Istvan Hidy

Der ewige Patient

Das Jahr 2020, das vermutlich als Lock down-Jahr in der Geschichte eingehen wird, veranlasste mich, eine brillanten Komödie in Erinnerung zu rufen und den jüngeren Lesern zu empfehlen. Die Rede ist von dem berühmtesten Theaterstück von Molière: „Der eingebildete Kranke“. Molière gelingt eine amüsante wie hintergründige Kritik an die Medizin und der geldgierigen Ärzteschaft seiner Zeit. Eine Rüge die, insofern sie Standesdünkel und Arroganz gegenüber den Patienten betrifft, auch noch heute aktuell ist.

Das Stück handelt von dem Hypochonder Argan, der sich einbildet krank zu sein. Der Vorhang geht auf und man ist mittendrin in der wahnhaften Welt „Der eingebildete Kranke“. Der Tagesablauf wird nicht durch den Wechsel von Tag und Nacht bestimmt, sondern durch das Fließen der Einläufe und Tinkturen und des Geldes an Ärzte. Für die Ärzte die ihm das Geld aus der Tasche ziehen, ist er ein Privatpatient Erster Klasse. Seine Vernarrtheit in Krankheit geht sogar so weit, dass er seine Tochter aus puren finanziellen Gründen nur an einen Arzt oder einen Apotheker verheiraten will. Herr Argan leidet gern. Er ist ins  Gefühl des Leides so eingeweiht, wie die Klistierspritze in seinem Körper. Ein Tag ohne Darmreinigung ist so gut wie undenkbar. Argan ist ein geduldiger Patient, der gerne alle verfügbaren Therapien ausprobiert, um seine zahllosen realen oder eingebildeten Leiden zu lindern. Sein Arzt Purgon weiß diesen Umstand geschäftstüchtig auszunutzen. Er verschreibt seinem gefügigen Klienten fragwürdige Behandlungen zu weit überteuerten Preisen. Geduldig befolgt Argan als ewiger Patient, alle Anordnungen seines Arztes und führt sie genauestens aus.

Molières Kritik an der Medizin ist ohnehin persönlich motiviert. Er ist davon überzeugt, dass er die schwere Krankheit die er von Dezember 1665 bis Januar 1666 durchlitt (und deren misslungene Behandlung durch die Ärzte dann tatsächlich zu seiner anhaltend angeschlagenen Gesundheit führte) und die ihn zur zeitweiligen Schließung seines Theaters zwang nicht wegen, sondern trotz der Ärzte überlebt habe. Ein Gedanke der im Stück auftaucht, wenn Béralde über seinen Bruders Argan sagt, dass jener bislang nur wegen seiner guten Gesundheit die Ärzte überlebt habe. Die große Kunst des Molière ist es nun, seine Kritik nicht einfach zu formulieren und z.B. einer Figur monologisch belehrend in den Mund zu legen, sondern sie ungezwungen in das komische Geschehen rund um den Hypochonder Argan und seine Familie einzuflechten.

Der Zuschauer der Argans Krankheit als fixe Idee entlarvt hat, kann aus einem sicheren Überlegenheitsgefühl heraus über ihn lachen. Argan versteht weder sich noch seine Handlungen als komisch, da er an seine fixe Idee glaubt. Er ist also unfreiwillig komisch und wirkt deshalb lustiger als ein aktiver Spaßmacher. In der Passivität des Helden liegt also seine dramatische und komische Wirkung. Er glaubt zu handeln und wird durch ihm unsichtbare Mächte geschoben. Derjenige allerdings, der die verborgene Maschinerie des Weltwillens sieht, wird in Überlegenheit lachen. Er vergleicht den komischen Helden mit sich selbst und kommt zu dem Schluss, dass er selbst niemals diese Dummheit begehen würde. Molière bezeichnet es als die Aufgabe der Komödie „die Menschen durch Unterhaltung zu verbessern.“

Durch Distanz und Überhebung gelingt es dem Zuschauer zu erkennen, was er selbst vermeiden will: „Sieh dort auf der Bühne den Geizigen, den Aufschneider, den eingebildet Kranken, lieber Zuschauer, du wirst ihm doch nicht gleichen wollen?“ Moliere stellt einige menschlichen Schwächen amüsant, jedoch unverblümt auf künstlerisch hohes Niveau an den Pranger der Ewigkeit. 

