Doris Fischer

Das Alter

Jeden Morgen nach dem Aufwachen befällt sie eine Traurigkeit, die sie viele Stunden fest im Griff hat. Fragen über Fragen türmen sich in ihrem Kopf zu dunklen Gespenstern auf.
Mit aller Kraft  rappelt sie sich auf und steigt gequält  aus dem Bett. Sie geht ins Bad und schaut wie jeden Morgen in den Spiegel.
Ein Gesicht blickt ihr entgegen, mit dem sie nicht mehr zufrieden ist. Überall Falten, überall graue Haare. Was ist aus ihr geworden?
Seit sie altershalber  ihre Arbeit aufgeben musste und sich ihr Leben in erster Linie zuhause abspielt ,ist sie nicht mehr zufrieden mit sich und der Welt.
Was spielt sich eigentlich noch ab in ihrem Leben?  Nicht mehr viel – besser gesagt – nichts Großartiges mehr.

Außerdem  lebt sie  in den  Zeiten einer Pandemie. Es gibt sehr viele Einschränkungen, Kontaktbeschränkungen, Lockdown, keine persönlichen Freiheiten mehr.
Das ganze Leben ist fast zum Stillstand gekommen.
So ist es auch mit ihrem Leben , von dem sie sehr enttäuscht ist. Überall nur Leere und Eintönigkeit. Keine zwischenmenschlichen Kontakte mehr.
Jeden Tag nur warten, bis alles besser wird. Das ist ihr zu wenig. Sie kann nicht jeden Tag nur untätig herumsitzen und warten.  Das macht sie unzufrieden.
Sie würde so gerne wieder zu ihrer Arbeit zurückkehren.  Sie liebte ihre Arbeit über alles. Das können die anderen nicht verstehen.
Sie sagen, dass sie zufrieden sein soll, weil sie frei ist, weil sie keine Zwänge mehr hat und ihr Leben genießen kann.
Welches Leben denn? Ein Leben mit Corona kann man nicht genießen. Ein Leben ohne sinnvolle Arbeit kann man auch nicht genießen.  
Kein Genuss, keine Freude, keine Perspektive!

Trotz ihres Alters hat sie noch so viel Schwung, Energie und Tatendrang. Sie aber fühlt sich ausgebremst und eingeschränkt. Sie muss warten.
Worauf muss sie eigentlich warten?Auf ein neues, besseres Leben. Wann kommt dieses neue und bessere Leben?
Niemand weiß es. Niemand weiß, wann die Pandemie vorüber ist und jeder sein normales Leben wieder zurückbekommt.
Auch sie weiß es nicht. Nur eines weiß sie genau – sie ist alt und sie fühlt sich wertlos, weil sie nichts mehr leisten darf.
Weil ihr alles Wichtige in ihrem Leben genommen  wurde – ihre Arbeit, ihre Jugendlichkeit.
Und jetzt soll sie auch noch warten bis die Pandemie vorüber ist und alles wieder besser wird?

Sie hat Angst vor der Zukunft, denn sie weiß ja nicht wie viel Zeit ihr noch geschenkt wird in ihrem Leben, weil sie ja schon alt ist.
Obwohl sie sich nicht alt fühlt, sondern aktiv und leistungsstark.Diese Zeit möchte sie eigentlich sinnvoll nutzen und nicht mit Traurigkeit und Unzufriedenheit verbringen.
Nein, das möchte sie auf keinen Fall. Das wäre ein sehr undankbares und egoistisches Verhalten von ihr.

Deshalb  beschließt sie, nicht länger den grauen und zerstörerischen Gedanken nachzuhängen, sondern wendet den Blick zum Fenster und sieht  die Sonne  von einem blauen wolkenlosen Himmel herab scheinen.Sie geht in den Garten und hört von überall her Vogelgezwitscher .
Sie nimmt den herrlichen Duft von Frühlingsblumen wahr.
Sie atmet tief ein und wieder aus. Sie reckt und streckt sich und genießt die warme Frühlingssonne.
Die schwermütigen Gedanken sind wie weggeblasen und sie spürt plötzlich eine innere Wärme und Zufriedenheit.

Sie denkt: „ Das Leben kann doch so schön sein. Man muss  nur  bereit sein, sich für die kleinen Dinge  zu öffnen und nicht immer auf die großen  warten.“

 

 

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 22.02.2021. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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