Langsam gehe ich auf das große Gebäude zu. Die Fassade erinnert
mich stark an das Krankenhaus, in dem ich in der achten Klasse mein Praktikum
absolviert habe. Der Eingang unterscheidet sich allerdings zu dem in meiner
Erinnerung. Am Eingang des Krankenhauses gab es eine ganz normale
Glastür, doch hier befindet sich eine Drehtür.
Ich
drücke meine Hände gegen die Scheibe und bewege mich hinter dieser
in das Innere des Gebäudes. Nun befinde ich mich in einem kleinen,
gekachelten Treppenhaus. Mir gegenüber steht ein massiver stählerner
und dennoch recht klein wirkender Aufzug. Rechts und links von ihm gehen
Treppenstufen nach oben und nach unten ab. Gedankenverloren betätige ich
den Knopf.
In welchen Stock muss ich eigentlich?
Plötzlich öffnet sich quietschend die Tür des Aufzugs. Eine
Frau steht mir gegenüber und lächelt mich freundlich an. Ihre
braunen Haare sind zu einem ordentlichen Pferdeschwanz
zurückgekämmt. Sie trägt dezentes Markup, das ihre grauen Augen
unterstreicht und einen seltsamen Kontrast zu ihrem pinken Overall darstellt.
Ihre helle Porzellanhaut ist auffallend makellos.
„Willst du einsteigen?“ fragt sie und blickt mich dabei herzlich
an.
Als ich nicke und zu ihr in den Fahrstuhl
steige, kommt es mir so vor, als hätte da irgendetwas in ihren Augen
kurzzeitig aufgeblitzt.
Die Tür schließt sich hinter
mir.
„Nach oben oder unten?“ Fragt sie
„Nach oben, bitte“ antworte ich.
Sie nickt und
drückt auf den Pfeil nach oben. Das ist aber seltsam. Hier gibt es keine
zich Knöpfe für jede Etage des Gebäudes, sondern lediglich
zwei. Ein Pfeil nach oben und einer nach unten.
Ruckelnd setzt sich der
Aufzug in Bewegung.
„Wie heißen Sie eigentlich?
“ frage ich die Frau.
Sie lächelt mich an, als
wäre ich ein Kind, das gerade gefragt hat, warum der Himmel blau sei.
„Du kannst mich so nennen, wie du dir meinen Namen
am ehesten vorstellst.“
Wie seltsam. Und auch vollkommen
surreal. Dennoch, ohne es vorher bemerkt zu haben, schwebt seit Betreten des
Fahrstuhls der Name Adriana in meinem Kopf.
Als hätte sie meine
Gedanken gelesen, nickt sie.
Der Aufzug hält mit einem
bekannten hellen „PING“ Ton an und die Tür öffnet sich.
Ich blicke in den vollkommen leeren Raum. Die Wände sind hell und
der Boden ist mit erstaunlich weißen Teppichen ausgelegt.
„Nur zu“ sie gibt mir mit einer Handbewegung zu verstehen, dass
ich das Zimmer betreten soll. Behutsam setze ich erst einen Fuß auf den
flauschigen Teppich, dann den nächsten. Es ist angenehm kühl hier.
Vorsichtig streiche ich beim Vorbeigehen mit meiner Hand über die Wand zu
meiner rechten. Die helle Tapete hat eine leicht raue Struktur. Die ebenfalls
weiße Fußleiste ist verziert mit fein säuberlich
eingravierten kleinen Wellen. Ich blicke durch das riesige Panoramafenster,
welches sich über die gegenüberliegende Wand erstreckt. Von hier aus
habe ich einen tollen Ausblick auf eine wunderschöne Gebirgskette. Dicht
an dicht gedrängte Bäume, die von einem kleinen Trampelpfad
durchzogen werden. Die Farben sind beeindruckend intensiv und es kommt mir so
vor, als könnte ich die Nadeln der Tannen riechen. Weiter rechts befindet
sich ein gigantischer Wasserfall, der Ähnlichkeiten mit den Niagara
Fällen hat. Es ist einfach atemberaubend. Der Anblick hat eine so
beruhigende Wirkung auf mich, sodass ich am Liebsten für immer hier
bleiben würde.
