Niklas Götz

Luftschloss

Beim Öffnen des Reisverschlusses kullerte alles wieder heraus, was einst mit großen Mühen hineingestopft wurde. Von der Sportkleidung über das kleine analoge Adressbuch, das er immer zum Postkartenschreiben verwendete, bis zu den Wanderschuhen, die er liebevoll aufgrund ihrer einschüchternden Klobigkeit als „Gipfelstürmer“ bezeichnete, lag nun alles verstreut auf dem Boden herum. Aus dem Koffer quoll sein Inneres wie aus einem Reh, das von einem Wolf gerissen wurde. Josef zog den Kofferdeckel nach oben und der ganze Rest kam zum Vorschein. Kleidung für ein paar Monate, die Unterlagen zur Einschreibung, die Tickets für die Rundreise, die er bis zum Semesterstart geplant hatte, alles sprang ihm in die Augen, als könnte es gar nicht darauf warten, umgesetzt und genutzt zu werden. Ein Koffer voller Pläne und Abenteuer, seine Aufregung stieg schon jetzt ins Unermessliche.

Er stand auf und öffnete seinen gähnend leeren Schrank. Nur wenig wurde in einem Dornröschenschlaf zurückgelassen, sehnsüchtig darauf wartend, in ferner Zukunft wachgeküsst zu werden. Doch die Zukunft kam schneller als gedacht, diesmal in Form eines Stapels Kleidung, den Josef wenig motiviert und unsortiert in den Schrank stopfte, ganz so, wie er ihn zuvor in den Koffer gepflanzt hatte. Sehnsüchtig blickte er dabei auf die Badehose, das Versprechen warmer Sonne, weiter Strände und eines grenzenlos erscheinenden Meeres.

„Bald“, murmelte er, zog sie aus dem Unterwäschestapel heraus und war sie zurück zum Koffer. Er folgte ihr nach und ging zu seinem Gepäck zurück. Ein Teil nach dem anderen zog er heraus und legte es neben sich, bis er etwas fand, dass er einräumen wollte. Josef nahm das kleine Taschenbuch mit gelbem Umschlag, stand auf und ging langsam zum halbvollen Bücherschrank. Bevor er es einräumen konnte, überkam ihn das Verlangen, es noch einmal zu öffnen. Gedankenversunken blätterte durch die bebilderten Seiten, voll von Versprechungen, atemberaubenden Bildern und angeblichen, tausendfach abgedruckten Geheimtipps. All die magischen Orte, die er noch sehen musste, die wie in unerreichbarer Ferne erschienen doch deren Anziehung keine Distanz kannte. Jede Seite spannte Pläne auf, Ideen, Träume, die er sich ausgemalt hatte, als er sie das erste Mal aufgeschlagen hatte, und deren Formen und Farben er seitdem jeden Tag weiter entwickelte und vertiefte. Als er auf der letzten Seite angekommen war, fiel ihm ein kleiner Notizzettel in die Hand. Viel Spaß in der Ferne wünschte man ihm, hieß es, er möge doch nicht so viel studieren und stattdessen tief in Land und vor allem Leute eintauchen. Er würde am liebsten antworten: „Ganz bestimmt…zwei, drei Wochen vielleicht…dann hält mich hier nichts mehr zurück…“.

Die Unterschrift erinnerte ihn, das Buch war ein Geschenk von Sophia, seiner Freundin aus Bachelortagen. Wo sie es jetzt hinverschlagen hatte? Was sie jetzt tat? Ob es ihr gut ging? Josef hatte sie seit seiner Abschiedsfeier nicht mehr gesehen und nahm sich vor, sie später anzurufen. Es würde ihm bestimmt gut tun, eine bekannte Stimme zu hören.

Ein Blick hinab aus dem Fenster seiner Dachgeschosswohnung offenbarte ihm eine hell strahlende Welt, prall angefüllt von Blüten und Blumen, fröhlichen Menschen und unzähligen Vergnügungen. Nicht eine Wolke warf Schatten auf diese unbekümmerte Welt, die verführerisch zu ihm hinauflächelte. Nur diese fast unsichtbare, hauchdünne Glasscheibe trennte ihn davon und sperrte ihn auf sanfte und vornehme Weise ein. Sie strahlte eine eigenartige Kühle aus, wie ein Eiswürfel, der wenige Millimeter von den Lippen entfernt zu schmelzen beginnt. Josef starrte noch eine Weile auf die vorbeiziehenden Familien, Pärchen und Gruppen von Freunden, auf die Eiscremebecher, Labradore und Frisbeescheiben, auf die Vögel, Bienen und Schmetterlinge, bis er sich wieder seinem halbdunklen Zimmer zuwendete.

