Wolfgang Hoor

Die Rache meiner Schwester

Die Rache meiner Schwester

Damals, als sich das alles ereignete, war ich 12 Jahre alt und wie man so schön sagt: normal. Ich war lieber draußen als drinnen, war lieber mit Freunden zusammen als allein, machte ungern Hausaufgaben und war überzeugt, dass Mädchen Wesen sind, die man ausspionieren muss, die man aber trotzdem nie verstehen kann.

So ein Wesen war meine Schwester Lili. Ihr wäre es lieber gewesen, wenn ich mich nicht so schrecklich für ihre Angelegenheiten interessiert hätte. Sie war alle zwei drei Monate neu in irgendeinen Typ verliebt, und wenn man wissen wollte, wer es ist und was sie besonders an ihm mochte, dann konnte sie fuchsteufelswild werden. „Wolfram, du bist ein Kindskopf“, sagte sie dann. „Kümmere dich meinetwegen weiter um deine Schmetterlings-Sammlung, aber spioniere nicht einem großen Mädchen hinterher.“

Dabei hatte sie selbst eine, wie ich fand, total verrückte Leidenschaft: Sie liebte alles, was irgendwie mit Adel und Königshäusern zu tun hat. Sie konnte bei einer Fernsehübertragung über eine königliche Familie einen ganzen Tag vorm Bildschirm sitzen, zusammen natürlich mit Mama. Bei meiner Mutter verstand ich das ja noch, sie stammte aus einer anderen Zeit, aber bei einem 15jährigen Mädchen war das doch Schwachsinn.

Lili hatte ein großes Sammelalbum, in das man Bilder von allen europäischen Königs- oder Herzogs- oder Grafenfamilien einkleben konnte. Sie war ganz stolz darauf, und sogar mir zeigte sie das Album. Als ich „Na gut“ sagte, war sie zufrieden. Ich sah mir das Album dann in Gottes Namen an. Und während sie nicht aufhören konnte zu schwärmen, dachte ich: Soll sie ruhig schwärmen. Wenn sie schwärmt, ist sie erträglicher, als wenn sie mich anschnauzt. Nachdem ich das Album gesehen hatte, versteckte sie die Mappe, als müsste sie Angst haben, hier im Haus könnte ihr jemand ihr kostbarstes Gut klauen.

Einmal hab‘ ich sie beobachtet, wie sie sich die Treppe hoch ins Dachgeschoss verkrümelte. Da dachte ich: Jetzt krieg ich‘s raus, wo sie ihr Album versteckt. Und einmal hatten wir früher Schulschluss, da war niemand im Haus als ich, und da hab‘ ich ihre Sammlung entdeckt. Sie hat sie zwischen den Zuschnittsbögen meiner Mutter aus ihrer Schneidermeister-Lehrzeit versteckt.

Und dann dachte ich: Wo ich schon Zeit habe, will ich weiter schauen, was ich über meine große Schwester rauskriegen kann. Ich bin in ihr Zimmer und hab zu meiner großen Freude das Geheimfach von ihrem Schreibtisch unabgeschlossen vorgefunden. Und da war auch ihr Tagebuch. Da hab‘ ich natürlich wissen wollen, ob ich in dem Tagebuch vorkomme. Ich kam wirklich ein paarmal in ihrem Tagebuch vor und ich konnte es kaum glauben, sie schrieb freundlich über mich. „Er hat doch Verständnis für mich“, hieß es da zum Beispiel. „Meine Königshaus-Sammlung fand er o.k.“ Ich empfand zum ersten Mal seit langem, dass ich eine gute Schwester habe.

Und dann interessierten mich natürlich ihre Eintragungen über ihre Verehrer. Den letzten nannte sie Bärli, „weil er so stark und so süß wie ein halbwüchsiger Bär ist. Der könnte mich zwischen seinen Fäusten zertrümmern, aber seine Hände sind so lieb zu mir. So lieb war noch keiner zu mir.“ Aber er brauche in der Schule jemand, der ihm hilft. „Die Schule mag er nicht. Er sagt, in seinen Kopf geht sowieso nichts rein. Ach, wie süß er das sagt.“

Dieser Tag mit den beiden großen Entdeckungen war für lange Zeit der letzte glückliche Tag mit meiner Schwester. Sie erkannte sofort, dass ihr Tagebuch in ihrer Schublade nicht mehr an der richtigen Stelle lag, und hatte mich gleich im Verdacht. Sie zerrte mich in ihr Zimmer und befragte mich, als wäre ich ein Meuchelmörder. Weil sie so schrecklich rumschimpfte, gab ich nichts zu. „Du bist ein verdammter Lügner!“ Und dann gab sie mir einen Tritt in den Hintern.

