Rita Hassing

Eine glückliche Begegnung

Die Turmuhr der Münchner Frauenkirche schlug gerade 17 Uhr. Es war ein freundlicher Frühlingsabend, der viele Münchner in die Innenstadt zog. Auch Ruth Neustätter zählte zu diesen. Die hübsche, schlanke 30jährige saß mit ihrem Kumpel Georg in einem feinen Café. Beide waren sie elegant gekleidet. Sie in einem schicken hellblauen Sommerkleid und einem leichten schwarzen Mantel darüber. Er in beigem Hemd und schwarzer Flanellhose. Georg war ein gut gewachsener, schöner Mann. Er hatte blond gefärbte kurze Haare und schrägstehende grüne Augen. Die beiden unterhielten sich angeregt miteinander, tranken eisgekühlten Prosecco. Ruth warf ihre langen, braunen Haare zurück und band sie zu einem Pferdeschwanz zusammen. „Es ist immer das gleiche mit den Männern“, beschwerte sie sich bei Georg, der homosexuell war und sich daher keineswegs gekränkt fühlte. Sie erzählte ihm aufgeregt, dass seit ein paar Tagen mit ihrem Freund Sven Schluss war. Er hatte sie seit Wochen mit einer anderen betrogen. Sie, Ruth, hatte zufällig eine eindeutige SMS von einer gewissen Martina auf Svens Handy gelesen und ihn danach zur Rede gestellt. Er hatte es keine Sekunde geleugnet. Sven hatte Martina in einem Lokal in München kennengelernt und sich sofort Hals über Kopf in sie verliebt. „So war es“, schloss Ruth ab und seufzte leicht. Ihre Trauer hielt sich jedoch in Grenzen, denn aus der mittlerweile vierjährigen Beziehung mit Sven war bereits die Luft raus gewesen. Sven war schon zu Martina gezogen und sie wollten sich demnächst eine größere gemeinsame Wohnung suchen. Ruth bewohnte nun allein das Appartement, dass sie sich zuvor mit Sven geteilt hatte. Zum Glück verdiente Ruth als angestellte Modedesignerin nicht schlecht und brauchte die Schwabinger Wohnung, in der sie gerne lebte, nicht aufzugeben. Finanziell war Ruth unabhängig, aber besonders nach Feierabend, wenn sie die leere Wohnung betrat, fühlte sie sich oft einsam und sehnte sich nach einem interessanten Gesprächspartner. Ihr Kumpel Georg war selbst in einer Beziehung, arbeitete tagsüber als Stylist und hatte daher auch nicht viel Zeit für sie. Ruth wollte sich auch nicht bei ihm aufdrängen. Dann war da noch Ruths beste Freundin Sabine. Die war allerdings bereits verheiratet, hatte zwei kleine Kinder, die tagsüber in der Kita beziehungsweise in der Schule waren. Sabine arbeitete zudem Teilzeit in einer Apotheke. Ihre Tage waren auch ohne Ruth ausgefüllt.

Nach dem Treffen mit Georg hatte Ruth nicht die geringste Lust nach Hause in ihre einsame Wohnung zu gehen. Sie marschierte zum Parkplatz, stieg in ihr Auto und fuhr in die Münchner Leopoldstraße, stellte ihren Wagen in einem zentral gelegenen Parkhaus ab. Sie hatte vor, einen kleinen Einkaufsbummel zu machen. Das würde sie vielleicht von ihrer trüben Stimmung ablenken und auf andere Gedanken bringen. Die Leopoldstraße war sehr belebt. Viele Leute hatten jetzt Feierabend und nutzten die Zeit für einen Spaziergang oder Einkaufsbummel. Obwohl Ruth unter vielen Menschen war, fühlte sie sich auch hier einsam. Alleine Shoppen gehen bereitete ihr keine Freude. Sie dachte besorgt über ihre Zukunft nach. Sollte sie irgendwann als eine alte, verbitterte Frau enden, die zwar beruflich Karriere gemacht, aber weder Mann noch Kinder hatte? Dabei hatte sie sich immer eine Familie gewünscht! Nun schien sie wieder ganz am Anfang zu stehen. Sie hatte das Gefühl, ihr Leben sei nur noch ein einziger Trümmerhaufen und sie der Messie, der darin lebte. Dies alles schoss ihr durch den Kopf, während sie durch die bunten Einkaufspassagen schlenderte.