Ein Räuspern von hinten reißt mich
aus meinen Gedanken. Ich drehe mich zu Adriana um.
„Tut
mir leid, aber wir müssen weiter“ meint sie und zeigt mit ihrem
Finger nach oben.
Ich nicke und betrete erneut den Fahrstuhl, die
Tür schließt sich hinter mir und wir fahren eine Etage höher.
„Was war das eben?“ frage ich sie.
„Wie hast du dich denn dabei gefühlt?“
„Ich weiß nicht…“ überlege ich “irgendwie
friedlich… vielleicht auch ein bisschen ruhig. So als wäre ich
angekommen. Ergibt das irgendeinen Sinn?“
Adriana nickt nur
und dreht mir den Rücken zu. Ich warte darauf, dass Sie ihre
Erklärung fortsetzt, doch sie bleibt stumm.
PING
Wir sind im zweiten Stock angekommen. Quietschend öffnet sich die
Tür und gespannt halte ich die Luft an.
Ich kann meinen
Augen nicht trauen. Der zweite Stock ist ein Raum so groß wie ein
königlicher Ballsaal und von oben bis unten gefüllt mit Geld,
Schmuck und weiteren unzähligen Dingen, die ich noch nie zuvor gesehen
habe, die dennoch, dem Aussehen nach zu urteilen, ein Vermögen wert sein
müssten. Es ist einfach Wahnsinn. Sofort steige ich aus dem Aufzug aus,
nicht mehr so zögerlich wie eine Etage zuvor. Neugierig und fassungslos
durchquere ich den Saal und nehme alles genauestens unter die Lupe.
Unzählige Scheine, Goldbarren, Perlen und Diamanten stapeln sich bis
unter die mindestens drei Meter hohe Decke. Der Boden besteht aus dunklem,
sehr hochwertig wirkendem Massivholz. An der Decke befinden sich sechs
gigantische Kronleuchter, mit beinahe unendlich vielen Kristall-
Applikationen. Ich stürze auf den Berg aus 500 Euro Scheinen zu um
danach zu greifen, aber als das Geld meine Finger berührt, fließt
es plötzlich wie flüssiges Wachs zu beiden Seiten meiner Hände
hinunter. Was soll das denn? Ich greife nach den Goldbarren, doch das gleiche
passiert auch hier. Auch die Perlenketten, die Diamanten, alle wertvollen
Dinge zerfließen in meiner Hand. Das ist ja verrückt!
Ich höre Adriana hinter mir leise kichern.
„Das wird
aber auch nie langweilig“ lacht sie “na los, es geht
weiter.“
Verdattert drehe ich mich suchend im Saal umher,
doch der gesamte Inhalt ist verschwunden.
Völlig von der Rolle
steige ich zu ihr zurück in den Fahrstuhl. Die Tür
schließt sich erneut hinter mir.
„Und was sollte das
nun schon wieder? Das Geld war da ich habe es doch gesehen, aber ich konnte es
einfach nicht greifen.“ Immernoch kann ich es nicht fassen.
„Ganz genau.“ Adriana nickt zustimmend, als hätte ich mir
gerade meine Frage selbst beantwortet. Diese ganze Geheimnistuerei geht mir so
langsam echt auf die Nerven.
Sie drückt erneut auf den Knopf
und wir bewegen uns nach oben.
PING
Der dritte
Stock.
Die Tür öffnet sich und sofort trifft mein Blick
auf einen großen, sehr antik wirkenden Spiegel in der Mitte des Zimmers.
Ansonsten befindet sich nichts in diesem Raum, nicht einmal Fenster. Dennoch
ist es hier hell, doch ich kann nirgends die Herkunft der Lichtquelle
entdecken. Ich trete näher an den Spiegel heran bis ich direkt davor
stehe. Er ist umrandet von einem silbergrauen Rahmen und verziert mit
millionen von feinen Schnörkeln.. Ich erkenne mich selbst, allerdings
sehe ich anders aus. Irgendwie… hübscher? Ich bin definitiv
schlanker und habe blaue Augen, dabei sind meine Augen eigentlich braun. Der
Anblick gefällt mir, ich wollte schon immer blaue Augen haben. Seltsam.
