Helga Moosmang-Felkel

Die Regenkatze Kapitel 2

Als Blue wieder erwachte, ging im Osten die Sonne auf und öffnete sich langsam wie ein goldenes Auge.

Die Herbstnebel zerstreuten sich. Sie blinzelte und im Gegenlicht schimmerten ihre Augen wie gelber Jaspis. Sie witterte in den Wind. Kühle Schatten dehnten sich unter der Brücke aus. Blue gähnte.

Sie sah sich um und plötzlich stutzte sie. Mit ihren scharfen Augen entdeckte sie die kleine Mona, die unter einem Haselnussbusch saß. Ihr Herz klopfte heftig unter ihrem Fell. Blue erhob sich, streckte sich und lief zu Mona hinüber. Die Sonne schien nun auf dem Kanal zu segeln und im Wasser zu zerfließen. „Mona,…was machst du so früh am Morgen hier…?“ fragte Blue. „Ich bin weggelaufen…“, piepste Mona aufgeregt. Sie ließ den Kopf hängen. „Du gehst besser zurück…“, sagte Blue, „du bist viel zu jung für ein Leben hier draußen…, gerade jetzt…ist es ziemlich gefährlich“, fügte sie seufzend hinzu, als sie an die tote Katze dachte.

Mona schüttelte trotzig den Kopf. „Ich gehe nicht zurück, Lucy ist so gemein zu mir, sie hat mich ausgelacht, weil ich…, weil Robby und ich…, ich möchte ihn eben gerne allein treffen…“, stotterte sie und stellte ihre kleinen Ohren auf. Beinahe hätte Blue laut heraus gelacht, so albern fand sie das Ganze. Das Wasser des Kanals schimmerte smaragdgrün in der Sonne und mehrere Fische tummelten sich in Ufernähe. Blue war eine geschickte Jägerin und hätte sich gerne ein Frühstück geangelt, aber nun musste sie sich um Mona kümmern.

Weißt du…“, begann Mona wieder von Neuem und lächelte kokett, „ich bin mir sicher, dass er ein Auge auf mich geworfen hat,…und er ist so süß mit dem cremefarbenen Fell und den blauen Augen…und Lucy ist nur eifersüchtig…“ „Wie auch immer…“, unterbrach Blue, die sich langsam genervt fühlte, sie, „ich bringe dich zurück zum Brunnen, da treffen sich heute mehrere Katzen, von dort kannst du nach Hause gehen, es ist nicht weit…“

Könnte ich nicht bei dir bleiben,…ich meine vorübergehend…?“ fragte Mona schüchtern. „Nein, das kannst du nicht…“, versetzte Blue grob, „ich kann mit Katzenbabys, die diesem Dandy hinterher laufen, nichts anfangen…, jetzt putz dich erst einmal, dann sehen wir, ob wir beim Fischgeschäft in der Nähe vom „Moulin Rouge“ etwas zu fressen finden…und dann nichts wie nach Hause mit dir…“

 

Mit einem eleganten Sprung erklomm Blue die kleine Brücke und schlug den Weg zum Pariser Platz ein. So früh am Morgen lag das Vergnügungsviertel verlassen und ein wenig trostlos in der herbstlichen Sonne. Mona stolperte brummend und protestierend hinter ihr her. Doch schon bald ließ sie sich ablenken und machte Jagd auf kleine Lichtringe, die durch die entlaubten Bäume fielen. Dann hetzte sie hinter einem verirrten Falter her. Blue fand, dass es ziemlich anstrengend war, auf kleine Katzen aufzupassen. In einer besonders engen Gasse kam ihnen Omar entgegen. Er japste an ihnen vorbei, als wäre der Teufel hinter ihm her, ohne sie zu grüßen oder ein Zeichen zu geben. Für seine Verhältnisse rannte er ungewöhnlich schnell. Ein komisches Angstgefühl streifte Blue. Sie begann schneller zu laufen. Mona jammerte, dass sie nicht hinterher käme. Blue umkreiste gerade das „Moulin Rouge“, als sie hörte, wie Mona entsetzt aufschrie. Mit einem Satz war Blue neben ihr und erschrak. Eine Katze mit rotem Fell lag steif neben dem Eingang, ihre Augen waren starr, ihr Gesicht zu einer grinsenden Fratze verzerrt. Mona heulte und jammerte und fragte immer wieder: „Ist sie tot? Sie ist doch nicht etwa tot?“ Mona lispelte vor Schreck. Ihr ganzer Brustkorb bebte. Vorsichtig schlich sich Blue näher heran. Nichts rührte sich. Ein Geruch nach saurer Milch schlug ihr entgegen. Ihr Magen zog sich zusammen. Die immer lachende Philippine war mausetot. Tränen traten in Blues Augen und fast hätte sie auch losgeheult. Doch sie riss sich zusammenreißen wegen Mona, die mit geweiteten Pupillen auf die tote Katze starrte. Blue hatte die lustige Philippine gerne gemocht, auch wenn sie nur eine billige Straßenkatze mit ungepflegtem Fell gewesen war. Blue zwang sich, näher an Philippine heranzugehen. Sie beugte sich über sie und entdeckte mehrere tiefe Kratzspuren am Hals. Sie sah sich vorsichtig um. Alles war leer. Keine andere Katze ließ sich sehen. Mitsou, die sonst immer in Philippines Nähe gewesen war, war auch verschwunden.