In einem großen Modekaufhaus setzte sie sich schließlich wieder in ein Café und trank eine Tasse starken Espresso. Danach fühlte sie sich schon etwas besser. Als ihre traurigen, blauen Augen durch das Café schweiften, bemerkte sie wie ein junger Mann, etwa Mitte 30, sie aufmerksam beobachtete. Der Mann saß ebenfalls allein an einem der zahlreichen Tische und trank eine Tasse Kaffee. Er hatte kluge, graue Augen, eine schlanke, athletische Figur und kurze, braune, leicht gewellte Haare. Er war sportlich-elegant gekleidet in weißem Sweatshirt und schwarzen Jeans. Als Ruth bemerkte, dass sie angestarrt wurde, spürte sie wie ihr das Blut ins Gesicht schoss und sie errötete. Dennoch erwiderte sie den Blick des fremden Mannes. Dessen Lippen verzogen sich zu einem kleinen Lächeln. Ruth fand, dass er dadurch sehr jugendlich und sympathisch wirkte. Sie lächelte zurück, strich sich durch ihr langes Haar, welches sie mittlerweile wieder offen trug, und setzte sich aufrecht hin. Es dauerte nicht lange, da stand der Mann auf und schritt auf Ruth zu. „Darf ich mich zu Ihnen setzen und Ihnen ein wenig Gesellschaft leisten?“, fragte er höflich und lächelte sie an. „Wenn Sie möchten. Ich habe nichts dagegen“, erwiderte Ruth trocken, lächelte aber freundlich dabei und wies mit der rechten Hand auf den freien Stuhl ihr gegenüber. „Ich bin David“, stellte sich der junge Mann mit einem kleinen Lächeln um die Mundwinkel vor und reichte ihr die Hand. „Und ich bin Ruth“, erwiderte sie sein Lächeln. David setzte sich zu ihr an den Tisch. „Darf ich Ihnen noch etwas bestellen, Ruth? Ich lade Sie ein“, sagte er und griff schon nach der Getränkekarte. Dazu sagte Ruth nicht nein. Sie ließ sich von ihm auf einen Cappuccino einladen; er bestellte sich einen Mokka mit Rum. „Sind Sie oft hier?“, leitete David die Konversation ein. „Manchmal“, antwortete Ruth, „Heute war mir einfach danach.“ „Das ist schön. Auf diese Weise lernen wir uns kennen. Ich bin nämlich auch nicht allzu oft hier. Aber ob Sie´s glauben oder nicht – mir war heute auch danach.“ Sie lachten gemeinsam. Dann wurde David plötzlich ernst. Er blickte Ruth aufmerksam an. „Ihre schönen blauen Augen und Ihr Lächeln sind mir gleich aufgefallen, Ruth. Deshalb musste ich Sie unentwegt ansehen. Ich hoffe, Sie verzeihen mir.“ Auf so viel Direktheit war Ruth nicht vorbereitet. Sie spürte wie sie wieder errötete. Nur langsam gewann sie die Fassung wieder. Endlich brachte sie ein „Danke für das Kompliment“ hervor. Dann sagte sie wieder mutiger geworden: „Sie sind sehr direkt, aber sind Sie auch genauso ehrlich?“ „Immer“, entgegnete David selbstbewusst und schmunzelte wie ein kleiner Schuljunge. Ruth schaute in Davids graue Augen und um die ihrigen bildeten sich kleine Lachfältchen. Ihre Mundwinkel zeichneten ein Lächeln auf ihr Gesicht. „Das gefällt mir“, gestand Ruth immer noch mit einem verschmitzten Lächeln. „Sie gefallen mir auch, Ruth“, erwiderte David und grinste dabei noch immer wie ein kleiner Lausbube. Wieder konnte Ruth nicht verhindern, dass sie vor Verlegenheit rot wurde. David bemerkte es natürlich und sein Grinsen verstärkte sich noch. Zu Ruths Glück kam in diesem Moment ein Kellner und brachte ihnen die gewünschten Getränke. Doch David war sensibel und wollte Ruth aus ihrer Verlegenheit heraus helfen. Er wechselte das Thema. „Was machen Sie beruflich, Ruth?“, fragte er interessiert. Ruth war froh, dass sie nun über etwas ganz Unverfängliches redeten. „Ich bin Modedesignerin“, gab sie bereitwillig Auskunft. „Aha“, machte David und musterte Ruth genau. „Dann sind Sie wohl ein sehr kreativer Mensch.“ David hatte den Nagel auf den Kopf getroffen. Kreativ war sie wirklich. Sie freute sich daher über das Kompliment. „Und was sind Sie von Beruf?“ wollte Ruth wissen. „Leider bin ich nicht so kreativ. Ich bin eher der sachlich-analytische Typ. Deshalb bin ich Neurologe geworden“, antwortete David nicht ohne Stolz. „Das ist sicher ein schwieriger Job“, meinte Ruth. „Mir macht er Spaß... ich kann Menschen helfen“, erklärte ihr David seine Berufswahl. „Modedesignerinnen haben ja eher den Ruf etwas eigensinnig zu sein“, warf er schließlich ein und wollte sie aus der Reserve locken. „Jaja, ich weiß“, entgegnete Ruth pikiert. „Und außerdem sind sie exzentrisch und sowieso nicht ganz von dieser Welt!“ Sie verdrehte genervt die Augen. „Ja, so ist es! Die sind doch alle irgendwie verdreht!“, neckte David sie weiter. Jetzt wurde Ruth dieses Gerede zu viel. Sie ließ sich davon provozieren und wurde wütend. „Und Ärzte sind Halbgötter in Weiß, die immer meinen, alles besser zu wissen“, schimpfte sie laut und war richtig aufgebracht. Davids freches Grinsen erstarb. Er merkte, dass er zu weit gegangen war. „So habe ich das doch nicht gemeint...“, versuchte er sich zu verteidigen. „Doch, genauso haben Sie das gemeint! Und wissen Sie was? Ich kann wirklich ganz schön eigensinnig sein. Und ja vielleicht bin ich auch ein wenig verdreht. Aber das ist immer noch besser, als so ein spießiger Langweiler und Klugscheißer wie Sie zu sein! Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag!“ Energisch erhob sich Ruth von ihrem Platz, griff nach ihrer Handtasche, die an der Stuhllehne gehangen hatte und verließ eilig und mit hoch erhobenem Kopf das Café. David konnte ihr nur verblüfft und gleichzeitig entsetzt hinterherschauen.

