Jürgen Malodisdach

Lebenslinie per Bahn

Lebenslinien

 

Es ist so sechs Uhr, früh natürlich. Meint der Wecker und klingelt. Seine Meinung ist das nicht, deshalb ignoriert er das Gebimmel. Bis Mutter kommt und ihn darauf hinweist, daß kurz nach Sieben die Straßenbahn fährt. Die muß er nehmen um noch rechtzeitig zur Arbeit zu kommen.

Also Aufstand und die üblichen Dinge erledigen, die sein müssen. Mutter hat schon alles fertig gemacht.

Die Thermosflasche mit heißem ,gesüßten schwarzen Tee und drei Paar Stullen liegen neben seiner Aktentasche. Die war nicht mehr ganz neu aber noch gut in Schuß .

Neue Taschen gibt es nur schwer. Und wenn, sind sie teuer in den Fünfziger Jahren des vorigen Jahrhunderts. Millionär oder zumindest Großverdiener ist er nicht. Mit Mutter und Bruder wohnt er in einer Altbauwohnung am Rande der Stadt. Ist froh darüber, denn es gibt Menschen, denen es viel schlechter geht.

Sein Frühstück fällt kurz aus. Muß aber sein, denn seine nächste Pause im Betrieb ist erst um halb Zehn. Dreiundzwanzig ist er, ledig und ohne sonstigen Anhang.

Sieben Uhr ist es, als er die Haustür öffnet und feststellt, das das Wetter heute wieder verrückt spielt. Er hatte sich nicht informiert durch ein paar Blicke aus einem Fenster. Umso mehr staunte er jetzt über den Straßen und Fußweg . Es war erst Mitte Oktober und vollkommen unüblich, daß mindestens zehn cm frisch gefallenen Schnee alles bedeckte. Ach du heilige Scheiße, fluchte er vor sich hin.

Der erste unangemeldete Schnee zu so einer noch herbstlichen Jahreszeit. Wird doch bestimmt wieder Probleme bei der Straßenbahn geben. Bis zur Haltestelle waren es nur ein paar Minuten Fußweg. Er sah das Drama schon von Weitem. Viele Menschen standen an der Haltestelle.

Es war ja Stadtbekannt, wenn es schneit, fallen die Bahnen aus. Immer wenn auch nur eine Schneeflocke hochkant auf den Schienen lag, fährt keine Bahn mehr. Er fluchte innerlich.

Es gab ja auch keinen Schutz, denn ein Wartehäuschen oder eine andere Unterstellmöglichkeit war auch hier an der Endhaltestelle noch nicht gebaut worden. Geplant war das schon vor längerer Zeit. Eine Menge Steine und anderes Baumaterial lagen schon dort herum. Die taten niemandem etwas. Wurden sogar mit der Zeit immer weniger. Es gab ja eine Menge Interessenten dafür.

Na schön sagte er sich, alles Träumen und Grübeln bringt nichts. So reihte er sich in den Pulk der Wartenden ein . Hatte sogar ein bißchen Glück, denn eine Bahn kam plötzlich. Ließ die letzten Fahrgäste auf der anderen Seite aussteigen und und fuhr dann über die Wendeschleife zum Haltepunkt.

Bloß gut, sie hatte heute sogar einen Hänger. So konnten die Leute alle einsteigen und waren erstaunt, daß die Bahn gleich losfahren wollte. Bimmelte ab und fuhr langsam an. Er stand ganz hinten im Anhänger. Sah noch eine Frau mit einem Kinderwagen kommen. Die wollte auch noch mit.

In dem hohen Schnee war es ganz schön schwer, den Wagen zu schieben. Sie strengte sich ganz schön an, das sah jeder. Der Fahrer sah das auch und war ein netter Mensch.

Er hielt nochmal an und winkte der Frau zum Einsteigen. Das war freundlich von ihm . Am hintersten Einstieg wollte sie rein. Er sah das . Half der Frau mit dem Wagen einzusteigen. Sie keuchte ganz schön, war schon eine ganz schön schwere Sache zu so früher Stunde mit Kind und Wagen im Schnee vorwärts zu kommen.

