Martina Wiemers

Zweck heiligt Mittel ?

Rudi, das Rentier hebt schnüffelnd seine Nase. Sein Gespür sagt ihm, dass irgendetwas nicht in Ordnung ist. Er fragt seinen Freund, den gestiefelten Kater, besorgt: „Fällt Weihnachten in diesem Jahr etwa aus? “Der Kater hebt resigniert die Schultern und antwortet. „Ich weiß es nicht. Viele Menschen auf der Welt sind krank, dürfen sich nicht besuchen, bekommen keine Luft und sterben. Den Weihnachtsmann habe ich schon ewig hier nicht mehr gesehen. Der treibt sich neuerdings auf jeder Talkshow rum, um die diesjährige Weihnachtsbotschaft zu verkünden. Frau Holle geht es so schlecht, dass sie ihre 7 Zwerge nicht mehr betreuen kann. Sie liegt hustend und mit hohem Fieber im Bett und ihr Mann, Väterchen Frost, muss im Krankenhaus beatmet werden. Wir sollten hier schleunigst verschwinden.“

„Ich würde ihnen ja so gern helfen“, sagt mitleidig das Rentier.

„Sei still“, ruft der Kater erschrocken. Viele kluge Menschen und Pharmaunternehmen sind im Moment dabei einen Impfstoff gegen diese Krankheit zu entwickeln. Weihnachten darf nicht ausfallen, Silvesterraketen sollen in den Himmel fliegen, man will sich treffen und bald in den Urlaub fahren. Wir müssen weg, bevor sie uns hier finden.“

Der gestiefelte Kater befüllt den Schlitten mit Proviant, sattelt Rudi und zurrt dessen Geschirr fest.

„Wird schon alles gut ausgehen“, versucht Rudi den Kater zu trösten.

Der springt auf seinen Rücken, legt ihm die Pfötchen um den Hals, schaut sich vorsichtig um und flüstert ihm verzweifelt ins Ohr: „Weißt du denn nicht, dass wegen des Impfstoffes viele von uns getötet werden oder große Schmerzen erleiden müssen. An Affen, Mäusen, Kaninchen, Hunden, Ratten und vielleicht sogar an Rentieren wird ausprobiert, was man sich am Menschen nicht traut. Man sticht, schneidet, sperrt ein, beobachtet und zieht uns, wenn nötig, rücksichtslos das Fell über die Ohren. Es ist ihnen egal was wir fühlen und ob wir die Schmerzen aushalten können. Wichtig ist nur, man findet möglichst schnell einen Ausweg aus dem Dilemma. Jeder von ihnen möchte der Erste sein, berühmt werden und viel Geld verdienen. Ich habe große Angst um uns alle hier.
Misstrauisch gehe ich jedem aus dem Weg. Sie glauben die Krankheit wird durch uns übertragen. Vergessen oder verdrängen ihre eigene Schuld an der Zerstörung der Umwelt durch falsche Tierhaltung, Müll, Kloaken, Abholzung, Armut und Krieg. Wildschwein, Nerz, Fledermaus, Vogel, Wolf, Fuchs selbst Hasen und Igel müssen dafür büßen. Der goldenen Gans hat man zur Finanzierung des Ganzen schon alle Federn ausgerissen.“

Rudi ist fassungslos. Kann nicht glauben was sein Freund, der Kater, ihm erzählt. Er läuft so schnell er kann tief in den Wald hinein. Erst hinter den sieben Bergen machen sie Rast in einer Höhle, weit ab menschlicher Reichweite.

Der gestiefelte Kater kuschelt sich müde an Rudis Schulter, macht die Augen zu und schläft sofort ein. Rudi betrachtet ihn lächelnd und denkt: „Schluss jetzt mit den Verschwörungstheorien kleiner ängstlicher Kater. Es wird Zeit, dass du wieder vernünftig wirst.“

Er greift zum Smartphon und ruft den Weihnachtsmann an. Er erzählt ihm von den Ängsten des Katers und dessen unsinnige Geschichte.

„Bleibt wo ihr seid, ich schicke die Heinzelmännchen zur Abholung vorbei“, sagt barsch der Weihnachtsmann und legt auf.

Rudi liegt stundenlang wach. Sein Freund der Kater schnarcht friedlich an seiner Schulter. Als er am Eingang der Höhle das Licht der Suchscheinwerfer sieht, richtet er sich auf und winkt. Er sieht noch das Fangnetz über seinem Freund, hört den Schuss, doch die Schmerzen im Körper und Herz bleiben ihm erspart.


                              (C) Martina Wiemers

 

     

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 22.11.2020. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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