Klaus Mallwitz

Mein Freund

Ausgerechnet in einer Zeit, in der die Kontakte vieler Menschen wie die  Geister aufblitzen und sich auflösen, in der sie kommen und gehen, stagnieren, bröckeln und tausende von Fragen stellen, ausgerechnet in einer solchen Zeit lerne ich einen Menschen kennen, von dem ich denke: Dieser Mensch geht nicht verloren, dieser Mensch ist ein Freund, ist mein Freund. Und mehr noch. Ich gewinne etwas in einer Zeit, in der viele andere Menschen so viel verlieren, so viel weinen müssen, sich verzweifelt an etwas klammern, was unerfüllt zu werden scheint: an eine Hoffnung. Und sicher auch an einen Gott.

 

Es geht mir jetzt nicht darum, mich mit den Menschen in einer Ecke zu wähnen, die in dieser beinahe nicht mehr zu greifenden Kontaktverlorenheit den Vorteil für sich suchen. Es gibt halt Menschen oder auch Organisationen und Firmen, denen die Kontaktlosigkeiten anderer Menschen dienlich sind. Und welche Rolle nun für mich die Kontaktarmut gespielt hat, einen neuen Freund gefunden zu haben, mag und soll auch für mich keine Rolle spielen. Und es ist mir auch egal, welches Geschlecht dieser neue Freund hat. Äußerlich sieht er mir ähnlich, hat auch längere Haare wie ich, blaue Augen wie ich, aber was ich in ihm sehe, was ich wahrnehme, sein Lächeln, seine mir auf irgendeine, eigentümliche Art ganz vertraute, behutsame Vorsicht, mit der er auf meine Fragen, die ich an ihn richte, zugeht, so rücksichtsvoll, so nachdenkend, so leise…, und doch meine Seele aufweckend, dass ich zittere, zittere am ganzen Leib, überall, überall, überall. Ja, was ich in ihm plötzlich auch in mir sehe, was ich auch in mir wahrnehme, ist mir bisher fremd, fremd gewesen, fremd geblieben, und irgendwie ist es das, was sich auch in mir regt, eine Art Liebe, oder, vielleicht ist es Liebe. Ich habe einen Freund, den ich liebe. Vielleicht. Nein! Nicht vielleicht! Liebe! Ich weiß! Es ist: LIEBE!

 

Bevor ich erzählen möchte, wo ich diesen Menschen kennengelernt habe, möchte ich von der Zeit erzählen, in der ich den neuen Menschen kennengelernt habe. Es gab da zwei Zeiten. Eine von außen, die andere aus mir heraus, also von innen.

 

Die eine Zeit, das ist die Zeit der von mir angesprochenen

Kontaktverwüstungen, die Zeit des Leids für viele, für jeden einzelnen Menschen, für jeden anders, aber für jeden einzelnen. Sie dauert nun schon beinahe ein ganzes Jahr. Und sie wird weiterdauern, dauern, dauern, dauern…, mit Hoffnungen, mit Träumen, mit Leid, mit Freuden, aber immer wieder, immer wieder mit neuen Tränen, mit neuen Tränen, die die Einsamkeit noch mehr vergrößern werden. Aber ich weiß es nicht. Ich sag es ja nur. Vielleicht kommt es alles anders. So oft habe ich mich schon geirrt. So oft, zu oft, immer wieder, immer wieder…- Aber jetzt, jetzt habe ich einen Freund, und die Hoffnung, die ich damit verbinde, die kann nicht zerstört werden. Die nicht! Es sei denn, ich irre mich schon wieder. Aber dann ist es so, wie es ist. So ist es dann richtig.

 

Die andere Zeit, das ist die kürzere Zeit, das ist die Zeit inmitten der äußeren. Sie dauerte nur 4 oder 5 Stunden. Ich habe sie nicht mit irgendeiner Uhr festhalten können. Vielleicht waren es auch 10 Stunden. Sie ist kurz vielleicht an ihr, an der Uhr abzulesen, unendlich lang aber…, gemessen und abzulesen an und in all den 64 Jahren, die ich zurückgelassen habe, Tag für Tag und Nacht für Nacht,  und sie erscheint mir heute kürzer gewesen zu sein, als die 4 oder 5, oder auch 10 Stunden, in der es keine Uhr für mich gab. Keine Uhr! Es gab nur: ein tiefes Heimatgefühl, ohne Angst, ohne Schmerz. Keine Verletzung. Stattdessen: LEBEN! Leben lieben!

