Die salzige Brise blies Ignacio ins Gesicht, tiefe Falten zeichneten sich
auf der von Salzwasser und Sonne über Jahre gegerbten Haut. Mit
konzentriertem Blick peilte er das pulsierende Licht des Hafenleuchtturms an
und ruhte seine, von harter Arbeit gezeichneten Hände auf dem Steuerrad
des alten Fischkutters. Schon sein Vater fuhr als Fischer zur See. Er dachte
nur noch selten an ihn, überhaupt durchschossen nur wenige Erinnerungen
an die Vergangenheit seine Gedanken, lieber mahlte er sich die duftend warme
Kanne heißen Tees aus, welche er sich nach getaner Arbeit gönnte.
Der majestätische Ozean lag still hinter ihm, Möwen flogen wild um
das Boot und kreischten hoffnungsvoll beim Versuch Fischabfälle zu
ergattern. Der Morgen hatte einen guten Fang gebracht, das Netz war
gefüllt mit Makrelen, Steinbutt und etwas Beifang. Mittlerweile mussten
die Fischer der baskischen Küstenstadt Getrania solch einen Fang als
Erfolg verbuchen. Doch Ignacio erinnert sich noch gut an die Tage, wo zwei
Mann kaum das Netz, voll mit Thunfisch und Schwertfisch, heben konnten. Heute
verirrt sich nur selten etwas Vergleichbares in die Biskaya.
Rhythmisch
tuckerte der Dieselmotor bei der Einfahrt in den Hafen. Die Fischhändler
standen sehnsüchtig am Kai und griffen gierig nach dem Tau, um Ignacios
betagten Kahn anzubinden. Die blaue Farbe blätterte am ganzen Boot ab,
der Bug war gezeichnet von Kratzern und Kerben. Zwei alte Bojen, rostfarben
und mit grünen Algen bedeckt, trennte den Holzrumpf von der Kaimauer aus
grauem Sandstein. Obwohl Ignacio gerade mal einen Meter zweiundsechzig
maß, war er dennoch kräftig. Seine untersetzte Figur, der runde
Bauch und die wurstigen Hände gaben ihm ein gemütliches Aussehen.
Doch wer in die hellbraunen Augen blickte, sah die Trauer, die er schon so
lange mit sich herum trug.
Das Abladen des Fangs - der
sofort auf die Waage der Händler gehievt wurde - das darauf folgende
Feilschen und der wortlose Austausch der Euroscheine, zeugte von einer Routine
dieser Männer weniger Worte. Umso mehr fiel jeder auf, der nicht dazu
gehörte. Um diese Zeit verirrten sich kaum Touristen an den Hafen. Erst
später nach einem gemütlichen Frühstück flanierten sie an
den Kaimauern entlang und sahen sehnsüchtig auf den weiten Ozean hinaus,
oder folgten den Möwen über ihren Köpfen, die ihr fliegerisches
Geschick im stetigen Kampf um Nahrung und Fortpflanzung darboten. An diesem
Morgen stand aber unweit vom hektischen Treiben der Fischhändler eine
ältere Dame, schlank, mit hohen Wangenknochen und grauen, schulterlangen
Haaren. Sie trug eine beige Hose, weiße Bluse und ein schickes
dunkelrotes Sakko mit goldenen Knöpfen. Immer wieder sahen die
Männer von ihrer Arbeit auf und zu der Dame hinüber, doch keiner
sprach ein Wort darüber. Nach einer halben Stunde war sein Tagesfang
verkauft und Ignacio bereit, den Kutter zu verlassen. Zunächst schaltete
er den Motor ab, der im letzten Rattern eine schwarze Rußwolke aus dem
Abgasrohr schoss, welches neben dem Führerhäuschen in den Himmel
ragte. Dann bedeckte er das Boot mit einer großen grünen
Plastikplane, verzurrte sie an den Seiten und stieg auf den Kai hinab. Noch
ein prüfender Blick zum Tau und Ignacio schlenderte mit einer
Thermoskanne unterm Arm und der wohlverdienten Zigarette im Mundwinkel,
beruhigten Gewissens nach Hause.
Der Weg zu seinem Haus
schlängelte sich durch das alte Fischerdorf, umsäumt von
Steinhäusern mit kleinen Fenstern und bunten Rollläden.
Wäscheleinen zogen sich über seinen Kopf von einer Seite zur
anderen. Aus einem der Fenster ragte eine etwas rundliche ältere Dame
hinaus und schob nacheinander frischgewaschene Wäsche auf eine der Leinen
und nickte ihm freundlich zu. Man kannte sich in Getrania und man kannte die
Geschichte der Leute hier.
