Wolfgang Hoor

Ein Einzelkämpfer

Ein Einzelkämpfer

1957. Eine unerwartete Kontrolle der Betten und Spinde im Schülerheim SW durch den Heimleiter steht an. Betroffen sind 45 Schüler der Unter- und Mittelstufe. Sie werden nach dem Mittagessen in ihre Schlafsäle zitiert. Der Heimleiter, ein kleiner, dürrer, drahtiger Mann in einem korrekten Anzug erwartet die Jungen. Wenn er einen Kontrollgang durchführt, spielt er immer den Unteroffizier, der er vor Jahren vielleicht war. Dass einige noch nicht schnell genug zur Stelle sind, quittiert er mit einem vernichtenden Blick. In seiner Nähe ist es grabesstill. „Jeder stellt sich vor seinen Spind“, befiehlt er. Und dann werden die Spinde, danach die Betten besichtigt.

Diese Kontrolle hat an diesem Tag niemand erwartet. In vielen Spinden gibt es ein ziemliches Durcheinander, in einigen finden sich Lebensmittel, die nicht im Spind aufbewahrt werden dürfen, hier und da findet sich „Schmutz und Schund“, also Heftchen aus den Serien „Micky-Maus“, „Nick Knatterton“ und „Fix und Foxi“. In anderen finden sich auch schon „erotische“ Seiten aus anzüglichen Zeitschriften, was hart geahndet wird. Der „Schmutz“ wird in einem Mülleimer entsorgt. Auch mehrere Betten sind schlecht gemacht. Es gibt eine schrille Strafrede und eine Strafe für alle 45: die Freizeit zwischen drei und vier ist gestrichen, die Studierzeit wird um eine Stunde verlängert.

Um drei Uhr beginnt also an diesem Tag die Studierzeit. Die 45 Schüler sitzen in zwei Studiersälen. Heute ist es sehr ruhig. Der Heimleiter kann jeden Augenblick wieder auftauchen. Die zwei Jungen hinter Wolf, Uli und Willi, flüstern: „Na, hast mal wieder einen Pluspunkt bei unserem Chefschinder bekommen, bist ihm mal wieder in den Hintern gekrochen?“ Wolf wird rot. Er dreht sich zu seinen Klassenkameraden um. Die aber bücken sich tief über ihre Bücher. Wolf weiß nicht, wie er gegen sie ankommen soll. Sie machen ihn lächerlich, wo sie es nur können. Ist es denn schlimm, wenn man nicht auffällt?

Es geht auf halb sieben zu, die Abendbrotstunde. Die meisten sitzen seit einer, manche auch seit eineinhalb Stunden an ihren Tischen und malen, wippen mit den Füßen und langweilen sich. Es gibt nichts mehr zu tun. Jetzt geht dieser Strafnachmittag seinem Ende entgegen, und dann bleibt wenigstens noch die Zeit nach dem Essen, um zu spielen und ein bisschen Luft zu schnappen. Auch Wolf fällt nichts mehr ein, was er tun könnte. Er sucht ein Buch aus der Tasche, ein Fahrtenbuch über eine Pfadfindergruppe. Er wartet wie alle anderen auf den erlösenden Gong, der sie zum Abendessen ruft. Von den Plätzen hinter ihm zischeln Uli und Willi: „Das ist aber kein Schulbuch. Das ist in der Studierzeit verboten.“

Plötzlich geht ein Ruck durch den Studiersaal. Der Heimleiter!! Wie so oft hat er sich hereingewieselt, hat mit einem scharfen Blick die Lage durchschaut. Statt zu studieren, überlassen sich seine Zöglinge dem süßen Nichtstun. „Hausaufgaben vorzeigen", heißt seine Anweisung. „Hausaufgabenheft zuerst, dann nacheinander die schriftlichen Arbeiten aufs Pult legen.“

Vorne bei Heinrichs schlägt es schon ein. „Das sollen Hausaufgaben sein? Bei der Schrift?“ Der Heimleiter zückt den Rotstift, streicht das Geschriebene durch. „Neu”, sagt er laut und scharf. „Nach dem Abendbrot.” Bei Schäfer entdeckt er das Vokabelheft. ,,Du kannst sie?” Schäfer wird nach drei Vokabeln gefragt, zwei weiß er nicht. „Nach dem Essen weiterlernen!” Nachdem noch zwei weitere entdeckt werden, die ihre Hausaufgaben nicht zu seiner Zufriedenheit gemacht haben, bricht er die Kontrolle ab. ,,Der ganze Studiersaal lernt nach dem Abendessen nach.”

Die Jungen sind benommen. Sie schauen ihn unterwürfig bettelnd an. „Doch bitte nicht alle!“ Aber sein Blick ist hart. Gnade ist nicht zu erwarten. Fertig! Nach dem Abendessen geht es also noch mal in die Studierzimmer. Der Heimleiter pendelt für die volle Zeit von einem Studierraum zum anderen. Meist steht er mit über die Brust gekreuzten Armen da und sorgt für Grabesruhe. Man geniert sich, ein Blatt umzuwenden. Und lernen kann niemand mehr.

