Meine Freundin Marie war ein zauberhaftes, aber schüchternes Mädchen.
Ich, der Hahn, sah sie kommen und begrüßte sie nach ihrer Rückkehr von Frau Holle mit fröhlichem „Kikeriki, die Goldmarie ist wieder hie“. Jeder im Dorf dachte damals, sie sei ertrunken, nach ihrem Sprung in den Brunnen.
Ihre Stiefmutter, dieses Rabenaas, nahm einen Stein und warf ihn nach mir, ging auf Marie zu, gab ihr eine Ohrfeige und schrie: „Wo hast du dich denn rumgetrieben, wolltest mich und deine Schwester wohl verhungern lassen?“
Marie ging schweigend ins Haus, zog das goldene Kleid, die Strümpfe und Schuhe aus, nahm den alten Kittel vom Haken und setzte sich mit der goldenen Spindel ans Spinnrad. Ihre Stiefschwester, die faule Marie, riss sie ihr aus der Hand und fuhr sie barsch an: “Nun sag schon, wie du zu dem Reichtum gekommen bist.“
Marie erzählte von den Broten im Backofen, den Äpfeln am Baum und der Arbeit bei Frau Holle. Da unterbrach sie die faule Marie und sagte boshaft: „Hättest die Alte ruhig ein bisschen unter Druck setzen können, wegen Kindearbeit. Wäre sicher noch so mancher Taler für dich abgefallen.“ Sie
betrachtete Marie und sagte: „Mutter und ich wollen nicht, dass jemand aus dem Dorf von dieser Geschichte erfährt und man dich womöglich für verrückt erklärt."
Sie nahm ein Messer und versuchte Marie das Gold aus dem Gesicht, von den Armen und Händen zu kratzen. Als dies nicht gelang, schnitt sie ihr mit der Schere die goldenen Zöpfe kurz über der Kopfhaut ab und legte sie in ihre Mitgifttruhe.
So vergingen die Tage. Maries Haare wuchsen nach und glänzten golden in der Sonne. Jakob, der Bauernsohn, hielt bei ihrer Mutter um ihre Hand an. Weil er
auf die Mitgift verzichtete und sie so einen Esser weniger ernähren musste, stimmte die Stiefmutter freudig zu.
Marie und Jakob waren sparsam und fleißig, ernährten sich von den Hühnern und Schweinen im Stall und vom Gemüse, welches sie auf den Feldern und Wiesen anbauten. Marie saß täglich mit den anderen Frauen des Dorfes am Brunnen. Sie lachten, tauschten Rezepte, waren glücklich und steckten den Kindern selbstgebackene Kekse mit Zuckerstreusel in den Mund. Niemals verriet Marie dem Priester, der sie und Jakob getraut hatte, die Namen der Jungen, die täglich an der Kirchentür Klingelstreiche und anderen Schabernack trieben
Eines Tages hörte ich, der Hahn, im Haus der Stiefmutter Stimmen und sah sie durch das Fenster mit ihrer Tochter am Tisch neben der Durchreiche sitzen.
Neugierig begann ich zu lauschen.
„Könnte auch viel Gold gebrauchen. Ohne vernünftige Mitgift würdigt mich doch sonst keiner eines Blickes. Gehe morgen zum Brunnen und werde der "Alten" Dampf unter den Hintern machen, nach dem ich bei ihr arbeiten musste“, sagte boshaft die faule Marie. Ihre Mutter nickte und gab ihr die Spindel.
Die faule Marie vermisste niemand. Nur ich, der Hahn, sah sie kommen. Im Dunkeln schlich sie zur Haustür, klopfte und bevor ich mein Begrüßungskikeriki krähen konnte, war sie im Haus verschwunden. Ich flog zum Küchenfenster und erschrak. Die faule Marie weinte und raufte sich die verklebten Haare. Gesicht und Arme waren schwarz, die Kleidung voller Teer. Ihre Mutter versuchte sie trösten. Doch Marie stieß sie weg und schlug um sich. Die ganze Nacht redeten und gestikulierten die beiden in der Küche bei geschlossenem Fenster miteinander.
Am Morgen danach betrat Schneeweißchen, die Therapeutin aus dem Nachbardorf, das Haus der beiden Frauen. Alle im Dorf wussten, dass Schneeweißchens Fangopackungen wahre Wunder auf der Haut und vor allem im Gesicht bewirkten. Jeder war gespannt und neugierig. Es wurde getuschelt und gemunkelt.
Doch erst nach einer Woche sah man die faule Marie im schwarzen Brautkleid und mit Ehering durch das Dorf laufen. Sie klebte an jeden Baum und jede Laterne einen Zettel.
Bekanntmachung
Der Höllenteufel hat um meine Hand angehalten und ich, Marie, bin gern seine Frau geworden. Trage deshalb den schwarzen Schleier für immer. Mein Mann und ich haben beschlossen, dass ich auf Dauer hier im Dorf wohne. Jedem, der wissen möchte was ihn in der Hölle erwartet, werde ich gegen Zahlung einer Gebühr Auskunft geben. Ebenso bin ich ermächtigt, das Freikaufen von der eigenen Höllenqual nach telefonischer Vereinbarung zu ermöglichen.
Es dauerte nur zwei Tage und sämtliche Parkplätze im Dorf und in den Nachbargemeinden waren besetzt. Männer in dunklen Anzügen und teuren Autos, Frauen mit manikürten Nägeln gaben sich tagsüber regelrecht die Klinke in die Hand, grüßten sich kurz, wenn sie sich begegneten und gingen dann eilig weiter. Auch nachts schlich sich so manch dunkle Gestalt zu Marie. Niemand wusste, ob man glauben konnte was man munkelte. Doch weil Marie pünktlich ihre Steuern zahlte und mancher Dorfbewohner sich sogar kostenlos von den Qualen befreien durfte, schwieg man still.
Mehrmals im Jahr packte Marie ihre Koffer, um ihren Mann in der Hölle zu besuchen. Angeblich spielte sie dort auf der Flöte und er begleitete sie auf dem Fagott. Immer kam sie mit einem Koffer voller Geld zurück und einmal sogar mit einem Baby im Arm.
So lebten die fleißige und die faule Marie glücklich und zufrieden bis an das Ende ihrer Tage. Doch als die faule Marie zu Grabe getragen und in geweihter Erde bestatten werden sollte, regte sich bei den Dorfbewohnern Unmut.“ So eine hat Gott nicht verdient“ oder „Soll sie doch der Teufel holen“ stand auf den Schleifen der Kränze. Man fürchtete um den guten Ruf des Dorfes und um Pilgerströme peinlicher Zeitgenossen.
Ich, der Hahn, flog, um den Trauerzug besser sehen zu können, auf die Eiche neben dem Tor. Den Sarg zog ein starker Mann auf einen Karren bis außerhalb vor die Friedhofsmauer. Den Leichnam wollte man, wie bei "Solchen" üblich, in der bloßen Erde verscharren. Keiner der Anwesenden sprach. Der Totengräber öffnete den Sarg- er war leer. Nur ein leichter Schwefelgeruch lag in der Luft.
(C) Martina Wiemers
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 24.02.2021. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).
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