Wir können nichts mehr für sie tun…“, flüsterte Blue beklommen. „Wir müssen zum Brunnen und es den anderen Katzen sagen…“ Noch einmal warf sie einen Blick auf Philippine, deren Fell an mehreren Stellen verfilzt war. Monas Augen waren schmal vor Panik. „Schnell…“, sagte Blue, „lass uns die Abkürzung durch den Rosengarten nehmen…“ Sie versetzte Mona einen kleinen Stoß und lief los, so schnell sie konnte. Schnell steuerte sie auf den Park zu. Noch lange spürte sie das „Moulin Rouge“ wie eine Bedrohung im Rücken. Mona fegte neben ihr her. Sie hatte die Ohren ängstlich angelegt und duckte sich fast in den Boden. Erleichtert tauchten sie unter die Hecken im Park, nur fort aus dem blendenden Licht. Mona atmete keuchend ein und aus vor Angst. Sie war völlig verstört. Die Äste hoben und senkten sich und sie blieben eine ganze Weile in Deckung. Die Düsternis unter den Büschen passte zu ihrer Stimmung. Das Licht huschte unstet hin und her. Mona kauerte sich in sich zusammen. „Wer hat das getan?“ fragte sie Blue weinerlich. Blue zuckte die Achseln. „ Ich habe keine Ahnung, wer sollte etwas gegen sie haben, sie war eine Tänzerin, leicht wie Staub…“, sagte sie traurig. Plötzlich fühlte sie sich plump und schwer wie Stein. Sie saßen lange auf den toten Blättern. Blues Augen tasteten sich am Boden entlang, folgten den Spiralen einer Fliege, die um sie herum summte. Mona weinte immer noch vor sich hin. Plötzlich entdeckte Blue etwas Weißliches zwischen den Rosenbüschen, die hinter dem Kupferbrunnen lagen. Überrascht erkannte sie Robby, der dort aufgeplustert saß und zu warten schien. Ihr fiel seine Verabredung mit Sugar wieder ein. Sie stieß Mona an. Als Mona Robby erkannte, begann sie sich trotz des Schreckens sofort zu putzen. Holzspäne hingen in ihrem Haar und sie jammerte: „Ausgerechnet jetzt bin ich so unordentlich…“ Immerhin lenkte Robbys Auftauchen sie von dem Schock über den plötzlichen Tod Philippines ab. „Ich liebe ihn…, oh ja, ich liebe ihn…“, säuselte Mona und ihre Augen begannen wieder zu sprühen.

 

Die kleine Mona konnte nicht länger an sich halten, und schoss wie ein Blitz auf Robby zu. Am liebsten hätte sich Blue davongestohlen, so unangenehm war ihr die Begegnung mit Robby. Mona berührte kaum mit den Pfoten den Boden und piepste schon von weitem: „Hallo Robby, wie schön,…dich hier zu treffen“. Robby sah ihnen mit unverhohlenem Ärger entgegen. „Was wollt ihr hier? Macht euch vom Acker…“, rief er verdrießlich. Er sah immer wieder zu der kurz geschnittenen Hecke hinüber, wo er Sugar erwartete. Die Rosen dufteten stark. Eine Dohle wachte auf und flatterte auf. „Aber, freust du dich denn nicht…?“ Mona sah plötzlich furchtbar enttäuscht drein. „Verschwindet…“, sagte Robby wieder, „ich will nicht mit euch gesehen werden…“ Blue fühlte eine unsagbare Wut in sich aufsteigen.