Am Haus angekommen, öffnete
Ignacio das grüne Gartentor. Quietschend ächzten die rostigen
Scharniere in der Steinmauer, die den Vorgarten mit Orangenbaum und
Tomatenpflanzen umfriedete. Wie jeden Morgen wog er erstmal die Tomaten in
seinen Händen und inspizierte die Röte, um den beste Erntezeitpunkt
nicht zu verpassen.
„Señor Urberoaga?“, etwas
überrascht drehte Ignacio sich um und musterte die Dame an seinem
Gartentor. Mit offenem roten Sakko stand sie vor ihm und hielt einen Brief in
Händen. Ihre Mundwinkel umspielte ein zartes Lächeln, die Stimme war
sanft und verlieh ihr eine freundliche Aura. Es war die Dame vom Hafen. Etwas
an ihr gefiel ihm, ohne zu wissen, was genau.
„Hier gibt es keinen
Señor Urberoaga“, antwortete Ignacio nach anfänglichem
Schweigen. Mit der rechten Hand griff die Dame in ihre Sakkotasche und holte
ein Brillenetui heraus. Aus dem kramte sie eine schmale, silberne Lesebrille
hervor, die kaum breiter war als ein Füllfederhalter. Mit der Brille auf
der Nase las sie prüfend den Umschlag.
„Das ist doch Kalea
Arrantzalea 22 oder?“
„Ja“, brummte Ignacio und trat
einen Schritt näher. Verstohlen sah er die Straße hinunter und fuhr
mit der Hand durch seine Haare.
„Dann sind sie doch sicher
Señor Iñaki Urberoaga?“
„Iñaki
Urberoaga gibt es hier nicht mehr.“
Die Dame nahm die Brille in
die Hand, biss kurz auf das Ende des Bügels und sah erneut auf den Brief.
„Können Sie mir sagen, wo ich Señor Urberoaga finden
kann?“
Ignacio schnaufte und wich ihrem Blick aus.
„Wieso interessiert sie das so sehr?“
„Ich muss ihn
finden, denn ich habe eine wichige Botschaft für ihn.“
Ignacio runzelte die Stirn und sah auf den Brief in ihren Händen. Nach
einer Weile drehte er sich um und stapfte zur Haustür.
„Mögen sie Tee?“
„Oh ja, sehr gern“,
erwiderte die Dame und schenkte ihm ein Lächeln.
„Dann kommen
sie rein, aber ziehen sie ihre Schuhe aus.“
Sie folgte Ignacio und
zog ihre Stiefeletten an der Haustür aus.
Von einem kleinen
Fenster drang etwas Licht in den Raum, die Sonnenstrahlen erhellten den in der
Mitte platzierten Küchentisch. Ein Holzstuhl stand dahinter und verdeckte
teilweise den Herd im Hintergrund. In ausgetretenen Schlappen wanderte Ignacio
zum gusseisernen Waschbecken und seifte kräftig seine Hände ein.
Fischgeruch hing leicht modrig in der Luft, aber dezent genug, um nicht
abstoßend zu wirken.
„Nehmen sie Platz“, bot Ignacio
mit einer einladenden Handbewegung an. „Ich habe nur den einen Stuhl,
bin Besuch nicht gewohnt.“
Die Dame setzte sich, ohne ein weiteres
Wort zu sagen und nickte dankend in seine Richtung. Der Raum war karg
eingerichtet und die Decke lag tief. Ein von Staub bedeckter Stofflampenschirm
hing direkt über dem Tisch und auf der gegenüberliegenden Seite
verdeckten Regale und ein Holzschrank die Steinwand. Bunt verziert mit
ausgewaschenem Blumenmuster hatte jemand vor vielen Jahren die Türen des
Schranks bemalt. Ein dicker Holzbalken durchzog in der Mitte die Decke bis zum
anderen Ende des Raums. Eingerahmt zwischen zwei Kommoden stand ein
Einzelbett, auf dem ein großes Laken ordentlich gefaltet lag.
Jahrelanges Waschen hatet seiner weißen Farbe einen grauen Schimmer
verliehen.
Im Kamin aus rotem Backstein entflammte das Feuer,
nachdem Ignacio den Zunder mit einem Feuerzeug anzündete und zwei
Holzscheite nachlegte. Vor sich hin murmelnd trottete er zum Herd, nahm eine
verbeulte Teekanne hervor und stellte sie auf die Platte.
