Horst Lux

Der Tod in der Abstellkammer

Frei nach einem alten finnischen Märchen
von August Löwis of Menar.

 

Der 20. Mai schien ein sonniger Tag zu werden. Eine Amsel saß auf dem First des Nachbarhauses und schmetterte ihre gefühlvollen Töne in die morgendliche Kühle. Es war noch ziemlich früh am Morgen, Heinrich kam gerade aus dem Bad, war nun dabei den Kaffeefilter zu füllen. Ein frisch gebrühter aromatischer Kaffee am Morgen - damit begann stets sein Tag. Die Lebensgeister bekamen dann so richtig Aufwind!
        Voller Vorfreude rieb er sich die Hände, machte sich dann daran, die übrigen Zutaten des Frühstücks auf dem Küchentisch zu verteilen. War es nicht wunderschön, das Rentnerdasein in vollen Zügen zu genießen? Gewiss, er war ja schon einige Jahre in Pension, aber seit seine Frau vor zehn Jahren diese Welt verlassen hatte, gab es bisher eigentlich nichts, das ihn so richtig glücklich machen konnte. In diesem Frühjahr aber war das Leben bei ihm wieder eingekehrt.

        Auslöser dafür war Beate, die Physiotherapeutin, bei der Heinrich wöchentlich seine Übungen leistete. Heinrich fand sie angenehm, da sie sich viel Zeit für ihre Klienten nahm. Er war nur einer von vielen, glaubte aber insgeheim, dass sie ihn mochte.

        Seit seinem Klinikaufenthalt wegen des dummen Schlaganfalls vor einigen Wochen freute er sich tatsächlich regelrecht auf diese zwei Stunden der Therapie bei Beate. Das Beste aber war, dass sie ihn für den kommenden Samstag zu einem gemeinsamen Abendessen eingeladen hatte! Morgen sollte es nun so weit sein, er freute sich schon wie ein kleiner Schuljunge, das Leben schien wieder lebenswert zu sein!

      ›Ding-Dong‹!
Die Türglocke störte seine frühen morgendlichen Gedanken! Heinrich schüttelte den Kopf. Es war gerade halb Sieben! Wer sollte das wohl um diese Zeit schon sein? Also, das war schon eine seltsame Überraschung! Heinrich bekam selten Besuch, wenn jemand an der Tür klingelte, war es meist der Postbote oder die Frau Weihmann aus dem Haus gegenüber, die regelmäßig fragte, ob sie ihm etwas aus dem Supermarkt mitbringen solle. Obwohl er jedes Mal dankend ablehnte - sie kam dennoch in schöner Regelmäßigkeit vorbei.

        ›Ding-Dong-Ding-Dong‹!

Es klingelte nochmals.
»Ja, doch«, Heinrich fand seine Pantoffeln wieder mal nicht, so lief er barfuß zur Tür, er war noch nicht einmal dazu gekommen, Socken anzuziehen,
»Immer langsam mit den jungen Pferden! Ich hab was gegen Hetzerei!«

      Heinrich schob den Riegel zurück, öffnete dann die Wohnungstür zur Hälfte. Im Hausflur stand ein dunkel gekleideter älterer Mann, der grüßend seinen Hut zog und höflich einen guten Morgen wünschte. Er war einen Kopf kleiner als Heinrich, musste also zu ihm aufschauen.
»Herr Gärtner? Sie sind doch Herr Gärtner?«
Der Fremde beugte sich etwas vor, um den Namen an der Tür zu entziffern. Heinrich sah den Mann misstrauisch an.
»Ja, und? Was wollen Sie? Was kann ich für Sie tun?«

        Der Fremde lachte kurz auf, holte dann einen schmalen gelben Schnellhefter aus seiner Aktenmappe hervor und blätterte kurz darin. »Ja«, sagte er dann, »Sie für mich? Das ist ein guter Witz.
Aber ich habe da eine sehr wichtige Angelegenheit mit ihnen zu klären. Können wir das drinnen erledigen?«

Heinrich stutzte kurz, sah dann überhaupt keine Schwierigkeit darin, den Mann einzulassen.
›Mit dem werde ich schon fertig, wenn es Probleme geben sollte‹, dachte er kurz.
Er lud den Fremden nun in die Küche ein, bot ihm einen Platz an.