 

Ich wollte vom Ort der Begegnung sprechen. Es war so:  Ich unternahm einen Selbstmordversuch, von dem ich vorab ahnte, dass er misslingt. Ich glaube, ich wollte, dass er misslingt. Jedenfalls fand man mich auf einer steinernen Treppe. Ich lag vermutlich schon in einer stabilen Seitenlage, als der Notarzt kam. Ich habe es ihm vielleicht leicht machen wollen. Jedenfalls erwachte ich irgendwann, irgendwie lebend in einem Bett, umhüllt von ganz viel Nässe. Und da kam er. Der Fremde. Der kam einfach. Ich kannte ihn nicht. Ich kannte weder seinen zerschlagenen Körper, noch kannte ich die blutende Seele, die er in sich trug, die er zärtlich unter seine Hände grub, um sie zu schützen, um ihr nicht noch mehr weh zu tun. Warum habe ich diesen Menschen nicht eher getroffen? Er hat mich doch jahrelang verfolgt, und ich bin ihm immer wieder entkommen. Ich hasste ihn. Und nun liege ich stundenlang in seinen Armen, ich lasse mich von ihm halten. Ich bin umarmt von einem Fremden. Und ich lasse mich umarmen. Und ich umarme ihn. Und er lässt sich umarmen. Wir umarmen uns. Wir sind umarmt. Wir sind eins. Und wir haben noch kein Wort miteinander gesprochen. Oder doch? Ja! Doch, wir haben gesprochen. Wir haben miteinander gesprochen. Wo sind die Worte? Wo? - Mit Worten ist es nicht zu erzählen.

Ich spüre in mir. Ich spüre ihn in mir. Ich spüre plötzlich all die Menschen, die mich, ja, ja, jetzt könnt´ ich es sagen. Ich könnte sagen, ich liebe die Menschen, die mich lieben, aber mit Worten geht es nicht. Es geht nicht mehr. Es geht nur in mir selbst. In uns allen geht es nur in uns selbst. Oder? Und dann, dann…, ja dann kann ich es auch sagen…, ich kann es erzählen, in einem Wort. Ich laufe nicht mehr weg. Ich brauche nur…, ich habe nur ein Wort, ich spreche nur mit einem einzigen Wort, in einem Wort an euch spreche ich aus, wofür ich nur dieses Wort brauche, dieses eine Wort, gerichtet an meinen Freund, an mich. Und damit an alle. Ich liebe mich. Ich erkenne mich. Ich erkenne euch. Ich liebe euch.

Danke! Ich bin bei euch, weil ich bei mir bin.

Danke, mein Freund!

Danke, mein ICH!

Ich BIN! Ihr SEID. Wir SIND!

DANKE!

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 03.12.2020. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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Ein Tag im Februar des Jahres 2006. Der EDV- Fachmann Klaus Gruschki kann kaum ausdrücken, was er empfindet, als er seine neugeborene Tochter Leoni im Arm hält. Seine Frau Michaela und er sind die glücklichsten Menschen der kleinen, süddeutschen Provinzstadt und voller Vertrauen in die gemeinsame Zukunft. Doch die Beziehung und das Glück zerbrechen. Auf einmal ist Klaus allein und Michaela mit Leoni verschwunden. Erst nach langer Suche und mit großen Mühen gelingt es dem Vater, Mutter und Kind wieder zu finden und den Kontakt zu Leoni neu herzustellen. Dann entzieht ein bürokratischer Akt dem Vater die gemeinsame Sorge fürs Kind. Gruschki weiß sich nicht anders zu helfen, als seinerseits mit der Tochter heimlich unterzutauchen. Nach einer dramatischen Flucht wird er in Österreich verhaftet und Leoni ihm gewaltsam entrissen. Er kommt in Haft und wird als Kindesentführer stigmatisiert. Doch Klaus Gruschki gibt den Kampf um sein Kind und um Michaela nicht auf …

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