Sie bedankte sich trotzdem für die Hilfe beim Einsteigen. Dann fragte sie gleich noch alle Fahrgäste, ob man ihr beim Aussteigen auch helfen könnte. Na klar sagten alle. Sieben Haltestellen wollte sie fahren.

Als es soweit war stieg er zuerst aus um am Kinderwagen vorne anzufassen. Um besser zugreifen zu können stellte er seine Aktentasche mit dem Frühstück und Mittagsmenü in der Bahn an einer Seite ab.

Frau und Wagen und er natürlich auch, waren jetzt draußen. Da schlossen sich die Türen und die Bahn fuhr ab. Da stand er nun , der arme Thor und war so klug als wie zuvor. ( frei nach w. Busch ) die Bahn war weg, seine Tasche war weg, die Frau bedankte sich noch einmal. Bemerkte das Malheur natürlich auch. Konnte ja nichts dagegen tun. Ging nur weiter, das Kind in die Krippe zu bringen. War dann also auch weg. So eine hübsche Frau und soviel Pech für ihn.

Er stand da wie besoffener oder begossener Pudel. Richtig benommen war er . Rundherum Schnee und Kälte.

Kein Mensch und keine Bahn und vor allem keine Tasche mit Inhalt mehr da. Was tun. Er überlegte. Auf die nächste Bahn warten ist sinnlos. Stellte fest, das bis zu seiner Arbeitsstelle nur noch etwa ein km Weg war. Er hätte nur noch eine Station weiter fahren müssen. Also lief er los.

Das wäre im Sommer kein Problem. Jetzt, bei diesem Mistwetter war es jedenfalls unangenehm. Aber egal. Und so konnte er nach strengem Lauf noch rechtzeitig an seinem Arbeitsplatz erscheinen.

Seine Kollegen fandens lustig, was er ihnen so erzählte. Verhungern würde er schon nicht. Unangenehm war es trotzdem. Es gab hier noch keine richtige Kantine. Nur Mittags waren ein paar Getränke und Kleinigkeiten an Speisen zu bekommen. Der Betrieb war ja klein. Hatte noch keinen Speiseraum oder sonstige Essensbereitstellung und schon gar keine Küche. Jeder mußte für sich selbst sorgen.

Wie jeder Tag, ging auch dieser zu Ende.

Zu Hause angekommen faßte er den Entschluß, am nächsten Morgen noch einmal zu sehen, ob jemand die Tasche gesehen hat. Auch den Fahrer wollte er fragen. Der neue Tag kam, die Bahn war erstaunlich pünktlich.

Der Schnee war fast verschwunden. Es war ja auch noch Oktober. Seine Tasche war trotzdem nicht auffindbar. Man wird sie irgendwo in eine Mülltonne geworfen haben. Die Frau mit dem Kinderwagen war auch nicht da. Na gut sagte er sich.

Die nächsten vier Wochen tat sich nichts besonderes. Dann plötzlich eines Morgens, war die Frau mit dem Kw wieder mal da. Grüßte und dasselbe Spiel begann. Nur diesmal faßte er den Kw vorne an. Sie entschuldigte sich noch einmal für das Missgeschick von vor Wochen. Ist alles Vergessen sagte er. Er hatte jetzt einen Stoffbeutel mit seinen Frühstücksutensilien.

Die Bahn fuhr weiter. Geht es ihrem Babymädchen gut fragte er ? Jaja , ist wieder gesund. Aber das Mädchen ist ein Junge meinte sie mit einem Lächeln. Wieso denn das ? Der Wagen und das ganze Drumherum sieht doch ganz mädchenhaft aus. Sie lächelten beide. Dann sagte die Frau, daß ihre ganze Verwandtschaft vor der Geburt des Babys felsenfest davon überzeugt waren, daß ihr Nachwuchs ein Mädchen werden würde.