        »Möchten sie auch einen Kaffee? Ich wollte gerade frühstücken?«
Der Fremde lehnte dankend ab. Dann meinte er: »Ich habe mich noch gar nicht vorgestellt. Mein Name ist Immortaler, Adam Immortaler.«

      Heinrich hatte inzwischen mit seinem Frühstück begonnen. »Entschuldigen Sie«, meinte er, »aber mit leerem Magen kann ich nicht denken!«
Er lachte. »Ist schon in Ordnung«, sagte Herr Immortaler, »ist alles in Ordnung!«
Heinrich lehnte sich zurück. Dann meinte er: »So, es wäre jetzt angebracht, wenn Sie mir sagen, worum es hier geht. Sie tun so geheimnisvoll. Hab ich irgendwas falsch gemacht? Ich bin mir keiner Untat bewusst.«
Er lachte noch einmal auf. »Also?«

        Herr Immortaler legte den gelben Schnellhefter auf den Tisch. Dann sah er Heinrich an.
»Sie - Sie sind 74 Jahre alt, nicht wahr? In einem Monat werden Sie 75. Ein schönes Alter, vor allem, wenn man noch so gesund ist wie Sie. Ich bewundere Sie, wirklich!«

Heinrich schüttelte verwundert seinen Kopf. Seine spärlichen weißen Haare standen dabei etwas absonderlich nach allen Richtungen ab,

»Sie bewundern mich? Aha? Und deshalb kommen Sie in aller Herrgottsfrühe zu mir? Krieg ich nun einen Verdienstorden, oder was?«

»Tja, Herr Gärtner, die Sache ist die ...«,
Herr Immortaler schaute nochmals in seine Unterlagen, sah Heinrich dann über den Rand seiner Brille an, »Sie haben - nein, Sie werden leider heute - also es ist so…«

        »Na was denn nun!« Ungeduldig stand Heinrich auf, nahm sein Frühstücksgeschirr und stellte es in das Spülbecken. »Ich habe nun wirklich keine Zeit mehr, um Ihre Spielchen mitzumachen. Kurz und knapp: Was wollen Sie von mir?«

        Herr Immortaler schlug den Aktendeckel zu. »Also Herr Gärtner, Sie haben das ja schon richtig gesehen! Sie haben wirklich keine Zeit mehr! Ich bin bevollmächtigt, Sie mitzunehmen! Es tut mir leid, aber daran kann ich nichts ändern. Es gibt einen Beschluss!«

      Heinrich sah den Mann fassungslos an.
»Wie - mitnehmen? Sind Sie von der Polizei? Warum? Was wirft man mir vor? Ich verlange sofort Aufklärung. Das ist ja wohl die Höhe. -
Aber Sie können sich das abschminken, ich werde nicht mit Ihnen gehen, ob Sie nun einen Haftbefehl haben oder sonst etwas. Das wäre ja noch schöner, Sie kommen morgens bei Sonnenaufgang zu mir und eröffnen mir, dass ich Sie begleiten muss. Wo sind wir denn? Wissen Sie was? Sie haben da leider mit Zitronen gehandelt; mich kriegen Sie nicht mit. Fertig!«

        Herr Immortaler schaute durchs Fenster auf das wunderschöne Gelände, in dem sein Haus lag. Man hatte hier einen herrlichen Ausblick auf die Anlagen des Waldfriedhofs am Ende der Straße.

