Klaus Buschendorf

Spuren von Arbeit

Spuren von Arbeit soll ich suchen auf einem kurzen Spaziergang durch ein kleines Stückchen Stadt. So ein Blödsinn, denke ich. Jedes Haus ist steingewordene Arbeit. Was hat das mit einer Spur zu tun?

Ich bin nicht allein auf diesem Spaziergang. Neben mir läuft schüchtern ein junges Mädchen. Ich kenne sie nicht. Vorhin zum Beginn der Schreibwerkstatt sagte sie etwas hilflos: „Ich war vor Jahren hier, kenne mich nicht aus und verlaufe mich bestimmt.“ Einzeln sollten wir auf Spurensuche gehen. Unschlüssig schauten die Anderen auf die schmale Blondine und gaben flapsig nutzlose Ratschläge. „Kommen Sie doch mit mir. Angst vor mir brauchen Sie doch nicht haben mit meinen sechzig Jahren.“ Und nun zeige ich auf die Häuser neben uns und sage, dass diese zur Gründerzeit entstanden. Erfurt streckte sich damals, die umliegenden Dörfer zu erreichen, nach dem Niederreißen seiner Festungsmauern in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts.

„Ähnliche Häuser sah ich in London“, erwidert sie. Bei ihrer Jugendweihereise sei sie dort gewesen.

Unvermittelt sehe ich mein Bild inmitten von 14 Jugendweihlingen. Im Jahr vorher gab es deren sieben, noch ein Jahr zurück gab es sie noch gar nicht. An eine Jugendweihereise dachte damals niemand. London lag außerhalb jeder Erwägung.

Der Pfarrer ist mir sofort gegenwärtig. „Nun, mein Sohn! Wählst du Satan oder Gott?“ Zum Teil geduckt, zum Teil frech, doch alle gespannt, warteten die Konfirmanden auf meine Antwort. Die anderen Dreizehn blieben nach und nach der Unterweisung über die Bücher des Alten Testaments fern. Mein Vater wollte, dass ich blieb bis zu dieser Frage. Doch nicht er, sondern der Pfarrer wollte ein Entweder-Oder seiner Konfirmanden zur Jugendweihe hören. „Er soll zeigen, dass er dich rausschmeißt. Er soll nicht sagen können, du seiest ferngeblieben.“

„Ich will beides!“ – „Setz dich, mein Sohn!“ Und nach einer salbungsvollen Rede, wonach der Herr die gerechten Schafe seiner Herde schützen müsse vor jenen, die seinem Weg nicht folgen wollen, befahl er mir zu gehen.

„Ich möchte etwas aufschreiben.“ Die Bemerkung meiner Begleiterin löst mich aus meinen Erinnerungen. Folgsam bleibe ich stehen. Wir halten vor einem Eckladen.

Das Mädchen kann nicht wissen, dass ich in diesem beinahe als Kaufmann gestanden hätte, damals 1991. Die hohe Miete hinderte mich. Ich bin darüber hinweg. Ich habe keine Läden mehr.

„Bei Ihnen fangen wir an mit Betriebsprüfungen“, sagte vier Jahre später die Finanzbeamtin. „Ihre Struktur ist ideal für uns, und in ihrer Branche sind sie der Größte.“ Ein paar Jahre früher hätte ich für solches Lob eine Urkunde und einen feuchten Händedruck erhalten, vielleicht gar eine Prämie. Jetzt haben wir Marktwirtschaft. Da kommt das Finanzamt.

Hör auf – Geschichte, sage ich zu mir. Wir queren die große Ausfallstraße. Hier lag bis in die siebziger Jahre das Depot der Straßenbahn. Ich zeige auf die Backsteineinfahrten, das hässlich moderne Gebäude der Stadtwerke auf der ehemaligen Freifläche und erkläre, dass die Werbung der Gebrüder Staufenbiel seit mindestens zehn Jahren nutzlos ist. Die Häuser dahinter stammen auch aus der Gründerzeit. Es ist das alte Arbeiterviertel, Bebelstraße, Lassallestraße. Sie stehen meist leer. Wer kauft und saniert schon alte Mietskasernen? Das sind keine Renditeobjekte wie jene Häuser am Anfang unseres Rundgangs. Die leuchten in frischen Farben und sind bewohnt. Bewohnt waren diese Häuser hier auch, als ich in diese Stadt kam. Grau beherrschte schon damals die Fassaden, allerdings überall – bewohnte Fassaden.