Der Spiegel zeigt einem wohl wie man gerne aussehen würde.
„Könnte ich den vielleicht mit nach Hause nehmen?“ Ich lache,
doch von Adriana kommt keine Reaktion.
„Wir
müssen…“ setzt sie an.
„Weiter, jaja ich
weiß schon“ unterbreche ich sie und befinde mich kurz darauf
wieder im Aufzug auf dem Weg in den vierten Stock.
„Ich
muss schon zugeben, diese Etage hat mir bis jetzt am besten gefallen“
meine ich grinsend.
Wieder nickt sie nur, statt mir zu
antworten. In ihren Augen scheint jedoch etwas aufzublitzen, was ich vorher
noch nicht gesehen habe. Verachtung? Hohn? Ich kann es nicht richtig deuten.
Bevor ich weiter darüber nachdenken kann, sind wir auch schon
stehengeblieben.
Die Tür öffnet sich, gespannt strecke
ich meinen Kopf aus dem Fahrstuhl. Plötzlich stockt mir der Atem. Der
Raum ist voller Menschen, die ich kenne. Sie lächeln mir, während
ich an jedem einzelnen vorbeilaufe, aufmunternd zu. Langsam durchquere ich das
Zimmer.
Da ist mein ehemaliger Biologielehrer, der mir zuwinkt.
Meine Urgroßmutter, die offensichtlich wieder sehen kann.
Ich kann mich kaum daran erinnern, wann ich sie denn das letzte Mal gesehen
habe.
Tobi, der kleine Junge aus meinem Heimatdorf, der in der
Grundschule eine Klasse unter mir war. Er ertrank mit zwölf Jahren in
einem See.
Vor meinem Patenonkel bleibe ich stehen.
„Du bist ziemlich groß geworden“ er lächelt mich
freundlich an.
„Wo bin ich hier?“
„Ich glaube, das weißt du selbst“ antwortet er.
Ich denke kurz nach. „Und was passiert jetzt?“ frage ich.
„Die Entscheidung liegt bei dir. Das ist der oberste Stock.
Entweder du bleibst hier oder du fährst zurück ins
Erdgeschoss.“
„Kann man noch tiefer fahren?“
wenn es nach oben geht muss man schließlich auch nach unten können.
Adriana kommt ihm jedoch zuvor: „Wir müssen
gehen.“
Ich will mich gerade wieder zu meinem Patenonkel
umdrehen, um mich zu verabschieden, doch er ist weg. Alle sind weg, der Raum
ist nun leer.
Ich betrete erneut den Fahrstuhl. Gedankenverloren
und noch immer das Gesehene verarbeitend, bitte ich sie am Erdgeschoss
vorbei in die unteren Etagen zu fahren.
„Bist du sicher?
“ fragt sie skeptisch. Ich nicke entschlossen.
Wieder
lächelt sie. Doch diesmal hat ihr Lächeln etwas Kaltes an sich. Sie
betätigt den Knopf und wir bewegen uns nach unten. Währenddessen
betrachte ich den Aufzug zu ersten Mal, seit ich eingestiegen
bin genauer. Erst jetzt fällt mir auf dass hier gar kein Fluchtplan
ausgehängt ist, wie das normalerweise der Fall sein sollte.
Außerdem kann ich nirgendwo ein Notfalltelefon entdecken, geschweige
denn einen Notknopf.
Es kommt mir vor wie eine halbe Ewigkeit
als der Aufzug endlich stockend zum stehen kommt.
PING
Die Tür öffnet sich. Dahinter befindet sich ein großes
zimmer, das komplett mit Spiegeln ausgekleidet ist. Nicht nur die Wände
sondern auch der Boden und die Decke. Vorsichtig steige ich aus und drehe mich
einmal um die eigene Achse, um alles genauer unter die Lupe zu nehmen. An den
Wänden sind Haltestangen befestigt, wie man sie in jedem Tanzraum
vorfindet. Ich erinnere mich daran, wie ich früher in einem
ähnlichen Raum Ballettunterricht hatte.