Am Ende des Stückes bringt Moliere die ärztliche Fakultät mit ihrer fragwürdigen Wissenschaft auf die Bühne, damit sie den Kandidaten einer Fachprüfung unterzieht. Im Laufe der in einem lateinisch-französischen Kauderwelsch, eine Art Insider-Geheimsprache vor sich gehenden Prüfung, stellen die Professoren dem Kandidaten der Reihe nach Fragen, wie man diese oder jene Krankheit zu behandeln habe. Auf alle Fragen gibt der Prüfling die phrasenhafte Antwort:

Clysterium donare, Postea seignare, Ensuita purgare. (Klistieren, aderlassen, abführen.)

Nach jeder Antwort ruft das Professorenkolleg in heller Begeisterung:

Bene, bene respondere, Dignus, dignus est intrare In nostro docto corpore. (Gut geantwortet und für würdig befunden, in unsere gelehrte Körperschaft aufgenommen zu werden.)

Damit hat der Kandidat die Prüfung mit vollem Erfolg bestanden. Der Vorsitzende setzt ihm den Doktorhut auf und erteilt ihm feierlich die Ermächtigung:

Purgandi, Seignandi, Percandi, Taillandi, Coupandi Et occidendi Impune per totam terram.

Er darf von nun an getrost purgieren, zur Ader lassen, stechen, schneiden, trennen und ungestraft morden wo immer es ihm belieben mag.

Dabei übertrieb Moliere gar nicht so arg. In der zeitgenössischen ärztlichen Praxis bildete das Aderlassen geradezu das Allheilmittel für jede Art von Krankheit. Auch das musste man natürlich gelernt haben, zumal die damalige Wissenschaft nicht weniger als siebenundvierzig Adern aufzählt, die sich zum Schröpfen eignen. Allein am Kopf gab es fünfzehn.

Auch bei allen anderen Adern war genau vorgeschrieben, bei welcher Art von Erkrankungen sie angezapft werden sollten. Die wichtigste von allen war die Arterie des Oberarmes, deren Anschneiden ein probates Mittel gegen alle Leiden darstellte. Hohes Ansehen genoss auch die Salvatella, genannt feine Ader am Handrücken zwischen Ringfinger und kleinem Finger, von deren Durchschneidung man sich besonders günstige Ergebnisse erwartete, was übrigens auch in ihrem Namen zum Ausdruck gelangt (Salvatio = Heil). Sie wurde bei Leber- und Milzerkrankungen angezapft, und zwar bei einer „Verstopfung der Leber", wie man sich damals ausdrückte, an der rechten, bei Erkrankungen der Milz an der linken Hand.

Der eingebildete Kranke wurde am 10. Februar 1673 mit großem Erfolg uraufgeführt. Molière selbst spielte die Hauptfigur Argan, seine Frau Armande die Rolle der Angélique. Trotz großen Erfolgs der Komödie endete die vierte Vorstellung mit einem traurigen Akt. Molière war damals bereits schwer an der Lunge erkrankt, und im Verlauf der Vorstellung am 17. Februar 1673  erlitt er einen Schwächeanfall. Im sicheren Bewusstsein des nahen Todes bat Molière nach der Vorstellung um die Sterbesakramente. Traurig und gleichwohl komisch ist an der Geschichte, dass die Schauspielerei zur damaligen Zeit als unehrenhaft und als Teufelszeug galt lehnten zwei Priester Molières Bitte ab, erst ein dritter Priester erklärte sich bereit, Molière die Letzte Ölung zu geben: aber er kam zu spät! Im Kostüm des Argan starb Molière ohne Segen hinter der Bühne. Es heißt, erst durch das Eingreifen des Königs konnte er christlich beerdigt werden. Allerdings halten sich seit damals hartnäckig die Gerüchte, dass Molière sterbliche Überreste auf Betreiben der Kirche bald nach der Bestattung ausgegraben und in den für ungetaufte Kinder reservierten Teil des Friedhofs verlegt wurden.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 14.12.2020. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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