Damals beeindruckten mich viele neue Häuser. Viele Viertel voller Plattenbauten, mittendrin Schule, Kindergarten, Kaufhalle, alles fußläufig erreichbar, das Auto blieb draußen. Noch fehlte es an vielem, besonders an Farbe. Man hoffte, die käme noch. Es ging voran.

Ich zeige meiner Begleiterin die Plattenbauten, die damals anstelle von Abbruchhäusern im Stadtzentrum entstanden. Sie passten sich der historischen Stadtlandschaft an. Als hier noch Fabriken arbeiteten, quirlte Leben in dieser alten Handelsstraße. Grau sah sie damals aus und war voller Menschen. Heute sind ihre Fassaden bunt. Doch die Schaufenster sind meist zugeklebt und an der sauberen neuen Straßenbahnhaltestelle warten kaum Leute. „Ich weiß“, sagt das Mädchen. „Meine Mutter arbeitete damals dort in der Druckerei.“

Wir gehen nicht hin. Ich biege mit ihr an der alten Klostermauer ab und führe sie zu den Fließen der Gera. Der Kontrast kann nicht größer sein: Rechts steht die alte, restaurierte Klostermauer, links werden mit dem Kran auf den Flächen alter Ruinen moderne Stadthäuser montiert. Wir sind im Kerngebiet der Stadt. Wie viele Häuser mögen hier gebaut, verfallen und wieder gebaut, heute ‚montiert’ worden sein? Wie viele Generationen Hoffnungen und Enttäuschungen gab es neben den alten Klostermauern?

Der Blick auf die verträumte kleine Flusslandschaft lässt mich melancholisch werden. Was ist deine eigene Lebensenttäuschung gegen diese Folge so vieler kleiner und großer Kämpfe, Siege und Niederlagen, die in dieser Stadt zu Stein geworden sind? Haben nicht andere Menschen andere Träume geträumt?

Am großen „wilden“ Parkplatz erkläre ich: Das ist das Grab eines Stadtrings. Die Zeit überholte ihn. Die Menschen jener Zeit wollten ihn nicht mehr. Dabei wollten seine Schöpfer nur das Beste, auch und gerade für diese Menschen. Doch sie waren einander fremd geworden, die Menschen, für die sie bauen wollten und seine Bauherren. Nun liegt ihr Stadtring abgebrochen auf jenem schlammigen Parkplatz.

Ein Handy klingelt in der Tasche meiner Begleiterin. Die Freundin ruft an. Gymnasiastengeschichten dringen in Fetzen an mein Ohr. Sie gehen mich nichts an. Als ich noch keine zwanzig zählte, war an ein „Handy“ nicht zu denken, und ein Telefon besaßen nur ausgesuchte Leute. Mein Vater stellte den Pfarrer vor eine Entscheidung. Ich verließ den Konfirmandenunterricht – meine Kameraden schauten mir neidisch nach. Das war mein Jugendweiheerlebnis. Das Mädchen neben mir sah Häuser im fernen London.

Erfurt ist schön und bunt geworden – und hat so viele leere Häuser. Die wurden gebaut und verfielen, werden neu montiert. Mein Lebenstraum erfüllte sich nicht, ich suchte einen neuen. Das alles hat das Mädchen neben mir noch vor sich.

Wir sind zurück. Wir sollten notieren, was uns auffiel bei unserem Gang, nach Spuren der Arbeit zu suchen. Was berichtet sie?

Eine Inschrift beeindruckte sie am meisten, ein Graffiti. „I love you, Sarah!” So kunstvoll gesprüht! – Natürlich! Hätte mich damals auch berührt.

Spuren von Arbeit sollten wir suchen – mein halbes Leben fand ich wieder.

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 25.12.2020. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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