Natürlich dachte ich, der Sturm legt sich wieder, es wird nichts so heiß gegessen wie es gekocht wird. Aber bei ihr kühlte es sich nicht ab. Nur eins interessierte sie noch an mir: Ob ich es endlich zugeben und mich entschuldigen würde. Jeden Tag griff sie mich am Hemd und schüttelte mich. Und schließlich behauptete sie, ich hätte geistigen Missbrauch begangen.

Und so lernte ich sie immer treuherziger zu belügen „Vielleicht hast du recht. Vielleicht habe ich wirklich drin gelesen. Aber ich kann mich an nichts mehr erinnern.“ Diese Behauptung machte sie besonders wütend. „Du bist ein böswilliger Lügner. Ich verachte dich“, sagte sie und dann sprach sie aus eigenem Antrieb überhaupt nicht mehr mit mir.

Es ist nicht leicht, Tag für Tag in der Rolle eines böswilligen Lügners rumzulaufen. Und so kam mir die Idee, sie mit meinen Möglichkeiten zu bestrafen. Ich suchte auf dem Speicher nach ihrer Königshaus-Mappe, fand sie und verschleppte sie in den Keller, wo Papa in einem ausgemusterten Schränkchen seine alten Filmzeitschriften aufbewahrte, an denen er schon längst das Interesse verloren hatte. Zwischen die schob ich die Mappe.

Dass die Königshaus-Mappe weg war, bemerkte sie erst zwei Wochen später. Wieder zog sie mich in ihr Zimmer. Ob ich etwas von ihrer Mappe wisse. „Du weißt doch, dass ich mich für Königshäuser nicht interessiere“, sagte ich. „Wie soll sie dann weggekommen sein?“, fuhr sie mich an. „Ich habe mit der Sammlung nichts zu tun“, sagte ich selbstsicher. „Vielleicht hast du sie mit in die Schule genommen, um sie jemandem zu zeigen.“ – Sie schüttelte zuerst den Kopf und zuckte dann die Achseln. „Ausgeschlossen ist das nicht. Lisa hat sie sehen wollen.“ Ich triumphierte innerlich. Sie konnte mir nichts nachweisen.

Anfang der Klasse sieben bekamen wir einen Sitzenbleiber in unsere Klasse, er hieß Basti und war einen halben Kopf größer als ich. Körperlich war er uns allen überlegen. Er machte derbe Witze über den „Kindegarten“, in den er geraten sei. Als unser Klassenlehrer ihn fragte, wo er sitzen wolle, ob an dem freien Tisch ganz hinten oder neben mir, ich hatte damals keinen Nebenmann, entschied er sich spontan für den Platz neben mir.

Ab jetzt fiel es mir schwer, im Unterricht aufzupassen. Seine Hände und Füße hatten immer irgendwas an mir zu „entdecken“. Er zwickte mich überall, boxte mich, um festzustellen, wie gut meine Muskeln wären, und nicht selten stieß er mich, um rauszukriegen, ob ich auch einen sicheren Stand hätte. Wenn ich unwillig wurde, entschuldigte er sich. „Ist doch alles nur Spaß.“

Anfangs war er mir gegenüber auch wirklich freundlich, aber das änderte sich allmählich. Er fing an, über mich Geschichten zu erfinden. Ich hätte über den einen oder anderen aus der Klasse ihm gegenüber Bemerkungen gemacht, die ziemlich unschön gewesen wären. Das glaubte man ihm zunächst nicht, aber schließlich fand er in der Klasse Verbündete, die mich nicht leiden konnten, und mit ihnen zusammen begann er mich zu mobben. Er schnüffelte auch in meiner Schultasche, und in der tauchten Dinge auf, die nicht mir gehörten. Ich konnte nie beweisen, dass das nicht stimmte. Meine Lage in der Klasse wurde immer schlechter.

Je schlechter es mir in der Schule ging, um so freundlicher wurde Lili mir gegenüber. Ich erzählte ihr schließlich, wie der Neue mich fertig machte und wie ich nicht wüsste, wie ich mich gegen ihn wehren könnte. „Vielleicht besorgst du mir mal die Adresse von ihm“, sagte sie. „Wenn ich weiß, wer er ist, kann ich dir vielleicht helfen.“ Jetzt kam sie häufiger in mein Kinderzimmer und zeigte mir ein paar neue Königshausbilder, die sie zuletzt getauscht hatte. „Vielleicht fällt dir zu meinem verschwunden Album doch noch was ein.“

Die Adresse von Basti Backer konnte ich Lili bald besorgen. Sie werde sich um ihn kümmern, sagte sie. „Vor allem, dass er immer wieder Lügengeschichten über mich verbreitet, ist besonders schlimm“, erzählte ich ihr. „Zuletzt hat er behauptet, er hat eine Uhr von einem Mitschüler in meiner Tasche gefunden. Das ist bis zum Klassenlehrer gegangen. Dem konnte der Basti aber nicht beweisen, dass sie aus meiner Tasche war.“ Lili zog die Stirn kraus. „Lügengeschichten sind schon was Schlimmes“, sagte sie, „und ich frage dich jetzt nochmal, ob dir was zu meinem Königshausalbum eingefallen ist.“ Diese Frage begann weh zu tun. Ich war ein genauso elender Lügner wie dieser Sitzenbleiber.

