Nachdem der Vielvölkerstaat Österreich-Ungarn zerfallen war,
besetzten die Tschechen die böhmischen Länder und verhinderten die
aktive Teilnahme der dortigen Deutschen an der republikanischen
österreichischen Staatsgründung. Die an den Rändern der
Gebirgskette der Sudeten angesiedelten Deutschösterreicher hofften noch
auf den Friedensvertrag von Saint-Germain 1919; an dessen Verhandlungen nahmen
aber die Tschechen auf der Siegerseite teil, sodass ihnen ganz Böhmen,
Mähren und (Österreichisch-)Schlesien zugeordnet wurden. In der
Folge wurden die Deutschen durch Gesetze und Verordnungen, auch in den
Gemeinden in denen sie die Mehrheit oder sogar vollständig die
Bevölkerung ausmachten, zahlreichen Diskriminierungen ausgesetzt, die zu
einer zunehmenden Radikalisierung des Verhältnisses zwischen Tschechen
und Deutschen beitrugen.
Keine gute Zeit, um in den ehemaligen
böhmischen K&K-Gebieten der österreichisch-ungarischen Monarchie
ein Kind zu gebären. Doch man kann sich seine Zeit nicht aussuchen und
auch nicht den Ort der Geburt. Das sollte uns auch heute bei Diskussionen zu
Fluchtbewegungen immer bewusst sein, um Fluchtgründe besser verstehen zu
können.
So geschah es, dass eine junge Frau in Böhmen
sich just in jener Zeit verliebte und mit ihrem Schatz zwei Kinder zur Welt
brachte. Zwei Mädchen wurden geboren, eines im Jahr 1926, eines 1927. Die
später geborene sollte später meine Mutter zur Welt bringen. Die
beiden Mädchen wurden in Duppau geboren, einige Minuten von Karlsbad
entfernt in einer idyllischen Landschaft gelegen. Karlsbad – was
für ein Name. Immerhin gehört die Stadt zu den bekanntesten Kurorten
der Welt.
Nun aber muss etwas passiert sein. In der Beziehung der
beiden jungen Eltern oder politisch, denn der Kindsvater
„verabschiedete“ sich bereits 1928 und emigrierte nach Kanada.
Zurück blieb die junge Mutter, die zu jener Zeit wohl bei ihren Eltern in
Duppau gelebt haben muss. Die Eltern müssen in der Stadt Duppau in der
Herrengasse ein Geschäft betrieben haben. Ob der Kindsvater meinte, er
wolle voraus reisen und die Familie nachholen? Ob er einfach abgehauen ist, um
sich der Verantwortung für die beiden Mädchen nicht stellen zu
müssen? Ob er politisch gehen musste? Ob die Beziehung einfach in die
Brüche ging, und er ein anderes Leben anfangen wollte? Ob er ahnte, welch
schreckliche Ereignisse hier noch folgen würden?
Wir haben
keine Antworten auf alle diese Fragen. Wir können uns diese Fragen
stellen, um vielleicht wieder neue Ansatzpunkte für unsere Suche zu
finden. Bis vor ein paar Monaten haben wir ohnehin geglaubt, dass dieser Mann
kurz nach seiner Emigration in Kanada verstorben sei. Dass er erst 1974 in
Bayern gestorben ist (mein Gott, da war ich schon auf der Welt und mein Uropa
hätte mich noch kennenlernen können), ergab sich erst bei Recherchen
im heurigen Corona-Jahr.
Zurückgeblieben ist jedenfalls eine
junge Mutter mit ihren beiden Mädls, die altersmäßig nur ein
Jahr auseinander waren. Die Zeiten wurden sicher nicht besser. Das
Münchner-Abkommen durch das das „Sudetenland“ dem Deutschen
Reich angeschlossen wurde, wird wohl für die 98 Prozent deutschsprachigen
Einwohner des 1.500 Seelen zählenden Städtchens Duppau wie eine
Befreiung gewesen sein, denn zimperlich gingen die Tschechen mit ihnen nicht
um. Wir wissen weiters, dass de Jungmama in der Zeit der schrecklichen Nazi-
Diktatur wohl in Karlsbad lebte. Möglicherweise war sie da als
Haushälterin tätig.