„Was
könne sie mir über Señor Urberoaga sagen?“, unterbrach
die Dame Ignacio. Er lehnte sich an den Herd und sah sie durchdringlich an.
„Was interessiert sie an ihm?“
Die Dame räusperte
sich, platzierte den Brief vor sich auf den Tisch und daneben ihre Lesebrille.
„Ich komme vom königlichen Archiv der Post in San Sebastian
und wir arbeiten momentan an Korrespondenzen aus der Zeit des
Bürgerkriegs.“
Bei dem Wort wandte Ignacio sich ab und sah
zum Fenster hinaus.
„Uns sind stapelweise Briefe für
Señor Iñaki Urberoaga aufgefallen, die alle als unzustellbar
galten. Als ich jedoch die immer selbe Adresse überprüfte, kam ich
zu diesem Ort, genauer gesagt zu diesem Haus.“
Ignacio schob sein
Kinn vor und runzelte die Stirn.
„Von wem sind die Briefe?“
„Señora Esmeralda Urberoaga, adressiert an Iñaki
Urberoaga in Getrania.“
Mit weitgeöffneten Augen richtete er
sich auf, im Hintergrund knackste das Feuer und ein Funken sprang aus dem
Kamin auf den Steinboden.
„Was sagen sie da? Sind sie sicher?
“, Ignacios Stimme bebte leicht, „von meiner Frau?“
Die Dame hob ihre Augenbrauen und öffnete die Handflächen.
„Dann sind sie also Señor Iñaki Urberoaga?“
„Nein“, antwortete er und zog seine Augen zu kleinen Schlitzen
zusammen, „der war ich mal.“
Verdutzt schüttelte die
Dame ihren Kopf und bohrte erneut nach, wer er denn nun sei.
Pfeifend
unterbrach der Teekessel das Gespräch, woraufhin Ignacio ihn vom Herd
nahm. Mit seiner linken Hand griff er in ein Regalfach an der Wand und holte
zwei Tassen hervor. Gleich daneben stand eine Box mit Teebeuteln. Er schnappte
zwei heraus und hängte sie an den Henkeln ein, bevor das brühend
heiße Wasser drüber floss.
Dankend nahm die Dame den Tee
entgegen und sah ihm in die Augen. Er wich ihrem Blick aus, schnaufte und
lehnte sich an den Herd. Mit geschürzten Lippen blies Ignacio kühle
Luft auf den Tee und umklammerte mit beiden Händen die Tasse.
„Ich war mal Iñaki Urberoaga. Ein junger Mann, voller Ideale und
Träumereien für ein freies Baskenland. Doch sehen sie wo mich das
hingebracht hat.“ Er sah sich in seinem Haus um. „Zwölf Jahre
saß ich in Trazcatil...“
„Das Gefängnis?“,
unterbrach die Dame und Ignacio fuhr nickend fort:
„Die spanische
Folterkammer nannten wir es.“
Betretendes Schweigen stand zwischen
den beiden. Sie wog den Brief in ihren Händen und Ignacio zeigte auf ihn.
„Dieser Brief, oder all die Briefe die sie in ihrem Archiv haben
wollen, sind mit Sicherheit nicht von meiner Frau. Sie starb vor Jahren an
Krebs, alleine im Krankenhaus, während ich im Gefängnis saß
und kein Wort von ihr zu hören bekam.“ Seine Augen offenbarten die
Verbitterung.
„Erst hatte ich mir eingeredet, dass die Spanier
meine Briefe abfingen und sie gar nicht wusste wo ich war, doch dann
tröstete ich mich bei dem Gedanken, dass sie mich schon längst
vergessen hatte.“ Nachdenklich wandte er sich wieder zum Fenster.
„Doch wahrscheinlich hat sie tatsächlich nie einen Brief von mir
erhalten und mich wegen meiner Selbstsucht und Ignoranz verteufelt.“
„Señor, ich bin mir sicher, dass ihre Frau sie geliebt hat und
auch wusste weswegen ihre Briefe nicht ankamen. Nun haben sie die
Möglichkeit ein Stück Vergangenheit wieder zu bekommen.“
„In Donostia“, murmelte Ignacio vor sich hin, was die Dame mit
einem freundlichen Lächeln beantwortete.
„Ich muss
jetzt wieder fahren, diesen Brief lasse ich bei ihnen, doch ich würde
mich freuen sie bald wieder zu sehen.“
Mit diesen Worten stand sie
auf, nahm ihre Lesebrille und reichte Ignacio die Hand.