Ich trete näher
an die Stange heran und berühre mit beiden Händen den Holzgriff
während ich diesen eingehender betrachte. Ein leicht vertrautes
Gefühl macht sich in meiner Brust breit.
Ich blicke nach
oben, meinem Spiegelbild entgegen. Langsam hebe ich meine Hand und drücke
sie vorsichtig gegen die meines Spiegel-Ichs.
Dann geschieht
etwas Seltsames.
Über das Gesicht meines Spiegelbildes macht
sich nach und nach ein hässliches, geradezu verstörendes Grinsen
breit. Verwirrt komme ich mit meinem Gesicht näher und näher
während das Grinsen immer breiter und immer furchterregender wird. Angst
beginnt mir die Kehle zuzuschnüren.
„Das bist nicht
du! Das bist nicht du!“ wiederholt eine fremde Stimme in meinem Kopf in
einem verstörenden, beinahe manischen Sing Sang.
Plötzlich streckt mein Spiegel-Ich den Kopf weit nach hinten, wie um
auszuholen, und rammt ihn kurz darauf mit voller Wucht gegen seine Seite des
Spiegels, welcher sofort zerspringt.
Erschrocken zucke ich
zurück und lande rücklings auf dem Boden. Was war das??
Hinter mir huscht kichernd etwas vorbei. Panisch drehe ich mich um, doch bis
auf mein eigenes Spiegelbild, welches wieder normal an meine Bewegungen
angepasst ist, kann ich nichts erkennen. Angsterfüllt blicke ich wieder
zu dem eben noch kaputten Spiegel, nur um zu erkennen, dass dieser vollkommen
unversehrt ist. Nicht einmal ein kleiner Riss ist zu erkennen.
Schnell rappel ich mich auf und renne, wie von der Tarantel gestochen, zum
Aufzug zurück.
„Können wir weiterfahren?“
fragt Adriana munter, als hätte sie eben nichts mitbekommen. Zitternd
nicke ich und sie drückt auf den Knopf. Während sich der Fahrstuhl
erneut eine Etage tiefer bewegt, sitzt mir der Schock immer noch tief in den
Knochen.
Erst jetzt fällt mir die farbliche veränderung
von Adrianas Overall auf. Das vorhin noch strahlende Pink hat sich
mittlerweile in ein dunkles rot verwandelt und sieht an den Ärmeln nun
leicht abgenutzt aus.
PING
Das Geräusch
lässt mich erschaudern. Die Tür öffnet sich ächzender und
langsamer als zuvor, als wäre sie eine Weile nicht mehr geölt
worden. Ich betrete das Zimmer dahinter. Es ist düster und meine Augen
brauchen zunächst eine Weile um sich daran zu gewöhnen. Nach einigen
Sekunden erkenne ich dass auch dieser Raum leer ist, bis auf einen kleinen
kastenförmigen Gegenstand, der in der Mitte auf dem Boden steht. Bis auf
die makellos glänzende Box, ist das gesamte Zimmer sehr staubig. Die zwei
Fenster an der gegenüberliegenden Wand sind notdürftig mit ein paar
Brettern verriegelt und von der ehemaligen Scheibe ragen lediglich
ein paar Glassplitter aus dem Fensterrahmen hervor. Ich habe das
Gefühl als wäre ich schon einmal hier gewesen. Der ganze Staub in
der Luft und auf dem alten Holzfußboden wirkt beinahe so, als hätte
dieser Raum vor langer Zeit zu jemandem gehört, vielleicht einer Familie,
die ihn einst verlassen, und von da an nie wieder betreten hatte. Es hat etwas
Beklemmendes und Trauriges an sich.
Bei genauerem Hinsehen
erkenne ich an der Seite des Kastens eine kleine Kurbel. Muss wohl eine von
diesen Drehorgeln sein, mit denen Kinder so gerne spielen.