Philippine ist tot…“, sagte sie böse, „wir haben sie gerade beim „Moulin Rouge“ gefunden…“ Robby zuckte nicht mit der Wimper. „Das wundert mich nicht,…“, sagte er, „wenn man auf den Strich geht, ist der Tod eben nicht weit…“ Blue glaubte sich verhört zu haben. „Hast du kein Mitgefühl?“ fragte sie zornig. „Am Ende hast du sie selbst umgebracht, jedenfalls bist du in der Nähe…vom Tatort…“ Die kleine Mona japste: „Blue, das darfst du nicht sagen, Robby würde nie, niemals würde Robby…“ Sie konnte vor Aufregung nicht weitersprechen. Ein Gärtner begann die Wege zu fegen. „Oder vielleicht du, Regenkatze…du treibst dich doch an diesen schändlichen Orten herum…, und jetzt spielst du auch noch Katzendetektivin…“ Robby winkte ab: „Diese ganzen Katzendetektive sind unsagbar lächerliche Gestalten,…sie wollen sich nur wichtig machen und aufblasen…“ „Natürlich…, du willst dir ja deine weißen Pfoten nicht schmutzig machen…“, versetzte Blue giftig.

Ihr solltet jetzt besser laufen, sonst sieht euch der Gärtner mit dem schwarzen Bart und tötet euch auch noch…“, sagte Robby und lachte albern. „Dann nagelt er euch an die Wand,…das ist nämlich ein vornehmer Park…“ In Monas runden Augen standen plötzlich Tränen. „Warum bist du so gemein zu mir, ich bin doch eine Rassekatze,…eine Norwegische Waldkatze…“, sagte Mona leise. „Was treibst du dich dann mit diesem Gesindel herum,…“ Er sah in Blues Richtung. „Husch, husch, hau ab, sonst halten sie dich noch für einen Fuchs…“ Blue stolzierte mit hoch erhobenem Kopf an ihm vorbei, ohne ihn eines Blickes zu würdigen. Ihr aufgestellter Schwanz erinnerte an eine Drahthaarbürste. Mona folgte ihr gebückt. Die Kleine drückte sich fast auf dem Bauch an Robby vorbei. Sie war völlig geschafft. „Er will mich nicht…, er will mich nicht…“, flüsterte sie vor sich hin. „Ich wette, Sugar hat ihn versetzt…“, sagte Blue kalt. Sie trotteten mit hängenden Köpfen auf dem Kiesweg dahin, da zupfte Mona mit ihrer Pfote an Blues Fell und zeigte auf eine schokoladenbraune Katze, die an der Hecke entlang lief. Es war Sugar. Elegant setzte sie ihre schlanken Pfoten. „Nein, das glaube ich einfach nicht…“, sagte Blue. „Kann denn niemand diesem eingebildeten Robby endlich einen Denkzettel verpassen…“

 

Die Sonne stand schon hoch, als sie endlich den Brunnen erreichten. Der Marktplatz lag im strahlenden Licht. Viele Leute drängten sich um die Stände mit den dicken orangeroten Kürbissen, den frischen Kohlköpfen und verlockenden Maiskolben. Der Duft gerösteter Kastanien lag in der Luft. Der dicke Fischhändler, der Blue ein wenig kannte, warf ihr einen frischen, silbern glänzenden Hering zu, über den sie sich zusammen mit Mona hermachte. Auf den steinernen Brunnenstufen saßen mehrere Katzen brütend in der Sonne. Sie schienen sich zu beraten. Als sie näherkamen, entdeckte Blue den silbergrauen Said unter ihnen und ihr Herz machte einen kleinen Hüpfer. Auch die Waldkatze Lucy, die cognacfarbene Mitsou und der liederliche Ralf waren versammelt. Der rote Clarence mit dem leichten Silberblick stand hoch oben auf der Brunnenbrüstung und schien Ausschau zu halten. Die dunkle, sehnige Ebony balancierte neben ihm. Sogar der dicke Omar stand schnaufend am Brunnenrand und hielt sein Gesicht zur Abkühlung in die Fontäne. „Philippine ist tot…“, rief Ralf ihnen zu, „wir haben sie heute früh entdeckt…“ Ralf hatte sehr schräg stehende Augen, die grün und blau glitzerten, was ihm ein verwegenes Aussehen verlieh. Er hatte ein kurzes safranfarbenes Fell und mehrere Narben, die von den vielen Kämpfen, in die er sich verwickelt hatte, zurückgeblieben waren. Er nutzte jede Gelegenheit sich in den Vordergrund zu spielen und zu provozieren oder eine Show abzuziehen. Er war ein überaus geschickter Jäger, der jede Maus zur Strecke brachte. Er klaute auch viel in den Läden der Altstadt, ohne je erwischt zu werden. Seine Arglist und seine gezielten Bosheiten gegen ältere Katzendamen oder seine Verflossenen schreckten Blue ab. Sie mochte nicht, wenn er über sie in deren Abwesenheit lästerte und sie lächerlich machte, bis sich einige vor Lachen fast bepissten. Meistens wurde er von seinen zwei Gefährten begeleitet, die die Schmutzarbeit für ihn erledigten, einem dicken vierschrötigen Kater, den alle den fetten Russen nannten und dem dünnen, bissigen Wehringhauser, der vor hinterlistiger Bosheit strotzte und scharfe Reißzähne hatte. „Ich liebe es, gemein zu sein…“, war sein Standardspruch. Doch heute war keiner von Beiden zu entdecken, nur der gelbe Ralf mischte sich unter das Katzenvolk.