Nach dem Ende des Krieges
jedenfalls waren die beiden Mädchen auch schon beinahe erwachsen. 19 und
18 Jahre müssen sie gewesen sein, wobei unklar ist, wann die Ältere
der beiden dem Vorbild des Vaters folgte und Europa in Richtung Kanada
verließ. Die Tante meiner Mutter emigrierte, aber bei ihr wussten wir
bis vor wenigen Monaten nicht, wohin sie gegangen war. Es gab nur vage
Hinweise darauf, dass es sie überhaupt gegeben hat und noch weniger
Hinweise darauf, wo sie sich möglicherweise aufhielt. Auch in diesem Fall
wissen wir heute, dass sie erst 1986 in Quebec/Kanada verstorben ist (da
wäre ich dann schon 13 Jahre alt gewesen und hätte so einige Fragen
an sie gehabt).
Nach dem zweiten Weltkrieg kam die Rache für
all das Leid, den Terror und die Massenmorde der Nazi-Schergen. Wenn heute
noch immer sudetendeutsche Verbände die Schreckensereignisse der
Vertreibung anprangern, dann sollte nicht übersehen werden, was das
nationalsozialistische Verbrechensregime angerichtet hatte. Deshalb verwenden
wohl auch Tschechen bis heute lieber den Begriff der
„Aussiedlung“, während die so genannte Sudetendeutschen
ausschließlich den Begriff der „Vertreibung“ gelten lassen
wollen. Die „Benes Dekrete“ kann man ohne Betrachtung der Nazi-
Verbrechen nicht beurteilen.
Im Flüchtlingsstrom der
Vertriebenen jedenfalls müssen sich auch schreckliche Dinge ereignet
haben. Drei Millionen Heimatlose aus den Sudetengebieten waren auf der Flucht.
Die Mutter mit ihren beiden Mädls wurde im Strome der Vertriebenen nach
St. Gilgen an den Wolfgangsee gespült.
Gesichert ist, dass
meine Oma mit ihrer Mutter in Sankt Gilgen am wunderschönen Wolfgangsee
landete. Meine Oma, die 19-jährige „kleine Tochter“ war nun
jedenfalls im Salzkammergut gelandet, vor den Toren der Stadt Salzburg und sie
wurde – wie könnte es anders sein – schwanger. Vater des
Kindes soll ein um viele Jahre älterer Herr gewesen sein, der zu diesem
Zeitpunkt in der Gegend lebte und später nach Frankfurt am Main gezogen
sein soll. Sie brachte das Kind zum Glück auf die Welt und so erblickte
meine Mutter am 8. Jänner 1948 in Sankt Gilgen am See das Licht der Welt.
Gemeinsam mit ihrer Mama und ihrer Oma lebte sie auf alle
Fälle auch noch in der Stadt Salzburg, bevor meine Oma beschloss,
ebenfalls nach Kanada auszuwandern. Meine Mutter blieb bei ihrer
„Oma“ und bei einer „Ziehmutter“ in Oberndorf bei
Salzburg. Den ersten Geburtstag meiner Mutter konnte ihre Mama nicht mehr mit
ihr feiern. Da war sie schon in Quebec.
Meine Mutter war dann
eben auch bei einer Frau in Salzburg, die auf sie schaute, bevor sie im zarten
Alter von drei Jahren zu ihren „neuen Eltern“ nach Bruck an der
Mur kam, weil es nun auch die „Ohmschi“ nach Amerika zog. Auch
diese ganze Sache ist sehr undurchsichtig. Wie kam der Kontakt zu ihren
Pflegeltern in Bruck an der Mur zustande? Wie genau lautete der Deal? Wieviel
konnte die Mutter meiner Mutter bei dieser Entscheidung mitsprechen? Warum
wurde meine Mutter nicht nachgeholt nach Kanada?
Alle diese
Fragen bleiben unbeantwortet und dennoch muss ich mich für all diese
Entscheidungen bedanken. Wie sonst hätte meine Mama meinen Papa
kennenlernen sollen? Ich wäre nicht da, wenn das Schicksal meine
Vorfahren nicht so brutal durch die Lande geschleudert hätte.
Der Umgang mit dem kleinen Kind scheint aus heutiger Sicht brutal und wenig
herzlich. Wie kann man als junge Mama nur sein Baby verlassen? Wie kann man
sein eigenes Fleisch und Blut verlassen, um so weit weg ein neues Leben zu
beginnen? Ich glaube nicht, dass man all das aus unserer Zeit heraus
beurteilen kann. Wir leben zum Glück im Wohlfahrtsstaat und das ist gut
so. Hier gibt es soziale Fürsorge und niemand muss Angst haben, zu
verhungern, wenn er oder sie gerade nicht vom Glück verfolgt ist.