Als
ich näher trete fangen plötzlich Stimmen von allen Seiten an auf
mich einzuprasseln, ich kann jedoch niemanden sonst im Raum erkennen,
geschweige denn die Richtung, aus der sie kommen ausmachen. Abrupt bleibe ich
stehen und sofort verstummen auch die Geräusche wieder. Erneut setze ich
einen Fuß vor den anderen und im selben Moment geht das Stimmengewirr
von Neuem los. Gleichzeitig fängt nun die Kurbel der Drehorgel an sich
langsam, ganz von selbst zu drehen. Sie dreht sich und wird schneller und
immer schneller und im gleichen Takt werden die Stimmen langsamer, lauter und
aggressiver. Der Lärm ist beinahe nicht mehr auszuhalten. Kurz bevor ich
an das Spielzeug gelange hat die Kurbel ein mittlerweile rasantes Tempo
erreicht und die Stimmen sind so laut und langsam. Ich kann nicht verstehen,
was sie sagen, doch ich kann ihren Schmerz spüren. Sie leiden. Ich kann
fühlen wie sehr sie sich quälen.
Schlagartig springt
der Deckel der Box auf und plötzlich ertönt der
markerschütternde Schrei einer Frau. Mir kommt es so vor, als
wäre sie in meinem Kopf. Das Kreischen durchströmt meinen gesamten
Körper, es ist, als hätte sich mein Blut in ätzende Säure
verwandelt und als stünde ich in Flammen. Unter unbeschreiblichen
Schmerzen windend lasse ich mich auf die Knie fallen und presse beide
Hände gegen meine Ohren.
„Sie soll aufhören!
Mach, dass es aufhört!“ schreie ich immer und immer wieder. Ich
blicke auf und sehe den Aufzug. Mit allerletzter Kraft kann ich mich
aufrappeln und schaffe es nur mit großer Mühe zurück in den
Fahrstuhl zu steigen. Die Tür schließt sich und sofort stoppen das
Schreien und die Schmerzen. Keuchend blicke ich an mir herunter. Ich bin
vollkommen unversehrt. Noch immer sichtlich unter Schock bemerke ich nicht
einmal, dass Adriana erneut auf den Pfeil nach unten drückt und wir
weiterfahren. Erst das vertraute „PING“ reißt mich aus
meiner Schockstarre.
„Nein!“ kreische ich und will
auf den Pfeil nach oben drücken bevor sich die Tür öffnen kann,
doch er ist verschwunden. Hier ist nur noch der Knopf mit dem nach unten
gerichteten Pfeil.
Die Tür öffnet sich und offenbart
mir einen furchteinflößenden Anblick. Das ist ein Kindergarten. Er
sieht aus wie der, den ich als Kind besucht habe. Links von mir ist eine
Leseecke mit zwei kleinen Bücherregalen. Dahinter liegen verstreute
pechschwarze Bauklötze herum. An der wand hängen selbstgemalte
Bilder, wie in meinem alten Kindergarten. Doch da sind keine Zeichnungen von
Familien oder Autos oder Häusern. Manche Blätter wurden einfach mit
schwarzen Wachsmalstiften so stark bearbeitet, dass sie in der Mitte gerissen
sind. Auf einem Bild hält ein gezeichnetes Strichmännchen ohne Augen
den Kopf eines anderen Männchens, welches zwei große X anstelle von
Augen hat. Einige Bilder sind mit seltsamen Zeichen vollgekritzelt, die ich
noch nie zuvor gesehen habe. Aber sie erinnern mich an diese alten Runen, die
oft in Filmen verwendet werden, wenn über Kulte oder Rituale gesprochen
wird. Das hier ist nicht mein Kindergarten, dieser Ort ist definitiv
böse.
Eine Gruppe von Kindern sitzt in der Mitte des
Zimmers in einem Kreis auf dem Boden. Plötzlich heben sie alle
gleichzeitig die Köpfe. Ich zucke erschrocken zurück. Jedes der
Kinder hat vollkommen weiße Augen, bei keinem einzigen kann ich die Iris
erkennen.
Ruckartig stehen sie auf und kommen mit bizarr
abgehackten Bewegungen auf uns zu.