Als Ruth das Kaufhaus verließ, war sie immer noch rot vor Zorn. Ihr Gesicht glühte wie ein heißes Bügeleisen. Draußen dämmerte es bereits und eine wohltuende, kühle Brise blies in Ruths Gesicht. Jetzt fühlte sie sich schon etwas besser. Befreiend streckte sie beide Arme weit aus, drehte sich einige Male leicht wie eine Feder und schloss die Augen. Dabei passierte es! Sie spürte plötzlich wie jemand ihr wie aus dem Nichts und blitzschnell die Handtasche, die sie um die Schulter trug, entriss... und dann sehr schnell davonstob. Ruth hielt sofort in ihren Bewegungen inne und schrie lauthals: „Hey, stopp!“ Aber der Dieb reagierte natürlich nicht, sondern eilte schnell und ohne sich umzublicken davon. Leider konnte Ruth den Übeltäter nicht erkennen. Sie überlegte, ob sie noch hinterherlaufen sollte, aber der dunkel gekleidete Dieb war schon in der Menschenmenge verschwunden. Außerdem würde sie ihn mit ihren hohen Stilettos wohl kaum einholen können. Sie musste zugeben, dass die Situation aussichtslos war. Hilflos und mit gesenktem Kopf stand Ruth inmitten der Einkaufspassage. Die Leute um sie herum schienen von all dem nichts mitbekommen zu haben und schlenderten lachend und gut gelaunt an ihr vorüber. Ruth dachte verzweifelt an das viele Geld und an all die wichtigen Utensilien, die sich in ihrer Handtasche befanden. Sie spürte wie ihr langsam die Tränen in die Augen stiegen. Das war wirklich nicht ihr Glückstag heute.

