Niklas Götz

Stahlspritzer

Ich zog meinen Kopf tief ein, als ich die Türschwelle des unterirdischen Bunkers durchschritt. Ich musste gebückt bleiben, denn die aschgraue Stahlbetondecke war so niedrig wie meine Schultern. Mir war, als könnte ich Gewehrsalven, Bombenexplosionen und Todesschreie hören, ganz leise nur, wie aus weiter Ferne. Bis auf den fahlen Sonnenschein, der durch die schon lange nicht mehr verschließbare Tür schien, gab es keine Lichtquelle. Dunkelheit verhüllte das Ende des Ganges wie ein schwarzer Nebel. Ich vermutete die anderen tiefer in der Anlage, blieb aber bewusst zurück, um mich noch einen Moment umzuschauen. Draußen vor der Tür, auf einer dünnen Erdschicht über dem Beton, spross das erste frische Frühlingsgras, es zitterte aufgeregt im Wind als könne es den Sommer kaum erwarten. Gleich darunter war der Beton mit Einschusslöchern und Granatsplittern durchsiebt. In manchen Löchern steckte noch die Patrone, nur der schorffarbene Rost verriet, dass das Morden hier bereits lange vorüber war. Vom Türpfosten fehlte ein faustgroßes Stück. Hier war also die Granate explodiert, als man den Bunker stürmte. Neben der Tür war ein Spalt in der Bunkerwand, gesäumt von zwei Stahlteilen, die Schießscharte. Unser Tourguide meinte, der Schütze hatte großes Pech und sei von einer Kugel direkt durch den Spalt getroffen worden. Ich blickte von innen kurz hindurch. Für einen Moment fühlte es sich so an, als würde ich das Schicksal teilen.

Ich hörte Stimmen aus dem Dunkel und folgte ihnen. Drinnen war es feucht, die Luft schwanger von einem schimmligen Geruch. Unvermittelte eiskalte Tropfen auf meinem Gesicht ließen mich zusammenschrecken. In der Finsternis war es schwer, etwas zu erkennen, erst sehr spät nahm ich den Betonträger wahr, der von meinem Kopf den zu lange verweigerten schmerzhaften Wegzoll verlangte, indem ich gegen ihn stieß. Ich ertastete auch eine verbarrikadierte Tür zu meiner Rechten. Erst einige vorsichtige Schritte später konnte ich einen Lichtschimmer sehen, aus dem sich langsam ein unförmiges Gebilde herausschälte. Ich kam in einen größeren, kreissegmentförmigen Raum, mit einem weiten, aber dünnen Schlitz als Öffnung zur Außenwelt. Pedro und die anderen beiden Touristen umringten zusammen mit dem Tourguide ein riesiges Panzerabwehrgeschütz, das noch immer bedrohlich Wache hielt über den weiten Strand unter uns, bereit, alles zu vernichten, was den Sand berührt. Ich lauschte für einige Zeit dem britischen Englisch unseres Führers. Meinem Großvater gefiel es nie, dass wir Enkel alle Englisch lernten. Er hatte den Briten nie verziehen, was er in Hamburg erlebte.

Der Hinweis unseres Guides machte mich darauf aufmerksam, dass auch hier ein Geschoss einschlug und die Bedienmannschaft tötete. In diesem Raum war die Wand erneut von Patronen wie mit Stahlspritzern übersät. Während die anderen aufmerksam zuhörten, fasziniert die Zerstörungsmaschine betrachteten oder über den Krieg fachsimpelten, als wären sie selbst Generäle, fühlte ich mich schuldig. Es war eine Vergnügungstour durch den neunten Kreis der Hölle, die jetzt erkaltet war. Das Blut war ausgewaschen, die Knochen aufgesammelt, doch der bröckelnde Beton mahnte weiter, litt weiter, starb weiter.

Im nächsten Raum war ein großes Loch in der Decke, das von einem Artilleriegeschoss hineingeschlagen wurde. Der Boden darunter wurde von der Natur zurückerobert, Kräuter kämpften sich unerbittlich ihren Weg durch die Betonplatten des Bodens, die langsam aber beständig von ihnen durchbrochen wurden. Der Bunker fiel zu zweiten Mal.

Der Weg ging wieder nach draußen, zurück ins Licht. Ein starker frischer Wind wehte hier, über Orte des Lebens und des Todes gleichermaßen. Der Pfad schlängelte sich um Bombentrichter von der Größe von Geländewagen, ein jeder schien sein Ziel verfehlt zu haben. Die ganze Gegend war vernarbt von ihnen, entstellt wie jene, die von hier zurückkehrten. An der Kante der Klippe gab es nun eine kleine Stahltreppe, die nach Belieben hoch oder runter führte, ein Luxus, den die Gebirgsjäger damals nicht besaßen. Während wir hinabstiegen, sah ich in den knochenfarbenen Kreidefelsen zahlreiche mausgraue kleine Bunker, die sich wie Flöhe im Fell eines Bären in das Gestein gesetzt hatten. Viele von ihnen waren zerfallen, zerstört, aufgesprengt. Die Stahlträger im Beton standen merkwürdig verdreht aus dem aufgebrochenen Gestein heraus, fast wie Fontänen aus Blut, die aus großen Wunden strömen wie in billigen Horrorfilmen. Ich fragte mich, wie es war, in einer dieser kleinen Kabinen auszuharren. Allein gegen einen Sturm, der im Begriff war, jede Mauer zu durchbrechen und alles mit sich zu reißen – Beton, Fels, Stahl, Matsch, Blut, Leben. Nichts konnte widerstehen.