Also schenkten sie jede Menge Sachen und Zubehör auch dem entsprechend . So war dann der Wagen und viel Zubehör in rot und rosa und sonstigem mädchenhaften Interieur eben für ein Babymädchen gedacht.

Der Junge wird sich darüber nicht aufregen. Und irgend wann ist er sowieso aus allem heraus gewachsen. Sie lächelte darüber, wie auch ihre vielen anderen Bekannten. Damals war die Technik zur Erkennung der Geschlechter vor der Geburt nicht so aussagefähig wie es später üblich ist.

Es kam dann so, daß die Beiden öfter die gleiche Straßenbahn benutzten. Hatten sich immer viel zu erzählen.

Der Betrieb war nicht so groß. Als Maschinenschlosser war er zuständig für die gut funktionierenden Maschinen und sonstigen Geräte in den Bereichen. Stoffe wurden hergestellt und in einer Abteilung standen fünfzig Nähmaschinen und Webstühle verschiedener Art. Alle möglichen Erzeugnisse für den Haushalt, die man aus Geweben, also verschiedenartigen Stoffen herstellen kann, wurden gefertigt.

Es wurde wieder kälter, was für den Dezember durchaus normal ist. Er merkte, das die nette junge Frau nicht zur Straßenbahn kam. Naja , vielleicht ist ihr Kind nicht auf dem Posten. Passiert mitunter schnell einmal. So ging er gewohnheitsgemäß mit seinem Stoffbeutel voller Tagesverpflegung zu seiner Arbeitsstelle. Sorgte wie üblich dafür, daß alle Maschinen ordentlich liefen. Machte auch seine erlaubten Pausen. Es war auch nicht besonders tragisch, daß er eine Pause nicht voll genießen kann, wie auch an diesem Tag.

Sein Meister rief laut durch den Pausenraum, hallo Hannes wo steckst du. Hier, meldete der sich, wenn du fertig gefuttert hast, gehe mal bitte gleich in den Maschinensaal Vier. Zum Platz dreiunddreißig, zur Ines. Ist zwar nicht dein Bereich, da Manne heute nicht da ist, übernimm du mal bitte die Reparatur.

Nichts Besonderes sagte er sich. Werkzeugtasche schnappen und los geht`s. Mußte erst einmal suchen wo der Platz ist. An dem Auflauf im Gang hatte er schnell gefunden, was er suchte. Auch deshalb, weil mindestens fünf Frauen vor einer Maschine standen und laut diskutierten.. alle mit dem Rücken zu ihm. Fuchtelten mit den Armen, vielleicht auch mit den Beinen und schimpften laut. Hallo Mädels, macht mal Halblang. Wer ist hier zuständig, erzählt mal was los ist. Wo ist die Ines . Und ihr anderen könnt an eure Plätze gehen, könnt mir sowieso nicht helfen, sagte er lächelnd. Und wo ist nun Ines?

Na hier sagte eine Frauenstimme hinter seinem Rücken. Er stutzte kurz, drehte sich um und erstarrte . Fast zur Salzsäule, sie aber auch. Da standen sie sich , vollkommen überrascht, gegenüber. Ein Außenstehender hätte jetzt sofort gesehen, daß etwas nicht stimmte. So war es auch. Keiner sagte ein Wort. Aber alle sahen, was da los war. Du bist die Ines , meine Straßenbahnmitfahrerin. Und du bist Hannes , mein Babywagenhochheber. Und dann lagen sich die Beiden in den Armen und wußten auch warum. Das aus langer Sympathie wieder einmal Liebe wurde.

Du warst nicht in der Bahn heute Früh, meinte er. Ich habe dich vermißt. Schon so lange und so oft. Ich dich auch. Habe heute Spätschicht. Deshalb. Und wo ist das Baby? In der Krippe, wird nachher von einer Freundin abgeholt. Ist alles abgesprochen.

Ich möchte dich zum Feierabend abholen, darf ich? Ja, aber ich muß noch mein Baby abholen und zur Nacht versorgen. Wird noch ein langer Nachmittag.