Da bist du ja,… du Ausreißerin…“, schrie Lucy, als sie Mona entdeckte und versetzte ihr einen festen Tatzenhieb auf den Kopf. „Wie konntest du einfach abhauen…, du freches Biest…“ Mona begann wieder zu heulen. Alles ging drunter und drüber. Alle redeten durcheinander. „Katzensöhne…“, brüllte schließlich der gelbe Ralf, „heute ist ein Feuertag,…wir werden Sooty aus ihrer Hütte holen und die alte Lügnerin zur Strecke bringen..., wir legen ihren Wahnsinn frei, und ziehen ihr die schwarze Galle aus ihrem Kloakenbauch…, sie wird es ausspucken, dass sie die Katzen auf dem Gewissen hat…, Gefährten folgt mir…“ Ein paar jüngere halbwüchsige Kater johlten und wetzten ihre spitzen Krallen an der nächsten Hausmauer. Blue drückte sich seitlich an den anderen vorbei, sie in die Nähe von Said gelangte. Er warf ihr einen scheuen Blick zu, dann lächelte er. Blue, die auch ein bisschen verlegen war, fragte schnell: „Woher wissen sie eigentlich so genau, dass Sooty etwas mit den toten Katzen zu tun hat…?“ Said wiegte nachdenklich den Kopf: „Ralf hat das in die Welt gesetzt,…er hat schon lange eine Art Krieg mit ihr…, er wollte ihren Schuppen und sie hat ihn damals in die Flucht geschlagen…, eine solche Niederlage kann er nicht ertragen…“ Sie hörten Ralf brüllen: „Die stinkende Sooty, die stinkende Sooty…, wir pflücken sie aus ihrem Mottenfell…“ Unter großem Miauen setzten sich die Katzen in Bewegung. Es war ein Tag der lauten Schreie und der bodenlosesten Gerüchte. „Ich bin Robby begegnet im Rosenpark auf dem Weg hierher…“, sagte Blue leise. Sie wollte noch mehr sagen, aber dann erinnerte sie sich an die schlechte Stimmung von gestern und verschluckte schnell den Rest.

 

