Ein nordisches Geheimnis
17.00 Uhr, Freitag. Gesa lehnt sich erleichtert von innen an ihre gerade geschlossene Haustür. Wochenende. Die Arbeitswoche zeichnete sich wieder mal durch oberflächliche Freundlichkeit und unterdrückten Hass aus. Jetzt beginnt endlich ihr Leben.
Eilig zieht Gesa sich aus, duscht, kleidet sich in ihre lederne Wochenendkluft und legt die Kette mit dem Zeichen von Odin, dem nordischen Gott, an. Sie ist aufgeregt. Konzentriert packt sie ihre Tasche. Nichts darf sie vergessen.
Bei den Kollegen gilt sie als zuverlässig und unauffällig. Über privates spricht sie kaum. Bekannt ist nur, dass sie allein im Haus ihrer Urgroßmutter lebt. Viele halten Gesa für merkwürdig. Schon allein deshalb, weil sie nie zu Betriebsfesten geht. Die Feste sind drei mal im Jahr, immer an einem Freitag. Die Nachbarn kennen Gesa als freundlich und zurückhaltend. Es fällt auf, dass sie kaum Besuch bekommt, an den Wochenenden allein zu Hause ist und dann das Haus nicht verlässt. Einen Freund hat sie nicht. Es gibt zwar welche die ihr gefallen, aber keiner ist wie er. Gedéon. Sie sieht ihn nur am Wochenende, doch sie spürt ein so intensives Gefühl, dass sie davon die ganze Woche zehren kann. Aus ihrer Jackentasche holt sie die Tigeraugen, die sie besorgte. Sie packt sie in einen Lederbeutel und verstaut diesen in ihrer Gürteltasche. Die Steine sind für die alte Eule. Gesa versprach sie ihr letzte Woche. Ein Tauschgeschäft. Beide halten stets was sie versprechen. Alle Dinge sind nun gepackt. Gesa macht ein paar Dehnübungen und Luftkämpfe in der Küche, während sie Tee trinkt und etwas Obst isst.
Wie jeden Freitag zieht sie gegen 18.30 Uhr alle Vorhänge im Haus zu. Es ist jede Woche das gleiche Ritual. Schon immer. In der Strasse in der sie lebt, sind die Leute daran gewöhnt. Auch ihre Uroma zog freitags um 18.30 Uhr alle Vorhänge zu. Aus dem Haus dringen manchmal Geräusche, aber nur wenn es zu Unpünktlichkeiten kommt. Von außen für niemanden zu erahnen. Gesa hatte ein gutes, sehr inniges Verhältnis zu ihrer Uroma, Ragna von Nido. Was jeden wunderte, hatte die Alte doch sogar ihrer eigenen Tochter die Tür gewiesen. Als Gesa noch ein Kind war, zog Ragna sie magisch an. Jede freie Minute verbrachte sie bei ihr. Die Alte war bekannt im Ort. Nicht, dass sie etwas besonderes getan hätte. Nein, sie wirkte unheimlich. Keiner wagte ihr zu widersprechen. Sie muss uralt gewesen sein. Als sie starb, wusste keiner genau wann sie geboren wurde. Nur Gesa, doch die schwieg.
Gesa zieht die Stecker aller Geräte in der Stube raus, schließt alle Zimmertüren. Es ist 19.15 Uhr. Noch 15 Minuten. Das Klingeln des Telefons reißt sie aus der Bahn. „Von Nido“, meldet sie sich. Es ist eine Kollegin. Sie hört nicht auf zu reden und Gesa läuft die Zeit davon. Schließlich schafft sie es das Gespräch zu beenden. 19.32 Uhr!! Das Weiß in Gesas Augen ist deutlich zu sehen. Eine Gänsehaut überzieht ihren Körper. Sie versucht ruhig zu atmen. Schon einmal passierte es ihr, dass sie unpünktlich war. Ragna warnte sie eindringlich davor sich nie zu verspäten. Damals durchlebte sie ein Höllenwochenende, welches sie nie vergessen wird.
Da ist es wieder. Dieses Zischen, Kratzen und Ticken. Weglaufen geht nicht. Ihre Hände schwitzen. Sie beruhigt sich mit den Sätzen die Ragna ihr anvertraute. Immer wieder spricht sie die Worte deutlich und laut, aber nicht zu laut, vor sich her. „Nordwind, Nordwind sei mein Gast. Nordwind, Nordwind trage mich. Nordwind, Nordwind gib mir Kraft.“ Gesa nimmt ihre Tasche. Die Geräusche werden lauter. Sie wurde nicht erwählt, sie ist auserwählt und hat keine Wahl. Gesa öffnet die Tapetentür in der Stube. Das grelle Licht blendet sie. Die Geräusche sind nun ganz nah. „Wo bleibst du nur?!, kreischt die alte Eule und flattert ihr entgegen. Gesa springt hinein in die andere Welt, hinter der Tapetentür. Gleichzeitig klappen die einzeln befestigten Buchstaben ihres Nachnamens an der Haustür um. ODIN, ist dort nun zu lesen.
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 26.12.2020.
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