        »Herr Gärtner, - es ist heute solch ein schöner Tag«, sagte er dann mit einem leicht verträumten Blick, »warum wollen Sie diesen letzten Tag so zerstören?«

Heinrich war verwirrt. Was sollte das? Letzter Tag? »He«, sagte er dann, »was reden Sie da für einen Nonsens? Wir haben heute den 20. Mai, wieso also letzter Tag? Hören Sie: Ich habe morgen eine wichtige Verabredung - ein Date - wenn Sie so wollen, das möchte ich unbedingt einhalten, es ist sehr, sehr wichtig für mich und mein Leben.«

        Herr Immortaler hatte sich nun erhoben, öffnete dann die Tür zum Flur. »Bitte kommen Sie jetzt. Dieser Schritt ist nun mal wichtiger für Sie. Sie müssen sich auch nicht umkleiden. Sie können so bleiben, wie Sie sind, auf Äußerlichkeiten kommt es bei uns nicht an.«

      Heinrich war völlig entgeistert. Was ging hier vor? Warum sollte er mit diesem Mann gehen, und vor allem, wohin? Heinrich setzte sich mit Nachdruck auf den Stuhl zurück!
»Nein!« sagte er dann. »Verdammt noch mal, nein und nein und nein!« Herr Immortaler blieb ganz ruhig, schloss die Tür wieder und meinte dann:
»Nun bleiben Sie doch vernünftig, es gibt wirklich keine andere Lösung, Sie müssen mich wirklich begleiten!«

      Heinrich überlegte lange, schaute seinen Besucher einige Zeit nachdenklich an; plötzlich schoss ihm eine Idee durch den Kopf.
»Kann ich mir wenigstens noch die Schuhe anziehen und meine Zähne putzen? Ich habe einen fürchterlichen Geschmack im Munde.«
Herr Immortaler lächelte.
»Na gut, wenn es denn hilft!«
Worauf Heinrich dann meinte: »Holen Sie mir doch bitte meine schwarzen Halbschuhe aus dem Schuhschrank dort hinten in der Abstellkammer, ja?«
Herr Immortaler nickte zustimmend.
»Ich mache alles für Sie, wenn Sie mir nur keine Schwierigkeiten machen und friedlich mitkommen!«

        Er ging dann zum Abstellraum am Ende des Flurs, öffnete die schmale Tür und schaltete dort das Licht ein. Dieser kleine Raum besaß kein Fenster, außer einigen kleinen Schlitzen in der Tür war auch keine Belüftung vorhanden, ein kleines Lämpchen brachte wenigstens etwas Helligkeit in diesen Raum.

        »Welches ist denn der Schuhschrank,« fragte Herr Immortaler dann mit lauter Stimme, »rechts oder links?«

Blitzschnell kam Heinrich nun aus dem Bad hervor, die Zahnbürste noch im Mund, rief er »liiinks«, rannte dann zur Tür des Abstellraums, schlug sie zu, verriegelte sie und rief danach: »Lassen Sie es jetzt mal gut sein, ich brauche die Schuhe nicht mehr!«

      Herr Immortaler drinnen donnerte erbost mit der Faust gegen die Tür. »Aufmachen. Machen Sie sofort die Tür auf. Wenn Sie nicht öffnen, werden Sie es bereuen, das verspreche ich Ihnen. Hören Sie? Öffnen Sie die Tür - und zwar sofort! Herr Gärtner, Sie werden das bereuen! Das hier ist eindeutig Freiheitsberaubung!«

        Heinrich war inzwischen im Bad fertig geworden. »Ach ja? Verstehe, wenn das aber Freiheitsberaubung ist, dann ist Ihr Verhalten wohl Nötigung, haben Sie das kapiert?«
Er war nun ganz ruhig geworden, gönnte sich nochmals eine Tasse Kaffee, ging damit zur Tür des Abstellraumes. »Nun regen Sie sich erst mal wieder ab. Rechts an der Tür steht ein Sessel, der ist sehr bequem. Darin saß früher immer meine Frau, Sie werden sehen, er ist richtig angenehm!«

         Heinrich lächelte still vergnügt vor sich hin.
»Wollen Sie nicht doch einen Kaffee?« fragte er mit solch großer Höflichkeit, dass es fast an Arroganz grenzte.
»Ich brauche keinen bequemen Sessel, ich brauche keinen Kaffee, ich will hier raus, und zwar sofort!«

Herr Immortalers Stimme hörte sich nun wirklich zornig an. Kein Wunder, dachte Heinrich, das würde mir auch so gehen. Aber soll er ruhig mal wissen, wie solch eine unerwartete Sachlage sich auswirken kann!

