J. Hackbart

Die Spinne an der Wand

Er knipste die einsam wirkende Glühbirne in dem kleinen Raum an und setzte sich auf das Sofa. Er wippte dabei wieder ein kleines Stück hoch. Die Federn waren besser als erwartet. In der Spiegelung der Fensterscheibe sah er die leere Wand. Sie war voller Bohrlöcher und hatte vereinzelte Nägel in der Wand. Mit dem verdächtig aussehendem Fleck an der Badezimmerwand war es das Einzige, was auf seinen Vormieter hinwies. Oder Vormieterin. Er war sich nicht sicher wer vor ihm hier gewohnt hatte. Nichts in der Wohnung gab ihm diesbezüglich einen Hinweis. 

 

Früher hatte ihn so etwas nicht interessiert. Früher hatte ihn eigentlich gar nichts interessiert. Aber das wollte er nun ändern. Nicht nur das. Er wollte sich ändern. Die kahle Wand gegen die er starrte, war als Neuanfang geplant. Ein Neuanfang in einer anderen Umgebung. Einer in der man ihn nicht bemerken würde und nicht unter die Lupe nehmen. In seinen Gedanken mahlte er sich seine Zukunft aus. So glänzend und schön. Das Gegenteil von dem was hinter ihm lag. Er würde sich auf das Gute in ihm konzentrieren. Wenn er es denn in sich trug. Seine Mutter hatte diesbezüglich Zweifel geäußert. Sie hatte nichts gesagt, nicht geschrieben oder geweint. Sie hatte ihn nur angesehen. Sie war nie eine Frau der Worte gewesen, ihre Blicke hatten schon immer mehr ausgesagt als es Worte hätten tun können. Ihren Blick und die verzogenen Mundwinkel hatten schnell durchsickern lassen, was sie von ihm hielt. Als kleiner Junge hatte er ihre Blicke nie deuten können, wenn er sie zur Abwechslung mal bemerkte. Es zählten die Worte, die aus ihrem Mund kamen und das waren bei Gott nicht viele. Vielleicht war er deswegen verkorkst. 

Er seufzte und war etwas erschrocken als der kahle Raum den leisen Klang so laut erschienen ließ. Er hatte seinen Gedankenstrom unterbrochen und war froh drum. Bei einem Neuanfang sollte man sich nicht selbst im Weg stehen und er hatte das Gefühl das tat er, wenn er zu viel über seine Kindheit und seine Mutter nachdachte. Er würde sich beschäftigen, um den Gedanken zu entgehen. Er lehnte sich zur Seite und schaltete das mit flecken besprenkelte Baustellenradio ein und leise Melodie erfüllte den Raum mit Leben.

 

Er starrte wieder auf die weiße Wand. In einer Ecke entdeckte er das staubbedeckte Netz einer Spinne. Die Spinne schien schon eine Weile nicht mehr dort gewesen zu sein. Die Spinne hätte sicher gewusst, wer vor ihm hier wohnte. 

 

Spinnen erinnerten ihn an seine Kindheit. Er war nie ein Freund der Spinnentiere gewesen. In der Grundschule wurde ihm mal eine ins Essen gesetzt. Seine erste negative Erfahrung mit Menschen, die ihm nicht nah standen. An seinem ersten Tag in der Grundschule hatte er nicht verstanden, was der kleine Junge mit dem karierten T-Shirt von ihm wollte und hatte ihn gestehen gelassen. Daraufhin saß er alleine an einem Tisch in der Kantine, weil sich niemand zu ihm gesetzt hatte. Alle hatten ihn nur beobachtet, wie er in seine Nudeln piekste. Er war erleichtert als der Junge im karierten T-Shirt auf seinen Tisch zusteuerte. Er konnte ja nicht ahnen, dass dieser ihm eine Spinne in die Nudeln werfen würde. Erstrecht hatte er nicht geahnt, dass die Spinne seine Isolation für die nächsten zwei Klassenstufen bedeuten würde. Es schauderte ihn, wenn er daran dachte, wie grausam Kinder sein konnten. Und wie grausam er sein konnte. Er würde das blöde Netz später wegsaugen.

 

Im Radio erklang eine Melodie, die er nur allzu gut kannte. Sein Freund - man konnte ihn kaum Freund nennen, eher Leidensgenosse - hatte die Melodie immer gesummt, wenn er sich bedroht fühlte. Und sein Leidensgenosse fühlte sich oft bedroht. Ebenso oft wie er selbst. Zusammen hatten sie schon einige Situationen erlebt, die von dieser Melodie durchtränkt waren. Die Melodie verstummte erst als sie sich mit nassen Köpfen auf dem Schulklo einen Schwur gaben: Sie würden, wenn sie gemeinsam auf die weiterführende Schule kommen würden wie es geplant war, sich wehren. Aus dem Wehren wurde schnell ein Angriff. Die Rache der vier Jahre voller Quälereien und Horror bestand aus daraus folgenden Jahren der Quälereien und Horror. Nur hatten die Seiten gewechselt. Der Seitenwechsel führte dazu, dass er den Schnurrbart des Schuldirektors öfter sah als seinen Erzeuger. Und der Schnurrbart des Direktors führte zu einem stetig eisigen Blick seiner Mutter. 