Wolf hat seine lateinischen Vokabeln vor sich liegen, empfindet eine Beklemmung im Kopf, und alles in ihm ist im Aufruhr. Der Heimleiter kommt vorbei, nimmt sein Vokabelheft in die Hand, erfragt zwei Vokabeln. Die kann Wolf trotz seiner Beklemmung. Uli und Willi, die in der Klasse von Wolf sind, haben auch ihre Vokabelhefte auf den Tisch gelegt. „Ihr seid doch in der gleichen Klasse wie Wolf!“, sagt er. „Zeigt mal her!“ Sie werden abgehört und versagen. „Bis alle ihre Hausaufgaben einwandfrei gemacht haben, verlässt niemand diesen Raum. Und wenn es zehn und wenn es elf wird.“

Wolf schaut auf die Uhr. Bis zur Schlafenszeit kann sie der Heimleiter höchstens hier festhalten. Dann gilt die Heimordnung. Die Heimordnung sagt, dass sie um neun ins Bett müssen. Gegen diese Ordnung darf auch der Heimleiter nicht verstoßen. Er schaut immer wieder auf seine Uhr, während der Heimleiter Vokabeln abfragt und schlecht geschriebene Texte durchstreicht. „Weiter! Los! Und wenn es zehn, und wenn es elf wird“, wiederholt er

Und dann sieht er, wie Wolf auf seine Uhr schaut. „Du brauchst gar nicht auf deine Uhr zu schauen“, spricht er Wolf an. „Ich bestimme, wann die Studierzeit zu Ende ist.“ Wolfs Wangen verfärben sich rot. „Es gibt eine Heimordnung!“, sagt er. Er sieht, dass sich alle Blicke, die er beobachten kann, jetzt auf ihn richten. „Ich bin die Heimordnung!“, sagt der Heimleiter scharf. Und dann gongt es. 21 Uhr. Zeit ins Bett zu gehen.

Wolf starrt den Heimleiter an. Sein Blick lässt ihn nicht locker. Normalerweise ist Wolf ein unauffälliger, gehorsamer Schüler. Aber jetzt, zum ersten Mal in seinem Leben, spürt er, wie ihn die Willkür des Heimleiters bis ins Mark trifft. „Weitermachen! Weitermachen!” ruft der Heimleiter. Seine Stimme ist scharf und eiskalt. Wolf steht auf: „Entschuldigen Sie, ich möchte jetzt ins Bett.”

Der Heimleiter antwortet nicht, lässt Wolfs Wunsch an sich abprallen, als hätte er nichts gehört. Die anderen starren auf ihre Hefte, als hätten auch sie nichts gehört. Keine Regung der Unterstützung; Wolf merkt: wenn er jetzt nichts tut, ist er ein Feigling. Aber so darf es nicht ausgehen. So steht er auf, geht blicklos auf den Heimleiter zu, geht an ihm vorüber und dann durch die Tür.

Als Wolf schon auf der Treppe zu den Schlafräumen ist, kommt der Heimleiter ein Stück nach, ruft: „Komm zurück!” Aber Wolf gehorcht nicht. Er geht in seinen Schlafraum, macht sich bettfertig, geht in den Waschraum seine Zähne putzen und legt sich dann ins Bett. Jetzt, nachdem es geschehen ist, kommt die Angst. Sein Vater wird dafür kein Verständnis haben, ihn kann er in diesem Fall nicht zum Verbündeten gewinnen. Wahrscheinlich werde ich rausgeschmissen.

Er liegt minutenlang alleine mit seiner Angst in einem totenstillen Haus. Diese Stille im Haus ist fürchterlich. Sein Herz pocht laut, sein Gefühl für Gerechtigkeit und Würde pocht mit und alles rast der Katastrophe entgegen. Nach zwanzig Minuten, nach dieser kaum erträglichen Wartezeit kommen die anderen. Der Heimleiter lässt sich an diesem Abend nicht mehr sehen, aber die Kameraden stürmen zu Wolf hoch und versammeln sich um sein Bett.

„Was ist eigentlich in dich gefahren? Der Heimleiter hätte sowieso bald Schluss gemacht, und jetzt sitzen wir alle in der Patsche. Er hat uns für die ganze nächste Woche die Studierzeit verlängert, und das haben wir ausschließlich dir zu verdanken, hat der Heimleiter gesagt.“

Wolf lässt die Vorwürfe seiner Schulkameraden von sich abprallen. Alle sind gegen ihn. Alle hat der Heimleiter für sich gewonnen! Wolf wehrt sich nicht. Zum ersten Mal in seinem Leben hat er das Gefühl, dass er eine vollständige Niederlage einstecken muss.

Später wundert er sich, dass der Heimleiter nichts weiter gegen ihn unternimmt.

Und manchmal denkt er: Vielleicht ist so aus meiner Niederlage doch noch ein Sieg geworden.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 15.11.2020. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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