Er ging vorbei an seinem halb ausgeräumten Koffern, vorbei an seinem Bett, auf das Flugtickets und Reisepass achtlos hingeworfen wurden, und vorbei an seiner offen stehenden Tür, an der ein bohrend kitschiges „My home is my castle“-Schild hing. Er fand sich in seiner Küche wieder, bereitete in unklaren Gedanken schwelgend einen Instantkaffee zu. Mit dem Nektar verzweifelter Labortage setzte er sich an den WG-Tisch, der in den vergangenen Tagen dramatisch vereinsamt ist. Ohne Gegenüber blickte er auf das historisch anmutende Holz, gezeichnet von den Erlebnissen und Ausschweifungen ungezählter Studierendengenerationen, von denen niemand mehr weiß, wer die Urheber der Kritzeleien und Schnitzereien war oder wo diese jetzt sind. Still erzählt das Holz von anderen Zeiten, von Gruppenexzessen, aber auch von kleinen, aber feinen Trinkrunden. Sein Schweigen wurde nur gestört vom dunkel-mystischen Raunen des Boilers, das ferne Rauschen eines vorbeiziehenden Autos und das Gröhlen einer Toilettenspülung. Nichts erschien ihm je lauter als die Geräusche, die sich aus der Stille schälten. Hier, am Scheidepunkt zwischen seinem alten Leben in dieser schmuddeligen Studenten-WG in einer trostlosen Provinzstadt und seinem neuen Leben voller ungeahnter Möglichkeiten und leise geflüsterter Versprechungen fühlte er sich so allein wie selten zuvor.

Nach ein paar Schlucken des dumpf-bitter schmeckenden Kaffees, den er mit einer sanften Wolke aus Milch entschärft hatte, zog er sein Handy aus der Hosentasche und versuchte, Sophia zu erreichen. Nach ein paar müden Läuten legte er enttäuscht wieder auf und begann zu tippen. Er zog es sowieso schon immer vor, zu schreiben, sagte er sich, und wusste, dass dies nicht die ganze Wahrheit war.

Hi Sophia!

Wie geht’s dir so, was machst du gerade?

Ich wollte dir ja eigentlich schreiben, wenn ich angekommen bin! Tja, ich war gestern Nachmittag am Flughafen, da hat man mir plötzlich mitgeteilt, dass ich ein Zertifikat brauche um dort einreisen zu dürfen – also durfte ich nicht mitfliegen. Ziemlich absurd und unglaublich nervig.

Ich bin dann gleich los, um den Test zu machen und habe heute Morgen mit der Airline telefoniert. Ich kann vielleicht auf nächste Woche umbuchen, das Zertifikat sollte ich dann haben. Dann geht’s endlich los, ich kann es kaum erwarten! Ich hoffe sie kommen nicht noch auf andere dumme Ideen.

Ich bin also noch eine Woche hier, alle meine Mitbewohner sind nach Hause gegangen. Hättest du Lust dich nochmal zu treffen?

Josef steckte das Handy wieder ein, stand auf und ging zurück in sein Zimmer. Der Kaffee hatte seine Wirkung entfaltet und er war nun aufgeputscht genug, um seine mangelnde Motivation zu überwinden, die ihn daran gehindert hatte, endlich all das auszuräumen, was er in der nächsten Woche noch gebrauchen könnte. Er schaltete das Radio ein und wühlte sich weiter durch das mittelschwere Chaos, das sein vergangenes Ich in seinem Koffer hinterlassen hatte. Während der Nachrichtensprecher monoton-stoisch Fall- und Todeszahlen vorlas, sortierte Josef ähnlich emotionsarm Wäsche auf einem kleinen Häufchen neben sich. Er entschloss sich, so wenig wie möglich auszupacken. Warum sollte er sich erneut die Mühe machen, alles wieder einzuräumen, wenn er auch alles dort lassen könnte, wo es ist? Was braucht er auch anderes als eine Zahnbürste, Pyjama und ein Set ordentlicher Kleidung? Was war das hier schon anderes als ein kurzer Zwischenhalt auf seiner Reise?

Nach wenigen Minuten saß er schon Bett, das Handy gezückt und das Internet durchstöbernd, auf der Suche nach den sandigsten Stränden und stimmungsvollsten Bars. Er hatte das starke Bedürfnis, diese Woche, die er nun verlieren sollte, mit noch berauschenderen Plänen wettzumachen. Warum sollte er sich über diese Verzögerung ärgern, wenn er sie auch mit Vorfreude ersticken könnte? Tatsächlich war er schon in Gedanken im Flugzeug, weit weg von diesem dunklen und kalten Raum, ja, von diesem dunklen und kalten Land. Bald schon würde sein monotoner Alltag in strahlender Sonne zu Staub zerfallen und durch Abenteuer und neue Erfahrungen ersetzt werden. Nicht mehr lange wäre er in diesem Käfig eingesperrt.

Das rhythmische Vibrieren in seiner Hosentasche riss ihn aus seinen Träumen. Sophia schien seine Nachricht gelesen zu haben, er hob ohne lange auf das Display zu schauen ab und hielt das Handy an sein Ohr.

Einige Minuten später sah er ein, dass er erstmal am Boden bleiben würde.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 10.03.2021. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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