Ich bringe noch deine Maschine in Ordnung, damit der Meister nicht soviel meckern kann und du deine Norm schaffst.

Die Stunden vergingen aufreizend langsam. Wenn alles gut geht und Ines pünktlich Feierabend machen kann und auch die Straßenbahn pünktlich fährt, können sich die Beiden spätabends noch treffen.

So geschah es auch. Sie lagen sich in den Armen, wie es zwei frisch Verliebte eben so tun. In ihrer kleinen Wohnung war alles an seinem Platz. Baby gerecht. Freundin Petra hatte den kleinen Jungen schon versorgt, sodaß die Drei nach dem allgemeinen Bekanntschaft schließen, gemütlich zusammen sitzen konnten. Es war ja Freitag. Das Wochenende versprach ruhig zu werden.

Ines sah noch einmal nach dem Jungen. Der schlief schon ruhig und trocken gelegt mit einem kleinen Lächeln in seinem Bettchen.

Das Glas Wein schmeckte allen. Petra sagte nur noch, ich laß euch jetzt mal allein. Ihr habt euch bestimmt noch viel zu erzählen. So war es dann auch.

Weißt du sagte Ines zu Hannes , ich bin froh, daß ich mich mit Petra so gut verstehe. Wir helfen uns gegenseitig. Sie wohnt ja auch hier im Haus. Hat eine große Wohnung eine Treppe höher. Ihre Mutter und ihr Mann waren innerhalb eines Jahres gestorben. Jetzt ist sie mit zwei Kindern allein. Die Beiden sind aber schon zwölf und dreizehn Jahre alt. Zwei Mädchen. Wirst sie ja bestimmt noch kennen lernen.

Wenn du möchtest und wir uns auch sehen. Ich lebe allein. Mein Baby heißt übrigens Peer. Wie sein Vater. Er ist ein Französischer Soldat im Westen. War sehr nett beim Tanzen und auch danach. Als das Baby da war , kühlte er merklich ab und kam immer seltener zu mir. Ich habe einen Schlußstrich gezogen und einen Rechtsanwalt mit den ganzen Dingen beauftragt.

Naja , war alles dumm von mir . Was tut man nicht alles. Er war in Frankreich verheiratet, wollte sich nur mal amüsieren. Mit mir. Ist aber schon eine ganze Weile her. Kommt auch bestimmt nicht wieder vor.

Und du, fragte sie ihn ? Ich , sagte Hannes nach einer kleinen Pause, habe mich unsterblich in dich verliebt. Schon beim ersten Kinderwagenmalheur und meinem ungeschickten Verhalten mit meiner alten Tasche samt Frühstücksutensilien kam ein besonderes Gefühl für dich in mir hoch.

Habe andauernd darauf gewartet, daß du wieder auftauchst. Leider bist du ganz selten da gewesen. Aber jetzt bist du da. Wenn du mich möchtest.

Und jetzt gehe ich langsam nach Hause. Wohne nur ein paar Häuser weiter von hier. Mit Mutter und meinem jüngeren Bruder Steffen.

Ich würde mich freuen, wenn wir öfter etwas gemeinsam unternehmen würden, natürlich mit Peer. Ist doch ein süßer kleiner Kerl. Weißt du, sagte Ines, wenn du möchtest, bleib doch einfach heute hier bei mir. Ich hab dich sehr sehr lieb. Und es ist anders als meine Dummheit mit einem französischen Soldat. So geschah es dann auch.

Als der nächste Sommer kam mit viel Sonne und anderen Annehmlichkeiten haben Ines und Hannes geheiratet. In der Hochzeitsnacht flüsterte sie ihm ins Ohr, wenn du jetzt möchtest, laß alles so kommen wie du es möchtest. Es war heiß bis zum schönsten Ende. Für alle Beide. Ich wünsche uns ein Mädchen. Und sie lächelten sich an, sie soll Maika heißen. Einen Wagen haben wir ja schon.

 

 

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