        Heinrich suchte sich seine Bekleidung zusammen und zog sich gemächlich an. »Ja, ja!« sagte er dann, ging zurück in die Küche, während sein ungebetener Gast in dem kleinen Raum fortwährend gegen die Tür schlug. »He, Sie da drinnen, wenn Sie nicht aufhören, kommen Sie hier gar nicht mehr raus.«
Er lachte kurz auf.
»Und wenn Sie Hunger haben, da sind Vorräte im rechten Schrank, die reichen für drei Wochen!«

Herr Immortaler verlegte sich nun aufs Bitten:
»Herr Gärtner, nun werden Sie doch vernünftig. Das hat doch keinen Zweck. Sie können das Schicksal - Ihr Schicksal - damit nicht beeinflussen! Ihr Name steht nun mal auf der Liste, das ist nicht mehr zu ändern!«

 

Fortsetzung folgt

        Heinrich schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. »Langsam wird mir einiges klar!«
Er holte er sich einen Stuhl aus der Küche, setzte sich neben die Kammertür und fragte seinen eingeschlossenen Gast:
»Sitzen Sie auch gut, ja? Ich habe es jetzt kapiert. Hat ja etwas gedauert, aber nun habe ich das gecheckt! Ich weiss endlich, wer Sie sind. Entschuldigen Sie, dass ich Sie nicht früher erkannt habe! Sie wollen mich mitnehmen in Ihr Schattenreich, nicht?

        Er lachte dann kurz auf. »No Sir! That's out of the range. Never ever! Hier habe ich das Sagen, verstehen Sie? Ich! Und da redet mir niemand rein! Und ob Sie nun der ›Ewige‹ heißen oder ›Purzelmann‹, das ist mir völlig schnuppe!«
Heinrich fuchtelte wild mit den Händen, obwohl der Andere es ja nicht sehen konnte. »Wo waren Sie denn, als meine Frau den Weg antreten musste? Na, wo?
Herr Immortaler antwortete leise: »Das tut mir leid, aber Unfälle gehören nicht in mein Ressort! Ich weiss darüber nichts. Es ist aber doch nur gerecht, dass jeder zu uns übersiedelt, übersiedeln muss. Ist das so schwer zu verstehen?«

        Erbost wurde Heinrichs Ton nun immer lauter:
»Ach ja? Da weiss bei Euch drüben die Rechte nicht, was die Linke tut, ja? Meine Frau war vierundfünfzig Jahre alt! Haben Sie das verstanden? Vierundfünfzig!
Und sie wurde einfach abgeholt, mitten von der Straße. Da hat niemand gefragt, ob es schon so weit ist. Ich konnte mich nicht mal von ihr verabschieden. Ist das nun Eure Gerechtigkeit?«

Heinrich bemühte sich, nicht in Wut zu geraten. Mit aller Gewalt überkam ihn die Situation jener Zeit, als er die Nachricht erhielt, dass Natalie ihr Leben im Straßenverkehr lassen musste.
          Immortaler in der Kammer war still geworden. Kein Laut drang nach draußen. Heinrich saß kerzengerade auf dem Stuhl neben der Tür. Beide schwiegen minutenlang. Dann meinte Herr Immortaler: »Haben Sie es sich überlegt? Lassen Sie mich frei? Sie ändern nichts an der Sachlage. Ich werde Sie mitnehmen, darüber gibt es keine Diskussion!«

        Heinrich saß immer noch mit verschränkten Armen auf dem Stuhl vor der Tür. Sein Blick blieb am Bild seiner verstorbenen Frau an der Wand haften.