„Nein, nein, nein, nein,
nein!“ panisch drücke ich wie wild auf den Knopf. Es ist mir egal
ob es weiter nach unten geht, Hauptsache weg von hier. Endlich schließt
sich die Tür.
Jetzt fällt mir erst auf, dass das Innere
des Aufzuges langsam zu zerfallen scheint. An einigen Stellen fehlt die
Stahlverkleidung und an anderen Stellen sind sogar Löcher, hinter denen
sich das schwarze, endlose Nichts befindet. Auch Adriana hat sich sichtlich
verändert. Ihr Overall hat mittlerweile die Farbe von Pech angenommen und
ist komplett zerfetzt. Einige Haarsträhnen haben sich aus ihrem
Pferdeschwanz gelöst und hängen ihr strähnig ins Gesicht.
Endlich setzt sich der Aufzug ruckelnd in Bewegung. Das
Wackeln ist mittlerweile erheblich stärker geworden und nach und
nach lösen sich mehr und mehr Bestandteile des Fahrstuhls in Luft auf.
Bevor sich die Tür im nächsten Stock öffnen kann, drücke
ich schnell den Kopf, damit wir nahtlos weiterfahren. Plötzlich nimmt der
Fahrstuhl eine rapide Geschwindigkeit an. Das Ruckeln wird kräftiger
und fühlt sich beinahe so an, als würden wir wie ein Pendel hin und
herschwanken. Ich halte mich an den seitengriffen fest und blicke zur
Tür, dich jedoch zu meiner Bestürzung nun vollständig
verschwunden ist. In rasendem Tempo bewegen wir uns weiter nach unten, wir
halten nicht einmal mehr an. Etage um Etage kommen die gruseligen Kinder mit
ihren seelenlosen Augen immer näher, ein paar Stockwerke später
werden sie bei uns angekommen sein.
„Bring mich bitte nach
oben, ich will das nicht mehr!“ flehe ich Adriana an. Deren Gesicht ist
jetzt zu meinem Erschrecken zu einer entstellten Fratze verzerrt, die direkt
aus einem Horrorfilm hätte entspringen können.
„Hat man einmal den Weg nach unten eingeschlagen, gibt es kein
zurück mehr.“ Sie beginnt zu kichern, immer lauter, bis sich das
Kichern in ein hysterisches und gehässiges Lachen verwandelt.
Der Aufzug wackelt nun so stark, als würde er jeden Moment
auseinanderfallen. Ich werde hin und hergeworfen und lande schließlich
unsanft auf dem Rücken, während Adriana völlig regungslos auf
mich hinabblickt.
„Was ist das nur für ein Ort???
“ kreische ich voller Panik.
„Wenn du das immer noch
nicht kapiert hast, bist du endgültig verloren.“ Adriana wirft
ihren Kopf in den Nacken und lacht, als hätte sie den Witz des
Jahrhunderts gebracht.
Und plötzlich spüre ich wie wir
nicht mehr fahren, sondern fallen. Unzählige Arme tauchen von unten auf
und versuchen nach mir zu greifen. Angsterfüllt kauere ich mich wie ein
kleines Kind in der Ecke auf dem Boden zusammen. Adriana blickt noch immer
voller Belustigung auf mich herab. Ihre Haut hat nun nicht mehr den reinen
Porzellanton von vorhin, sondern ist jetzt übersäht von frischen
Brandwunden.
Ich schlage die Hände vor mein Gesicht und
beginne zu weinen und mich hin und herzuwiegen.
„Ich will
nach Hause. Ich will nach Hause. Ich will nach Hause“ schluchze ich
immer wieder, während die Welt um mich herum zerfällt.
PING
Langsam und zitternd nehme ich meine Hände vom Gesicht.
Ich stehe im Erdgeschoss vor dem Aufzug, der sich gerade öffnet. Adriana
blickt mich freundlich an.
„Willst du einsteigen?“
Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Alina Marx).
Der Beitrag wurde von Alina Marx auf e-Stories.de eingesendet.
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 30.12.2020.
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