Nachdem sie gegangen war, blieb er eine ganze Weile schweigend am Herd stehen
und starrte auf den Brief. Dann erhob er sich, griff nach dem Umschlag und
warf ihn wütend in den Kamin. Sofort fraßen die Flammen sich in das
Papier, der schwarze Ruß wanderte wie eine berittene Armee zügig
voran, dicht gefolgt vom roten Glühen des Feuers. Doch im allerletzten
Moment griff Ignacio hinein, entriss den Flammen den Brief und pustete den
kleinen Brand aus. Die schmerzhafte Verbrennung an seiner Fingerkuppe
ignorierte er und zog vorsichtig eine Seite mit liniertem Papier aus dem
vergilbten Briefumschlag.
Und tatsächlich, seine geliebte
Esmeralda schrieb in den blumigsten Worten von ihm, wie sie ihn bewundere, ihn
vermisse und sehnlichst den Tag ihres Wiedersehens erwartete, egal ob in
diesem oder einem anderen Leben.
Eine Träne kullerte über den
dicken Tränensack die Wange hinunter. Es war Jahre her, dass Ignacio das
letzte Mal geweint hatte. Zu viele Schmerzen, zu viele Verluste hatten ihm das
Weinen abgewöhnt.
Nun stand er da, mit dem Brief in Händen,
auf den er fast fünfzig Jahre lang gewartet hatte.
Mit dem Daumen
wischte er die Tränen aus den Augen und marschierte zur Haustür,
öffnete sie und trat auf die Straße. Von der alten Dame, war nichts
mehr zu sehen, doch zu gern würde er auch die anderen Briefe in
Händen halten. Zurück im Haus drehte er die Wählscheibe seines
Telefons und wählte die Nummer der Auskunft. Beim vertrauten Tuten aus
dem Telefonhörer kamen Ignacio Zweifel. Was wenn die restlichen Briefe
anders sind, vorwurfsvoll, voller Ärger oder Verzweiflung?
„Telefonica Auskunft, wie kann ich ihnen helfen?“
„Äh, ja, achso. Könnten sie mir die Nummer des Archivs der
Post in Donost...in San Sebastian geben?“
„Moment....Archiv der Post sagten sie?“
„Ja
genau.“
„Mhhh, das gibt es hier nicht...“, antwortete
die junge Dame am anderen Ende. „Meinten sie vielleicht in Madrid?
“
„Nein.“
„Okay da gibt's das auch
nicht. Ich kann sie allerdings verbinden mit der Zentrale der Post in San
Sebastian, falls ihnen das weiterhilft?“
Kurz dachte Ignacio nach,
die alte Dame hatte eindeutig Archiv gesagt, aber vielleicht konnte jemand in
der Zentrale weiterhelfen.
„Ja bitte machen sie das.“
„Wird gemacht, ich wünsche ihnen noch einen schönen
Tag.“ Dann erklang eine automatische Stimme und Ignacio brummte
unbewusst in sich hinein.
Nach einer gefühlten Ewigkeit in der
Warteschleife antwortete ein Mann mit baskischem Akzent. Sofort wechselte
Ignacio ins Baskische und fragte den Herrn nach dem Archiv, wo alte Briefe
aufbewahrt werden.
„Verzeihung, aber so etwas haben wir gar
nicht.“
„Doch, doch das müssen sie haben. Eine Kollegin
von ihnen war vorhin bei mir und hat einen alten Brief meiner verstorbenen
Frau vorbeigebracht und erklärt die restlichen lägen im Archiv der
unzustellbaren Briefe.“
„Ich muss sie enttäuschen, aber
so etwas gibt es nicht. Wenn Briefe über einen längeren Zeitraum
unzustellbar sind, werden sie vernichtet.“
Nachdem der Postbeamte
das mehrfach erklärt hatte, legte Ignacio auf. Sein Blick wanderte zum
Fenster, draußen ragte die Sonne hoch über den Dächern und
wärmte die Steine der Straßen und Häuser. Unweigerlich fiel
ihm die alte Dame wieder ein. Wer war diese Dame? Ein ansatzweises
Lächeln huschte über seine Lippen, als er sich selber laut sagen
hörte:
„Der Stil und die Art der alten Dame, hätte
Esmeralda gefallen.“
Ignacio senkte seinen Blick und
überflog erneut den Brief. Dann riss er seinen Kopf in die Höhe und
starrte mit weit geöffneten Augen ins Leere.
„Esmeralda!“
© 2021
Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Philipp Hallen).
Der Beitrag wurde von Philipp Hallen auf e-Stories.de eingesendet.
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 07.03.2021.
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