        »Mein lieber Herr Immortaler oder wie immer Sie heißen mögen, merken Sie immer noch nicht, dass Sie nicht mehr den Taktstock in der Hand halten? Sie, mein Herr, tun das, was ich will! Und inzwischen fängt die Sache an, mir Spaß zu machen!«

      Ein grimmiges Lächeln erschien auf seinem Gesicht. ›Ich habe ihn in der Hand, dachte er bei sich, und so einfach lasse ich mir das nicht mehr wegnehmen.‹
Er erhob sich, legte sein Ohr an die Tür und sagte dann etwas burschikos: »Sind Sie noch da? Natürlich sind Sie noch da. Oben auf dem Schrank liegt eine Luftmatratze, die können Sie aufblasen, es schläft sich gut darauf!
Ach so, ja, wenn ich das richtig verstehe, schlafen Sie ja nicht! Sie brauchen kein Essen, haben keinerlei menschlichen Bedürfnisse. Leben Sie eigentlich? Haben Sie im Schattenreich eine leitende Funktion?«

        Herr Immortaler brummte irgendwas vor sich hin. »Wünschen Sie noch etwas?« fragte Heinrich, »Ich erfülle Ihnen jeden Wunsch - nur freilassen, das steht nicht auf meinem Plan!«
»Lassen Sie mich in Ruhe«
, sagte drinnen der Herr Immortaler. »Alles was Sie für mich tun können ist, mich hier schleunigst herauszuholen!«

»Vergessen Sie das ganz schnell!« meinte Heinrich darauf. »Unser Spiel ist noch nicht aus!«

        Er erhob sich, ging langsam zur Wohnungstür, die Zeitungsfrau hatte gerade die »Rundschau« durch den Briefschlitz eingeworfen. Er hob die Zeitung auf, setzte sich wieder auf den Stuhl neben der Tür. Schlug die vorletzte Seite auf und meinte beiläufig: »Wollen wir mal sehen, was heute wieder für Untaten geschehen sind!«

        »Wissen Sie eigentlich, was Sie da tun?« fragte Herr Immortaler von jenseits der Tür, »wissen Sie das? Sie bringen den Ablauf der Welt durcheinander. Das Kommen und Gehen, das Werden und Vergehen hält das Weltgefüge zusammen! Können Sie sich das überhaupt vorstellen? Nein - wie denn auch. Sie glauben doch nur, dass Sie der Mittelpunkt des Universums sind? Nein, mein Herr, es geht ohne Sie. Aber es geht nicht ohne ›mich‹! Verstehen Sie das? Oder ist Ihr Spatzenhirn zu klein, um diesen Gedanken weiterzuverfolgen?«
          
Heinrich versuchte sich nicht zu sehr von den Worten Immortalers provozieren zu lassen. Natürlich hatte er darüber auch schon nachgedacht.

        »Hallo, großer Meister, ich lese hier gerade: Drei Tote bei einem illegalen Wettrennen in der Stadt. Was sagen Sie dazu, old fellow? Drei Menschen, deren Zeit auch noch nicht abgelaufen war. Ist das nun Eure Gerechtigkeit? Aber das ist ja auch nicht Ihre Sparte, nicht wahr? Geht das nach dem Grundsatz: ›Kollege kommt gleich‹? Sie können mir nicht erzählen, das ginge alles gerecht zu. Ihr arbeitet drüben wohl alle nach dem Zufallsprinzip; macht Ihr das mit einem Würfel oder pokert Ihr mit der Existenz der Menschen?«