Die Katzen durchquerten auf geheimen Pfaden die Altstadt, kletterten über steile Treppen hinauf zur kleinen Kapelle, hinter der ein großer Friedhof lag. Sootys Schuppen lag weit hinter dem Friedhof in einem Holundergehölz. Eine schwere Stimmung legte sich auf die Katzen, als sie am Rande des Friedhofs entlang schlichen. Sie vermieden es, zu den Gräbern hinüberzusehen. Die Sonne war am Sinken. Die Blätter, die auf der Straße lagen, erinnerten an gestrandete Boote. Ein nasses Essigbaumblatt, das verkehrt auf dem Weg lag, sah aus wie ein schmaler Streifen Eidechsenhaut. Alle waren ziemlich still geworden, nur Ralf grölte herum und peitschte mit seinem dünnen gelben Schwanz. Ein einzelner Vogel stieß grelle Töne aus. Das Baumlaub war schon gelbbraun. Beklommen schlich Blue neben Said her. Sie fühlte sich beklommen. Im Brustkorb fühlte sie eine Leere, als fehlte ihr Herz. Die Tropfen auf den Blättern der Bäume glänzten wie Glaskugeln. Insekten schwebten in einer Luft ohne den geringsten Dunst. Blue kannte Sooty kaum. Nur einmal war sie ihr auf dem Marktplatz flüchtig begegnet und furchtbar erschrocken. Die pechschwarze Katze war völlig lautlos plötzlich hinter ihr aufgetaucht und hatte ihr ein Stück Fisch entrissen. Sie war groß, aber nur Haut und Knochen und hatte große gelbliche Zähne. Sie schien ständig unverschämt zu grinsen. Sie hatte Blue angeknurrt wie ein Hund und Blue hatte sich fröstelnd in den nächsten Hauseingang verzogen. Sie liefen jetzt im Schatten der Friedhofsmauer die Straße entlang und mehrere Krähen flogen krächzend auf. Ralf grölte immer noch in die drückende Stille. Jenseits der Mauer begann das offene Feld. Der schwarze Schuppen, geduckt zwischen den Holunderbüschen, kam in Sicht. Hohes Unkraut wucherte um den Schuppen herum. „Sooty, komm raus, wir haben etwas mit dir zu klären…“, rief Ralf schon von weitem und peitschte mit dem Schwanz. Seine Augen leuchteten rötlich im untergehenden Licht. Die Sonne nahm wie ein riesiges Saugloch die letzte Wärme mit. Kein Laut war zu hören. Ralf schrie immer wieder, rief Sooty. Mona trippelte aus Versehen in die hohen, dichten Brennnesseln und miaute plötzlich schrill. Ein paar der jungen Kater murrten. Sie hatten mit einer anständigen Schlägerei gerechnet. Aber alles war totenstill. Das ganze Holundergehölz schien ausgestorben. Ralf sprang gegen den Schuppen und kratzte mit der Pfote penetrant an der Türe. Er scharrte und wühlte. Blue hatte das Gefühl, gleich an ihrer Aufregung zu ersticken. Mehrere Katzen drängten Ralf nach und begannen an dem Holz zu kratzen.

Clarence versuchte von einem niedrig gewachsenen Apfelbaum auf das Dach des Schuppens zu springen. Wie immer blieb Said, dessen Neigungen eher philosophischer Art waren, am Rande stehen und beobachtete die anderen nur. „Wartet…“, rief Ralf, „ich gehe allein rein…“ Mitsou rannte zu ihm hinüber, drückte sich an seine Flanke und kreischte: „Das ist viel zu gefährlich…, sie tötet dich, sie saugt dir den Atem raus, sie hat Gift in den Krallen…“ Ebony schob sich neben Blue und sagte leise: „Wenn sie will, bricht sie ihm das Genick, ohne ihn zu berühren…, der alte Joe hat sie in alles eingeweiht…“

Ebony bewunderte insgeheim die alte Sooty. Sie hatte schon mehrmals versucht, ihre Schülerin zu werden, aber Sooty hatte sie nicht in ihrer Nähe geduldet und immer wieder verjagt. Blue dachte an die Geschichten, die die älteren Katzen nachts im „Chat Noir“ erzählten über den alten Ganoven Joe, der mit seinem Herrn Schwarzafrika bereist hatte. Sie handelten von Geisterkatzen, die durch Wände gehen konnten und schwebenden blauen Katzenaugen, von schwarzer und weißer Magie, von geschnitzten Katzenpüppchen, mit denen man andere Katzen verhexen konnte. Besonders gruslig fand Blue die Geschichte von einer Katze, die in Trance fiel und sich dann selbst im Sand vergraben wollte. Sie konnte nicht mehr aus der Trance erwachen und war lebendig tot. Der alte Joe hatte von Fetischen und Gris-Gris berichtet und von weißem Rauch, den die Zauberer in den Himmel bliesen. Der alte Joe bezeichnete sich selbst als Tricksterkater, der mit der großen Geisterkatze, MamouMamou telefonieren konnte. Er hatte von Schreien und Schüssen berichtet, von Blut und Tod und brennenden Hütten. In den Pausen hatte er dreckig gelacht und unanständig die Beine gespreizt. Er war lange mit Sooty herumgehangen und hatte sie in die Lehren seiner Ahnen eingeweiht. Mit jeder ihrer Erinnerungen wurde es Blue mulmiger zumute. Joe hatte behauptet, dass er die Macht hatte, jede Katze mit seiner Kraft innerhalb weniger Stunden zu töten. Plötzlich erinnerte sich Blue, wie oft er von den Königsschlangen erzählt hatte, die hinter dem Schuppen lebten, deren Blut giftige Flüssigkeit war und die nur nachts herauskamen. Es dämmerte bereits. Wenn eine Königsschlange auf einen spuckte, musste man sterben. Am liebsten hätte Blue Reißaus genommen.

