre kennen, die Arbeit in einer riesigen Großstadt-Kanzlei, die verschiedensten Charaktere, viele Elemente der us-amerikanischen Gesellschaft, die Stadt Memphis, die ich 1981 selbst besucht habe, die dampfende Hitze des Sommers am großen Mississippi, die bedrückende Atmosphäre des Todestrakts, die Brutalität der Todesstrafe durch Vergasung, viele historische Fakten und, am aller wichtigsten, ich empfand für den Negativhelden, einen ehemals brutalen Mörder Mitleid und lernte, die Todesstrafe noch mehr zu verabscheuen. Schon jahrelang hatte ich gegen sie mittels dringender Aktionen, urgent actions, amnesty internationals, also mit Worten und Taten, bis zur Gegenwart agiert.
Das Buch Grishams erfüllt alle Anforderungen, die ich an ein gutes Buch stelle:
Sein Handlungsgerüst, der Plot, und das Ziel, die Abschaffung der Todesstrafe, packten mich sofort. Ich musste das Buch erst ganz lesen, dann konnte ich meine freie Zeit wieder für anderes verwenden. Die Sprache passte wunderbar zum Inhalt. Ich tauchte in völlig neue Lebensverhältnisse ein. Die erste poetische Ebene der gediegenen und lehrreichen Unterhaltung, perfekt.
Nun, auch die zweite dichterische Ebene, der Schuss ins Herz, die Seele, die Vernunft saß. Ich empfand Mitleid. Ich dachte darüber nach, wie man viele Sachen ändern könnte und darüber, was ich vorher alles nicht gewusst hatte.
Und schließlich die dritte Ebene, der Gipfel der schriftstellerischen Kunst, Neuorientierungen im Leben der/des Leser(in)s herbeiführen.: Mein Leben hat sich geändert. Ich bin noch stärker motiviert zu schreiben.
Obendrein versuche ich noch mehr mit amnesty international und anderen Organisationen und Menschen für die Entrechteten, die Erniedrigten und Beleidigten zu kämpfen.
John Grisham ist vielleicht noch ein kleines Bisschen besser als ich. Doch der Ton liegt auf dem Wörtchen noch.
Und ich? Ich schreibe, schreibe, schreibe! Ganz einfach weil ich muss und meine Schriften ich sind!
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Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Hartmut Wagner).
Der Beitrag wurde von Hartmut Wagner auf e-Stories.de eingesendet.
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 25.10.2020.
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