Das Mobbing in der Schule wurde immer schlimmer, und ich wusste nicht mehr, wie ich mir helfen sollte. „Du Ärmster“, sagte Lili. „Ich hab‘ übrigens mit dem Basti gesprochen. Er hat alles abgeleugnet. Ich hab‘ ihm vorgeschlagen, wir drei, du, der Basti und ich, sollten uns mal treffen. Was meinst du? Wärst du damit einverstanden?“ Ich war einverstanden. „Und vielleicht kannst du mir dann auch helfen, mein Album wiederzufinden.“

Allmählich kam ich mir schlimm vor. Warum sollte nicht endlich einmal Schluss sein mit meinem Lügenspiel? Lili war inzwischen die einzige, die mich beschützen konnte und offensichtlich auch beschützen wollte. Es fiel mir sehr schwer, einen Weg zurück zur Wahrheit zu finden. Wochenlang überlegte ich hin und her. Und schließlich rang ich mich am 22.Oktober durch, ihr ein Zettelchen zu schreiben. „Liebe Lili, ich will alles wieder gut machen. Deine Mappe ist im Keller zwischen Papas Filmzeitschriften.“

Dann kam der 23. Oktober. Es war der erste Tag, an dem Basti wieder freundlich zu mir war. „Wir beide haben, glaube ich, einiges zu besprechen“, sagte er. „Mein Onkel hat in der nahen Laubenkolonie ein Gartenhäuschen. Da könnten wir uns mal treffen und uns aussprechen. Was denkst du?“ – Ich war ziemlich überrascht über den Vorschlag. „Das könnten wir doch auch in der nächsten Pause machen!“ – Er nickte. „Könnten wir. Aber ich möchte wirklich ungestört mit dir reden. So von Mann zu Mann!“ Na, das war vielleicht eine Redensart! Ich war doch für ihn kein Mann. Aber wer wird nicht gerne belogen!

Also gingen wir am Nachmittag in das Gartenhäuschen. Angenehm war es da nicht. Es roch muffig und man konnte kaum etwas sehen, so wenig Licht kam durch das kleine, schmutzige Fensterchen. Er sprach mich darauf an, ob ich von ihm lernen wolle, wie man sich gegen Mobbing wehren könne. „Man muss seine Gegner fertig machen.“ – „Das ist doch nicht unser Thema!“, sagte ich irritiert. Er lachte. „Zuerst sollte es einmal ums das Körperliche gehen.“ Und dann warf er sich auf mich, kämpfte mich nieder und im Nu saß er auf meinem Bauch. Gegen ihn hatte ich keine Chance.

„Und wie soll mir das jetzt helfen?“, rief ich. Er antwortete belustigt. „Soll es natürlich nicht.“ – „Lass mich, ich will weg hier!“ Er lachte schallend. „Weißt du eigentlich, dass du mich schon länger kennst? In Lilis Tagebuch komme ich vor. Da schreibt sie über ihr ‚Bärli‘, das bin ich.“ Und dann drohend: „Wo ist Lilis Königshaussammlung?“ Ich glaubte in ein tiefes Loch zu fallen und der Sturz wollte gar nicht mehr aufhören. Also war der Basti das ‚Bärli‘, also war alles von Lili angezettelt, also war Basti-Bärli ihre Rache gewesen, also rächte sie sich an mir, seit ihr Bärli in der Schule neben mir saß! Also war jetzt high noon!

Und jetzt wurde die Tür aufgerissen, und da stand Lili in der Tür. „Lili“, rief Basti. „Ich hab‘ ihn. Sag du, was ich machen soll. Ich kann ihm die Fresse polieren, ich kann ihn umdrehen und wir können ihm zusammen den Arsch versohlen, wir können ihn festbinden an dem Tisch und ihn ein paar Stunden schmoren lassen. Er wird am Ende wie ein zahmer Hund deine Füße lecken.“

Lili kam heran und kniete sich über mich. „Bärli, er hat gebeichtet. Ich hab‘ meine Sammlung wieder.“ Und sie fuhr sanft über mein Haar. „Danke“, flüsterte sie. Mehr Worte fielen ihr jetzt nicht ein. Bärli ließ mich frei. Ich stand auf, gedemütigt und geadelt. Wir sprachen nie mehr über das, was vorgefallen war, aber nun beschützte Bärli mich wirklich.

„Willst du jetzt mein neues Königshaus-Album sehen?“, fragte mich Lili. – „Lieber noch mal das alte, damit ich verstehe, was der Verlust für dich bedeutet hat.“

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 09.02.2021. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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