      Immortaler war verstummt, es schien, als hätte er Heinrichs Ansicht verstanden. Dann meinte er:
»Sie lenken ab. Sie lenken bewusst ab, Herr Gärtner. Das Problem, das Sie gerade ansprachen, hat mit uns Beiden nicht das Geringste zu tun. Hier geht es um den Ablauf, um die vorgegebene Chronologie des menschlichen Daseins. Dieser Kreislauf des Lebens wird unterbrochen, wenn Sie den Prozess einfach stoppen, vielleicht sogar völlig aussetzen wollen. Sie greifen in das Werk des Allmächtigen ein!«

Heinrichs Stimme war leiser geworden:
»Ach, ist das so? Sie haben den Kreislauf des Lebens meiner Frau doch auch gestoppt. War das denn chronologisch gewollt? Sie wollen mir nun den Schwarzen Peter zuschieben, ja? Ich nehme den aber nicht an. No Sir, ich verweigere die weitere Mitarbeit mit Euch Jenseitigen!«

      Heinrich hatte sich nun doch entgegen seinem Vorhaben in Rage geredet. Er bemühte sich, weiter aus der Zeitung vorzulesen: »Hier, verehrter Herr Immortaler, hier stehen die Todesanzeigen auf der vorletzten Seite. Acht Anzeigen sehe ich hier. Alle mit tollen Nachrufen: ... hat es dem Herrn gefallen, ... zu sich gerufen, ... in stiller Trauer ... unerwartet ... etcetera, etcetera.
Diese Menschen hatten allesamt Glück, sie wurden alle bedeutend älter als ich. Warum, sagen Sie mir doch, warum sollte ich denn schon gehen?
Ich komme noch früh genug zu Ihnen ins Jenseits!«

        »Herr Gärtner«, der Mann in der kleinen Kammer sprach jetzt ziemlich leise und kaum verständlich. Die Erregung der vergangenen Minuten war immerhin abgeklungen: »Sind Sie noch da? Haben Sie denn auch schon einmal an den Herrn Krämer im Erdgeschoss gedacht? Der Mann ist todkrank, er leidet seit Monaten, er wünscht sich nichts mehr, als endlich von seinen Qualen erlöst zu werden.
Er möchte sterben, Herr Gärtner, einfach sterben! Und Sie in Ihrem Egoismus lassen ihn nicht gehen, weil Sie mich festhalten. Sie lassen ihn weiter leiden. Haben Sie das schon mal überlegt?«

        Heinrich überlegte wieder. Natürlich war ihm sein Vorgehen überhaupt nicht bedenkenlos vorgekommen. Aber sich jetzt so einfach ergeben? Sein Trotz ließ das einfach nicht zu. »Na klar, jetzt holen Sie sich wieder neue Gesichtspunkte aus Ihrer Trickkiste, was? Wäre doch gelacht, wenn wir den Gärtner nicht doch noch weichkochen könnten, nicht wahr? Aber das kann ich Ihnen schwarz auf weiss versprechen: Ich werde meine Einstellung nicht ändern!«

      Heinrich stellte seinen Stuhl an die Seite, dann ging er zur Tür und sagte:
»Ich gehe jetzt in meine Eckkneipe, habe heute meinen Skatabend! Soll ich das Radio anstellen? Vielleicht interessieren Sie ja die neuesten Nachrichten. -
Keine Antwort? Na, dann eben nicht! Schlafen Sie gut, Herr Immortaler, bis nachher!«

Er öffnete die Wohnungstür, ging auf den Flur, kam dann aber nochmals zurück und sagte zu seinem Gast: »Übrigens, Schreien hat keinen Sinn, hier hört sie kein Mensch. aber vielleicht hört Ihr Chef Sie ja?«

<><><>

        Siebenundzwanzig Tage saß Herr Immortaler nun schon in Heinrichs privater Haft. Es hatte keine Veränderung gegeben. Sie hatten vielfach und mehrmals täglich miteinander diskutiert, das Für und Wider der Gewaltmaßnahme Heinrichs immer wieder erörtert. Ihre Streitgespräche waren oft so heftig, dass oft im wahrsten Sinne des Wortes die Wände wackelten. Heinrich blieb hart, ließ sich nicht erweichen, eine Umkehr von seinem Verhalten schien in weiter Ferne zu liegen. Er verließ auch seine Wohnung nicht mehr, er befürchtete, dass sein ungebetener Gast irgendwas anstellen könnte, dass dann die Situation eskalieren ließ.