Meine Oma, ihre Schwester und auch die Uroma haben Krieg und Sterben
erlebt. Kinder sind gestorben, wurden von den Nazis in Gaskammern vernichtet,
die eigenen Nachbarn vielleicht von den Tschechen verfolgt oder gar
hingerichtet. Babies haben durch Bombenhagel alle ihre Verwandten verloren. Da
muss doch eine sichere Zukunft bei lieben Menschen mit einer gesicherten
Existenz für das eigene Kind wie ein Segen gewirkt haben.
Zufällig habe ich vor wenigen Wochen einen Kriminalpodcast gehört.
Ein Mann wurde hier zum Mörder alter Frauen, weil er einen Hass auf sie
hatte. Psychologen haben dann herausgefunden, dass er als Kind im
Flüchtlingsstrom aus Böhmen von seiner Mutter mit einem Namensschild
um den Hals einfach auf einem Bahnhof abgestellt wurde. Er hatte so einen Hass
auf Frauen im Alter seiner Mutter, dass er gleich mehrere tötete. Doch
vielleicht wollte auch sie nur eine bessere Zukunft für ihren Jungen.
Sehr lieb geschriebene Briefe meiner Oma an die meine Brucker
Großeltern legen Zeugnis davon ab, dass ihr ihr Kind nicht egal war.
„Mein Christerl“ schreibt sie da und schickt auch Schokolade. Wie
viele Tränen muss sie wohl geweint haben oder weint sie vielleicht sogar
noch heute?
Nicht nachvollziehbar ist für mich, warum es
dann plötzlich keine Briefe mehr gab? Was war geschehen? Oder hatten
meine Brucker Großeltern den Kontakt abgebrochen? Kamen die Briefe
vielleicht einfach nur nicht mehr an, weil die Brucker Großeltern so
gerne siedelten?
Es folgten die Jahre, in denen es weder Kontakt
gab noch jemand wirklich versuchte, einen solchen herzustellen. Es waren die
Jahre, in denen auch meine Mutter heranwuchs, eine Familie gründete und
wir ihre ganze Zeit in Anspruch nahmen. Außerdem hatten wir ja die
Großeltern in Bruck und Kapfenberg. Noch mehr Großeltern, noch
mehr Verwandtschaft? Nein, dafür hatte niemand wirklich Zeit.
Mein Bruder und ich wuchsen heran und es kam die Zeit, als auch meine
Mutter wieder mehr Zeit hatte, sich mit dem Thema zu befassen. Ich glaube ich
hatte den ersten Kontakt mit dem Thema, als ich schon fast 18 war.
Nämlich im Jahr 1991, also wir nach Kuba flogen und eine Zwischenlandung
in Neufundland, Kanada einlegten. Das war vermutlich auch jener Moment, in dem
ich meiner Oma geografisch so nahe kam, wie nie mehr zuvor oder danach.
Was haben sie alle gemacht in all den Jahren? Meine Oma, meine Tante,
meine Uroma und mein Uropa? Wo haben sie gelebt? Was haben sie gearbeitet?
Welche Kontakte hatten sie untereinander?
Die folgenden Seiten
dieses Buches zeigen, dass es ziemlich bewegte Leben gewesen sein müssen.
Umzüge, Hochzeiten, Todesfälle – all das muss geschehen sein
und noch vieles andere mehr. Manche Funde von Dokumenten werfen kurze
Scheinwerferlichtkegel auf die Leben meiner Verwandten. Doch direkten Kontakt
gab es noch keinen. Keine gefundenen lebenden Verwandten, aber was nicht ist,
kann ja noch werden…
Mit dem Buch will ich auch immer
wieder Ansätze zeigen, wie man auf die Suche nach Verwanden gehen kann,
wie Ahnenforschung vielleicht besser funktioniert. Eines ist jedenfalls
gewiss: Man braucht einen langen Atem, Pausen bei der Suche, Glück und
viel Zeit zum Nachdenken. Nur so gelingen immer wieder neue Ansätze,
werden neue Suchmöglichkeiten gefunden und auch Emails an alle
möglichen Stellen werden oft lange nicht beantwortet.
Diesen Beitrag empfehlen:
Mit eigenem Mail-Programm empfehlen
Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Gernot Leskovar).
Der Beitrag wurde von Gernot Leskovar auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 09.12.2020. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).
Anna - wie alles begann
von Irene Zweifel
Anna ist ein Wunschkind ihrer alleinerziehenden Mutter und trotzdem hin- und hergeschoben zwischen Mutter, Grossmutter und verschiedenen Pflegefamilien. Allein der Wunsch nach einem Kind ist noch lange kein Garant für dessen glückliche Kindheit.
Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!
Vorheriger Titel Nächster Titel
Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an: