Niklas Götz

Rive Droite

„Frag doch einfach mal!“

„Gleich, lass uns doch erstmal schauen.“

„Nie fragst du nach. Es geht doch viel schneller und einfacher wenn man einfach mal fragt.“

„Ja, gleich, wir sind doch gerade erst angekommen.“

„Nie traust du dich zu fragen, ich weiß einfach nicht was du hast. Wahrscheinlich bist du einfach nur zu stolz dazu.“

Ich versuchte meinen Ärger hinunterzuschlucken, schaute Katrin einen halben Moment lang wütend an und lief dann vor zur Kasse. Ich war immer noch überzeugt, dass zwanzig Sekunden sorgfältiges Umschauen in der Eingangshalle des Centre Pompidou genügt hätten, um herauszufinden, weshalb das Museum geschlossen war, obwohl eine Visite Nocturne angekündigt war. Aber was soll’s. Bevor wir uns darüber nur streiten, zwang ich mich, mich in meinem in die Jahre gekommenen Französisch mit der Angestellten auseinanderzusetzen. Nach gefühlten zehn Missverständnissen und der ultimativen Erniedrigung, nämlich dass sie als französische Verkäuferin freiwillig auf Englisch wechselte, wusste ich woran es lag und war ein gutes Stück Selbstwertgefühl los.

„Na also, geht doch! Und, wie sieht’s aus?“

„Keine Visite Nocturne heute, es ist irgendeine geschlossene Veranstaltung im Museum.“

„Schade…ich wollte diese Kurzfilmoper „The Dust Channel“ sehen.“

„Was war das noch gleich?“

„Das mit dem Dyson-Staubsauger, Körperbehaarung und Geflüchteten in Israel, von dem Gaya erzählt hatte.“

„Hmmm…das klingt nach Centre Pompidou. Was machen wir jetzt?“

„Keine Ahnung, schlag du was vor“

„Ich hatte schon vorgeschlagen, dass wir zum Visite Nocturne gehen, du bist dran.“

Katrin zog es stattdessen vor zu schweigen. Sie verschränkte ihre Arme und klemmte dabei den Träger der kleinen schwarzen Handtasche zwischen ihre Unterarme. In weiten Schritten lief sie im Kreis, so weit, dass ihr hellblau gepunkteter Rock jedes mal wieder vollständig auf ihren langen Beinen zu liegen kam bevor sie den nächsten Schritt tat,wobei ihre langen, schwarzen Haare etwas von den überdimensionierten Lüftungen zerzaust wurden, denen sie gelangweilt hochschauend ihre kleine, spitze Nase entgegenreckte.

„Als wir damals in Paris lebten, ist mir sowas nie passiert…dass die Visite Nocturne einfach abgesagt wird“, sagte sie in gelangweiltem Ton.

„Mir schon. Im Musée d’Orsay“, antwortete ich, in letzter Hoffnung, ein vernünftiges Gespräch führen zu können Während ich daran arbeitete, mich in der Rolle als Katrins Alleinunterhalter abzufinden, schaute ich mich in der Eingangshalle um. Anders als das bunte Äußere dieses wirren Gebäudes war sie eher dunkel gehalten, bis auf die blauen und gelben Röhren an der Decke, die wie die Adern eines schwerkranken Patienten aus der Decke herausragten. Ich hatte selten so wenige Besucher hier gesehen, aber ich war auch selten da, als das Museum geschlossen war.

Die Absperrungen zum Schlangestehen waren traurig leer. Normalerweise freut man sich, sie so zu sehen, aber ohne jeden Besucher wirkten sie eher wie Utensilien eines Hürdenläufers. Selbst der obligatorische Museumsshop sah postapokalyptisch verlassen aus. Ich fragte mich, wie wir überhaupt reingekommen sind. Noch nicht einmal Katrin’s Handtasche wurde durchsucht.

Draußen wurde das Licht wärmer, der Abend näherte sich. Man konnte es auch am Verkehr merken, selbst hier im Herzen von Paris wurde um diese Uhrzeit der Asphalt zum Schlachtfeld. Ich gab auf, mir fiel nichts Sinnvolles ein, also sagte ich lakonisch: „Wollen wir etwas essen?“

„Ich weiß nicht“, murmelte Katrin, „ich bin mir nicht sicher ob ich schon wirklich hungrig bin.“

„Lass uns doch etwas suchen, bis wir es gefunden haben bist du hungrig genug.“

„Okay“, sagte sie nicht sonderlich motiviert. Wir gingen nach draußen, auf den weiten Platz am Fuße der Treppen, die jetzt voll von Menschen aus aller Welt waren.

„Wonach sollen wir suchen, wonach wäre dir?“, fragte ich, als würde ich die Antwort nicht schon kennen.

„Keine Ahnung“, sagte sie in einem beinahe protestierenden Ton.

„Kannst du eigentlich auch mal irgendetwas hilfreiches sagen?“, rutschte es mir heraus, und ich bereute es, ehe die letzte Silbe verklungen ist.

„Warum wirst du grundlos aggressiv? Such dir doch einfach was aus!“, fauchte sie sofort zurück und provozierte mich damit noch mehr.

„Ich will doch einfach nur nicht alles alleine entscheiden müssen, ist es denn so schwer etwas mitzudenken? Wir sind gemeinsam unterwegs, wenn ich alles selbst entscheiden wollte dann bräuchte ich dich nicht und wäre alleine besser dran!“, dachte ich laut, und stellte fest, dass ich damit gerade etwas wichtiges erkannt hatte.

„Wenn du unbedingt alleine sein möchtest, dann geh doch! Ich steh dir nicht im Weg! Ich brauche mich von dir nicht anbrüllen zu lassen!“, schrie sie mit hochrotem Kopf.

Ich hielt inne, wendete meinen Blick ab in Richtung Tür und kämpfte gegen den Schmerz an, der mir seit einigen Wochen wohl bekannt ist. Meine Beine waren bereit zu gehen, aber mein Herz blieb stehen.

Ich hielt inne. Dieses Gespräch eskalierte viel zu schnell. Ja, ich wünschte mir gerade wirklich, einfach nur alleine zu sein. Nicht nur gerade, sehr oft in den letzten Wochen. Ich hatte es mir nicht wirklich eingestanden. Ich wusste genau was ich fühlte, was ich wollte, aber ich hatte gute Gründe nicht so zu fühlen, es nicht zu wollen, dagegen anzukämpfen. Als ich Katrin traf war mir sehr schnell klar geworden, dass ich nie wieder allein sein, oder gar mit jemand anderem zusammen sein möchte.

Seit dem Tag, als ich Katrin traf, hatte ich auf das Fundament unserer Beziehung gebaut. Unser gemeinsames Leben schoss darauf in die Höhe wie die Türme gotischer Kathedralen, unsere Liebe war der Glauben der sie errichtete und die gemeinsamen Stunden das Gebet. So fühlte es sich zumindest im Rückblick für mich an. Ich schaute ihr in die Augen, die so anders, so kalt und brüchig waren. Vor Wut tippte sie im Sekundentakt mit ihrem Fingernagel auf ihre kleine Armbanduhr.

Irgendwann jedoch schien der Glaube schwächer geworden zu sein, an irgendeinem Punkt hatte sich etwas verändert. Oft genug dachte ich, es läge an ihr, aber ich wusste, dass das nur die halbe Wahrheit wäre. Aber ich bin niemand der einfach so aufgibt. Und so arbeitete ich jeden Tag aufs Neue daran, die Glut wieder zu entfachen…stets erfüllt in der Hoffnung, irgendwann irgendwie dafür entlohnt zu werden.

„Es tut mir leid…ich hatte es nicht so gemeint“, flüsterte ich, während ich meine Wut unterdrückte.

„Es ist okay. Komm, gehen wir.“

 

Wir verließen das Centre Pompidou und liefen eine ganze Zeit lang schweigend in Richtung Les Halles, Katrin stets eine Armlänge voraus. In diesem Viertel gab es, neben Unmengen an verschiedensten Menschen und einer UFO-förmigen Mall, zahlreiche billige Imbissstände, neben den amerikanischen Botschaften KFC, Burger King & Co. auch Gassen mit jeweils einem speziellen Fokus: eine vietnamesische und eine libanesische Gasse als Erinnerung an jene Zeiten, als Frankreich tatsächlich noch eine Grande Nation war, aber auch eine kleine Churrostraße und eine Yufkaecke, alles (für Paris) recht günstig und in zwanzigerfacher Ausfertigung. Ich fragte Katrin bei jedem zweiten Stand, ob sie denn Lust darauf hätte, aber sie fand immer etwas, das ihr nicht gefiel – zu voll, zu teuer, das hatte sie erst kürzlich, das mag sie nicht…selbst unser Lieblings-Manouché-Laden (eine Art Frühstücksfladenbrot) wurde nicht verschont, heute war er ihr zu suspekt. Ich wusste nicht, weshalb sie all dies tat. Aus Verzweiflung schlug ich den Crêpestand auf der Île de la Cité vor, an dem wir mal vor langer Zeit gegessen hatten, damals, als wir gerade erst zusammengekommen waren. Ich war überrascht, als sie zustimmte, und wir liefen gleich dorthin, in Richtung Seine. Ich war mir nicht sicher, wo genau der Stand war, aber ich ging davon aus, ich würde mich daran erinnern, wenn wir erst einmal dort sind. So wühlten wir uns durch Menschenmassen, und verloren uns vier- oder fünfmal. In den letzten Jahren hatten wir uns immer seltener an die Hände gefasst, was es deutlich schwieriger machte, zusammenzubleiben. Irgendwann erreichten wir endlich den Boulevard de Sébastopol, und der Andrang wurde etwas besser. Aus den vielen kleinen Imbissständen wurden Kasinos und Supermärkte, später Kleider- und Schuhgeschäfte, am Ende der Tour Saint-Jacques. Wir passierten sie alle schweigend, in einigem Abstand voneinander gehend. Es sollte sich erst ändern, als ich beim Ausweichen einer mit gefühlt 20 Tüten überladenen Touristin den sich mir von hinten blitzschnell annähernden E-Scooter nicht beachtete, und mich Katrin gerade noch so in die Touristin ziehen konnte, um eine deutlich schmerzhaftere Kollision zu verhindern. Die Marathonkonsumentin war sichtlich verärgert, fand aber keine Sprache, um sich verständlich zu machen. Ich bedankte mich bei Katrin, und ich spürte die anerkennenden Blicke einiger Einheimischer, die sich über jeden Versuch, die Touristenmassen zu vertreiben, freuten.

„Pass besser auf dich auf. Ich brauch dich noch“, sagte Katrin, und lächelte kurz. „Da vorne ist die Île, weißt du noch wo der Laden war?“

„Nein, ich weiß nicht mal mehr wie er hieß, nur dass er eine königsblaue Theke hatte. Aber ich glaub, wenn wir da gleich über die Brücke gehen, sollten wir schon dort sein.“

„Bist du sicher? Ich dachte es wäre woanders gewesen.“

„Ich denke schon“, sagte ich, und wir passierten bald darauf viele große Gebäude, wie das Justizministerium und Sainte-Chapelle, aber von der lokalen Fressmeile war keine Spur. Wir suchten weiter, gingen an Pont Neuf vorbei, aber keiner der Läden war der unserer Erinnerung. Mit jedem Mal, das wir abbogen, bogen sich auch Katrins Mundwinkel weiter nach unten, und als wir wieder zur Pont Saint-Michel zurückgekehrt waren, auf denen des Kaisers Initialie so prächtig strahlte wie vor 150 Jahren, meinte sie nur noch: „Ein tolles Erinnerungsvermögen hast du. Da vorne ist die S-Bahn-Station. Lass uns nach Hause gehen. Ich habe keine Lust mehr.“

„Aber wir haben doch noch nicht da hinten geschaut. Es kann doch nur noch dort sein!“, versuchte ich sie aufzumuntern.

„Nein, es reicht. Ich will jetzt weg hier“, fauchte sie unvermittelt. Ich verstand sofort, dass ich erst gar nicht nachfragen brauchte, wo das Problem lag. Mein Wort hatte jetzt kein Gewicht mehr. Wir überquerten die Brücke und gingen die kleine, nach Urin stinkende Treppe hinunter in die Station, die zum ersten Mal, seit ich mich erinnern konnte, nicht wie geflutet von Menschen war. Wir zogen unsere Tickets aus den Taschen und gingen zu den Drehkreuzen. Katrin ging souverän zu einem, das grell rot aufleuchtete, und konnte es natürlich nicht passieren. Ich nahm sie sanft an den Schultern und schob sie zu einem anderen Drehkreuz, doch sie drückte meine Hände grob weg. Ehe ich darauf reagieren konnte, stellten wir fest, dass auch dieses Drehkreuz gesperrt war. Ich schaute mich um und fand die gesamte Station leer vor.

„Anscheinend ist die Station geschlossen“, meinte ich nachdenklich.

„Mach das bloß nie wieder!“, raunte sie mit bebender Stimme. Ihre Augen glühten vor Wut wie heiße Kohlen.

„Was hast du? Ich wollte dir doch nur helfen.“

„Kannst du dir vorstellen, wie dumm sich das anfühlt von dir so herumgeschubst zu werden? Ich bin kein Kleinkind! Wag das ja nicht noch einmal!“

„Das weiß ich doch, ich meinte das doch gar nicht so. Und ich habe dich nicht herumgeschubst, sondern nur zärtlich zu einem Drehkreuz geführt von dem ich dachte, dass es funktioniert.“

„Du verteidigst dich ja auch noch! Bist du so auf deinem Ego-Trip dass du noch nicht einmal Entschuldigung sagen kannst?“

An der Stelle verschlug es mir die Sprache. Ich folgte ihr, sie war vermutlich auf dem Weg zur nächsten Station, aber mein Kopf blieb benommen als wir die Treppe hochgingen und dann der Seine folgten. Mein Kopf dröhnte, als wäre ich unvermittelt gegen eine Wand aus Eis gelaufen, aus gefrorener Verachtung und Hass. Ihre Worte stachen brennend in meinem Herzen. Wie kann sie solche eine Wut wegen solch einer Kleinigkeit auf mich empfinden, auf die Person, die sie zu lieben vorgibt? Ich beobachtete sie aus den Augenwinkeln. Ihr Blick kannte kein Verzeihen, ihre Stimme keine Gnade, ihr Zittern keine Milde. Mir war, als stände das, was wir jahrelang zusammen aufgebaut hatten und für immer gedacht war, plötzlich in Flammen. Trotzdem war ich überzeugt, dies alles überwinden zu können, oder zumindest zu müssen. Ich fühlte wie mir unsere Streitereien das Leben aussaugten, aber ich fühlte auch, dass ich keines ohne uns hatte. Was wir hatten, war für immer gedacht. Ein kalter Schauer überkam mich, obwohl die Abendsonne sanfte Wärme über die Stadt legte. Ich ging neben einem Menschen, den ich nicht wiedererkannte, und der doch das Wichtigste in meinem Leben ist, mein Morgen und mein Abend, das Blut in meinen Adern – eine Fremde.

 

Ich ertrug meine Gedanken nicht mehr, versuchte mich abzulenken. In einiger Entfernung sah ich Shakespear&Company vor uns, völlig von Menschen umzingelt. Ich schüttelte den Kopf – alle kamen um Hemingway’s Lieblingsbücherei zu sehen, nur dass es diese gar nicht mehr gab. Der Laden war eine billige Kopie. Plötzlich fiel mir auf, dass alle mit dem Rücken zu ihm standen. Katrin lief auch nicht mehr vor mir. Ich suchte rechts, links, dann hinter mir nach ihr. Dort stand sie, die Wut war aus ihrem Gesicht verschwunden. Sie schaute nach oben in die Ferne, verwundert und leicht bestürzt. Ich folgte ihrem Blick.

Vor mir türmte sich eine riesige Säule aus Flammen und Rauch über Notre-Dame auf, lichterloh stand das Jahrtausendbauwerk in Flammen.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 08.03.2021. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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