        Dann kam der 16. Juni, es war Heinrichs Geburtstag. Er war nun fünfundsiebzig Jahre alt geworden. im Grunde genommen sollte es ja ein Glückstag sein, dieser Geburtstag. In dem kleinen Häuschen in der Waldsiedlung schien das Glück aber gar nicht mehr daheim zu sein. Heinrich Gärtner war mit sich selbst und der Welt unzufrieden. Es war ihm bewusst, dass es so dieser Form nicht endlos weitergehen konnte. Was sollte er tun?

      »Herzlichen Glückwunsch, Herr Gärtner!«
Herr Immortaler in seiner kleinen Klause war es, der Heinrich gratulierte. »Fühlen Sie sich gut? Wann kommen denn Ihre Gäste? Man wird ja nicht jeden Tag Fünfundsiebzig, nicht wahr?«

        Heinrich sagte nichts. In den letzten Tagen hatte er schon nicht mehr mit Immortaler geredet, dessen Worte und Sätze waren nur noch Monologe, Heinrich hatte ihnen einfach nichts mehr entgegenzusetzen.
»Es gibt keine Gäste. Da ist niemand mehr. Das Rendezvous mit Beate haben Sie mir auch versaut! Was soll ich nun noch? Ich gratuliere: Sie haben gewonnen!«

        Er ging langsam zur Tür der Abstellkammer, schob den großen Riegel zurück und sagte dann: »Bitte, ich gebe auf! Man muss auch verlieren können! Jetzt dürfen Sie mich in aller Ruhe mitnehmen. Sind Sie nun zufrieden?«

      Herr Immortaler kam aus dem engen Raum hervor, blitzsauber und wie frisch gebadet, man sah ihm nicht an, dass er vier Wochen in diesem Gefängnis verbracht hatte. Gefühlvoll fasste er Heinrich an eine Schulter und zog ihn sanft in die Küche.
          So saßen sie einige Zeit schweigend nebeneinander am Küchentisch. Dann sagte Herr Immortaler: »Sie haben meinen Respekt, Herr Gärtner, wirklich. Und nach Rücksprache mit meinem Chef darf ich Ihnen heute ein Angebot machen. Sie können es ablehnen, Sie können es annehmen, ganz wie es Ihnen beliebt. Ich bin befugt, Ihnen zuzusagen, dass Sie noch hierbleiben dürfen, und zwar mindestens noch bis zu Ihrem Fünfundachtzigsten! Wenn Sie möchten, auch noch länger. Sollten Sie jedoch eines Tages von sich aus den Wunsch haben, zu uns zu kommen, dann wird es auch geschehen.«

        Heinrich hatte die Augen bei diesen Worten Immortalers weit aufgerissen. Es war ja nicht so einfach, solch eine Nachricht zu glauben. Doch der Herr Immortaler beschwichtigte ihn lächelnd.

»Es ist alles so, wie ich es Ihnen zusagte. Und mein Chef hält sein Versprechen. Immer, darauf können Sie sich verlassen! Also, nehmen Sie an, Heinrich?
      Herr Immortaler hatte ihn Heinrich genannt. Welch ein Ereignis. Das Geburtstagskind war außer sich vor Freude. Solch einen Geburtstag konnte kein Mensch auf dieser großen weiten Welt aufweisen und dabei so glücklich sein wie er es nun war.

»Danke«, schrie er laut auf. »Danke Adam!«

        Adam Immortaler war inzwischen zur Tür gegangen, winkte lächelnd noch einmal und sagte halblaut: »Viel Freude noch mit Beate, ich hab das schon geregelt!«

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 18.01.2021. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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