Ängstlich sah sie zu Said hinüber. Er hielt sich immer noch am Rande der Wiese auf. Sie kroch leise zu ihm hinüber. „Wenn Sooty uns angreift,…hauen wir durch dieses Loch in der Mauer ab…“, flüsterte er Blue zu. „Das ist der beste Fluchtweg…“ Blue nickte, doch insgeheim fragte sie sich, ob sie den Angriff der Zauberkraft überhaupt bemerken würden, bevor es zu spät war. Said setzte zwar immer auf Sicherheit, aber von Katzenmagie schien er nur wenig zu verstehen. Aufgeregt beobachtete sie, wie Ralf sich nun energisch durch einen Spalt in der seitlichen Schuppenwand zwängte. Alle hielten den Atem an. Kurz hörte man ihn noch fluchen und zappeln, dann herrschte eine dumpfe Stille. Die anderen Katzen hatten einen großen Halbkreis um den Schuppen gebildet. Mehrere schlichen sich vorsichtig näher heran. Der dunkle Glanz der untergehenden Sonne lag noch auf dem Holz des Schuppens. Es herrschte ein unheimliches Zwielicht. Plötzlich hörte man einen Aufprall und dann drang ein markerschütternder Schrei aus dem Inneren des Schuppens, der alle erstarren ließ. Sekundenlang blieb alles geisterhaft still, dann ertönte wieder ein langgezogener Schrei. Alle wussten, dass es Ralf war, der da schrie. In schneller Abfolge stieß er immer mehr Schreie aus. Wie Wellen kräuselten sie sich durch die Stille und verebbten. Die meisten Katzen wichen langsam zurück. Nur Mitsou sprang völlig außer sich zum Schuppen und kratzte verzweifelt miauend an der Wand. Ebony grinste klammheimlich in sich hinein. Said trat von einem Fuß auf den anderen und schielte zu dem Loch in der Mauer. Die kleine Mona plapperte wie ein Papagei vor sich hin: „Das ist so furchtbar, nein, wie ist das alles schlimm…“ Plötzlich knackte es und knisterte und Ralf zwängte sich rückwärts durch den Spalt. Als er langsam näher kam, sah Blue, dass er humpelte und seine Schnauze blutüberströmt war. Immer noch rann Blut heraus. Ein roter, dünner fließender Strahl.

Er stolperte, fiel hin und erhob sich schnell wieder.

Die anderen umringten ihn, spähten ängstlich zurück zum Schuppen. „Die alte Hexe da drin ist wahnsinnig…“, flüsterte Ralf. „Sie hat mich mit einer eisernen Pranke verletzt,…ich hatte nur Glück, sonst wäre ich jetzt genauso mausetot wie Philippine…“ Er kroch durch das Gras. Niemand wagte es, ihn zu berühren, als klebte Sootys Gift an seinem Fell. „Ihre Pfote schwoll plötzlich an, sie wurde riesig und reichte durch den ganzen Schuppen,…so konnte sie überall nach mir greifen…, ich hatte keine Chance,…ich schwöre, sie hat mich mit schwarzer Magie verletzt, dieses dreckige, magere Biest…“ Ralf schleppte sich jammernd weiter. „Jetzt wissen wir, dass sie es ist, die die Katzen tötet, schließlich bin ich auch fast draufgegangen…,…in der Dunkelheit sah ich ihre Zähne unter dem Fell schimmern, ihr Kopf war plötzlich ein grinsender Schädel, ihre Augen so groß wie Untertassen…, der ganze Schuppen schwankte und drehte sich immer schneller…“ Blue konnte kaum glauben, was sie hörte. Verstohlen drehte sie sich um und sah zurück zum Schuppen. Sie erschrak bis ins Mark, als sich die dunkle magere Silhouette von Sooty vor dem Schuppen abzeichnete, die ihnen mit der Pfote drohte.

 

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