Plötzlich fühlte sie wie jemand von hinten eine Hand auf ihre Schulter legte. Sie drehte sich um und blickte genau in... Davids Augen! Er strahlte sie an und setzte dabei sein schönstes Lächeln auf. Ruth hob überrascht ihre dunklen Augenbrauen. „Sie?“, fragte sie rhetorisch. „Ja, ich! Und ich habe etwas für Sie, über das Sie sich sehr freuen werden“, sagte David triumphierend. Hinter seinem Rücken holte er einen dunkelroten, ledernen Gegenstand hervor. Es war Ruths gestohlene Tasche! „Ich habe alles gesehen und bin diesem Dreckskerl hinterher. Und wie Sie sehen, ich habe ihn auch erwischt!“ Ruth konnte nicht glauben, was sie da sah. War das wirklich ihre Handtasche? Sie betrachtete sie näher. Tatsächlich sie war es! „ Es ist auch noch alles drin! Sie können nachschauen!“, forderte David Ruth nicht ohne Stolz auf. Ruth öffnete die Tasche. Sie fand alles so vor wie gehabt. Auch das Geld hatte der Dieb nicht angerührt. Erleichtert atmete Ruth auf. Dann wandte sie sich an David, schaute ihm in die Augen: „Ich muss mich für mein Verhalten vorhin im Café entschuldigen. Sie haben mir den Tag gerettet! Darf ich Sie zu mir nach Hause auf ein Glas Champagner einladen?“ „Wenn Sie mir mein Verhalten im Café ebenfalls verzeihen, nehme ich Ihre Einladung gerne an“, antwortete David. In Ruths strahlenden blauen Augen konnte er sehen, dass sie sich wirklich über seine Zusage freute. „Da freue ich mich“, sagte sie denn auch. „Aber wollen wir dieses Gesieze nicht endlich bleiben lassen?“ „Nichts lieber als das!“, erwiderte David, den das Siezen schon lange gestört hatte. „Also ich bin David!“, stellte er sich noch einmal vor. „Und ich Ruth!“ Sie reichten sich die Hände und strahlten einander an.

Eine halbe Stunde später saßen sie gemeinsam in Ruths elegant eingerichtetem Wohnzimmer und stießen gut gelaunt mit Champagner an. „Auf unsere glückliche Begegnung!“, prostete David ihr zu. „Ja, darauf trinken wir!“, meinte auch Ruth und ihre Gläser setzten einen wundervollen, festlichen Klang frei. In diesem Moment wurde die harmonische Stimmung zwischen beiden jäh unterbrochen, denn Ruths Ex-Freund Sven stand plötzlich mitten im Zimmer. Er besaß immer noch einen Schlüssel zu der ehemals gemeinsamen Wohnung. Als er Ruth und David zusammen auf dem Sofa sitzen sah, machte er große Augen. „Sven“, sagte Ruth ruhig, „wir haben dich gar nicht reinkommen hören.“ Das Lächeln in Davids Gesicht war derweil erloschen. Er sah von Ruth zu Sven und von Sven zu Ruth. Er schluckte. „Ist das etwa... dein Freund?“, fragte er und man hörte die Enttäuschung in seiner Stimme. „Nein, der Ex-Freund“, ließen Ruth und Sven wie aus einem Mund verlauten. Darauf mussten beide laut loslachen. Und auch David, der über diese Antwort sichtlich erleichtert war, stimmte nun in das Gelächter ein. „Da habe ich ja noch mal Glück gehabt“, sagte David und zwinkerte Ruth zu. Sie zwinkerte ihm zurück: „Wir haben ja schließlich auf unsere glückliche Begegnung angestoßen, nicht wahr?!“

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 27.01.2021. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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