 

Statt den Blick ertragen zu müssen, blickte er in fremde Augen, die bald vertrauter wurden. Er blickte aus fremden Wohnzimmern auf schmutzige Straßen und die schmutzigen Straßen erblickten ihn. Es dauerte nicht lang und die vertrauten Augen sahen in ihm nicht einen kleinen Jungen in der sechsten Klasse, sondern als Teil der schmutzigen Straße. Seine Mutter bekam er weniger häufig zu Gesicht. Eigentlich nur, wenn sie ihn irgendwo abholen musste. Er schlief auf dem Sofa im fremden Wohnzimmer und traf sich alle zwei Wochen mit seiner Mutter auf dem Polizeirevier. Er war ein wenig stolz darauf, dass die Beamten ihn schon mit Namen kannten und ihn nicht nach der Nummer seiner Mutter fragen mussten. Jetzt schämte er sich dafür.

 

Scham überkam ihn auch als er daran zurück dachte, dass seine Mutter ihn nicht nur von dem Revier abgeholt hatte. Sie hatte ihn auch im Krankenhaus besucht als es ihm nicht gut ging. So erzählte er es sich selbst. Das es ihn nicht gut ging. Tief im Inneren wusste er, dass er sich die Wahrheit verschwieg. Es ging ihm nicht nur nicht gut, ein Türsteher hatte beschlossen ihn in die Obhut von Fachkräften zu geben. Es war unschwer zu erkennen, dass die Sucht nach dem Gefühl bei einem Schuss ihn nach weiter oben auf der Warteliste für den Sensenmann gebracht hatte. Aber der Sensenmann hatte warten müssen. Eine weitere Change bekam er allerdings.

 

Die zweite Change Ranglistenerster zu werden, folgte unmittelbar. Nachdem er alle von seiner Reue und Bereitschaft für ein Leben ohne Rauschmittel überzeugen konnte, wohnte er für kurze Zeit bei seiner Mutter. In ihrem Blick war nicht nur Groll gegen ihn zu sehen, sondern ab und zu ein Funke Besorgnis. Er schien seiner Mutter näher zu kommen, aber übersah die unüberwindbare Plexiglasscheibe zwischen ihnen. Die Besorgnis in ihren Augen war nicht für ihn bestimmt. Das bemerkte er schmerzhaft als er seinen Vater zu Gesicht bekam. Das erste Mal seit der Grundschule. Sein Erzeuger war alt geworden, aber genauso gefährlich geblieben wie er ihn in Erinnerung hatte. Sie gerieten aneinander sobald sie sich sahen. Es schmerzte ihn als sein Vater ihn auf den Glastisch warf und ihn wüst beschimpfte. Der Grund für den Ausraster fehlte in der Erinnerung - falls es einen gegeben hatte. Die Besorgnis in den Augen seiner Mutter verschwand als er ihr seinen Auszug verkündete. Er zog in fremde Wohnzimmer, die wieder vertraut wurden und er zog fremde Substanzen, die wieder vertraut wurden. Diesmal besuchte ihn seine Mutter nicht im Krankenhaus. Diesmal war es ein Vertreter der Suchtberatung.

 

Nach der Klinik konnte er nicht gänzlich von fremden Wohnzimmern fernbleiben. Die Wohnzimmer, die er nun besuchte, hatten keine Baggys. Dafür hatten sie Patronen. Genau das richtige Spielzeug für einen Siebzehnjährigen. Es fiel ihm schwer daran zurück zu denken. An den Unfall. Eine Patrone hatte sich gelöst, die er nur allzu gern zurück im Magazin wissen würde. Aber er konnte es nicht ändern, auch wenn er es wollte. 

 

Geräusche von einer Menschengruppe drangen durch sein Fenster. Der Abend schien trotz der Jahreszeit lau zu sein. Vielleicht sollte er die Löcher in der Wand füllen und die Nägel ziehen. Bald würde er seine weiße Wand streichen und die ungeliebten Flecken und Unregelmäßigkeiten ausbessern. Vielleicht lieber morgen. Er wippte vom Sofa und knipste die einsam wirkende Glühbirne in dem kleinen Raum aus.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 04.01.2021. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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