Es war merkwürdig still, das Meer war hinter den Horizont verschwunden, die Ebbe hatte es mit sich genommen. Aus dem feinen Strandmatsch, der zurückblieb, hob sich halb versunken eine algenbedeckte Betonstruktur, bestehend aus großen, mit Stahlseilen verbundenen quadratischen Platten, die nun zerbrochen waren und die sich weit in das Watt hineinzogen. Ich grübelte einige Zeit, wozu sie dienen sollten, während wir über den eigenartig feinen und doch festen Sand darauf zuliefen. Dort angekommen, erläuterte uns Diederik (es stellte sich heraus, er war Niederländer der einige Zeit in England gelebt hatte) mit vielen Bildern und noch mehr Worten die Geschichte dieses provisorischen Kais, der in rauer See zerstört wurde. Bald schon wurde meine Aufmerksamkeit gestohlen von den vielen weiteren Bunkern, die den Strand und die Felsen säumten und uns quasi umzingelten, alle hatten sie ihre Schießscharten auf genau meine Position gerichtet. Selbst in diesem Zustand hatten die Bunker ihre Stellung nie verlassen, sie kannten keinen Frieden. Ich hingegen kannte nichts anderes. Wäre ich zu einer anderen Zeit geboren, wäre ich dann hier gewesen als sie noch nicht in Trümmern lagen? Hätte es mich hier durchsiebt, zerfetzt, verbrannt? Oder hätte ich dort heraus getötet? Hätte ich eine Wahl gehabt, hätte ich überlebt, wie sehr hätte ich gelitten?

Neben uns geisterten an diesem noch sehr kalten Tag nur wenige andere Menschen über den Strand. In der Ferne begutachteten einige mysteriöse Gestalten einen kleinen Bunker, sie schienen damit beschäftigt zu sein, wie Geier aus einem Kadaver ein paar Stücke herauszureißen, um ihren Hunger nach Besitz zu stillen. Tiefer im Matsch waren einige Schatzsucher mit ihren Detektoren unterwegs, begierig nach den Kugeln, vor denen sich einst alle fürchteten.

Diedrik beendete seinen Vortrag und gab uns die Gelegenheit, den Strand für einige Zeit selbst zu erkunden. Pedro schlug vor, tiefer in das Watt hineinzulaufen, um den Strand so zu sehen wie die Soldaten damals bei der Landung. Ich stimmte zu und wir liefen vorbei an der großen Betonstruktur, die bereits so lange versunken gewesen war, dass sie nach Austern roch. Während wir voranschritten zählte Pedro all die Befestigungen auf, die auf dieser Höhe einst den Strand verteidigen sollten, der stählerne Spargel, riesige Stahlkreuze und Minen. Letztere schleuderten dich in vielen kleinen Stücken durch die Luft, als wärst du eine Pfütze, in die jemand fröhlich hineinspringt, meinte er. Was nahmst du wahr in diesem letzten Augenblick, bevor eine Mine dich auslöscht, deinen Körper in ein zerfallenes Überbleibsel verwandelt? Den feuchten Sand, der langsam unter dir einsinkt, wie er es jetzt auch für mich tat? Vielleicht noch ein letztes Klicken?

Nach einigen hundert Metern hatten wir jeden hinter uns gelassen, die Möwen schwangen sich panisch in die Lüfte, als wir uns näherten, gleich so, als trachteten wir nach ihren Leben. Als unsere Schuhe im Wasser einzusinken drohten und wir das Meer erreicht hatten, drehten wir uns um und blickten zurück. So weit wir den Strand sehen konnten war er überzogen mit Trümmern und Ruinen hunderter Bunkeranlagen, die sich immer noch stolz der steifen Brise entgegensetzten, die vom Meer aus gegen sie prallte. In nur wenigen Minuten hatten wir eine Strecke zurückgelegt, die einst tausende Leben kostete. Ich kniete mich nieder und nahm etwas vom Sandschlamm in meine Hand, ließ ihn von der einen Hand zur anderen fließen. Mir war, als hätte er einen Rotstich. Als die letzten Ausläufer einer Welle meine Schuhe umspülten, legten sie die Umrisse eines Objekts frei. Ich entfernte den Matsch und erkannte darin einen weiteren Brocken der Bunker, der bis hierher gespült wurde. Die Zeit hatte es wohl abgenagt, ganz ohne stählerne Waffen. Pedro, der gerade noch gedankenverlorenen in die Ferne starrte, schaute mir neugierig zu. Ich blickte zu ihm auf und murmelte:

Um ein Stück hiervon herauszuschlagen, wurde zu Zeiten unserer Großeltern ein Meer an Blut vergossen. Ich fühle mich plötzlich dankbar dafür, hier und heute zu leben. Gerade erst spüre ich wirklich, was für ein Privileg wir haben. Lass uns hoffen, dass unser Glück erhalten bleibt, dass es nie wieder so weit kommt, dass die Welt unserer Großeltern nie wieder zurückkehrt.“

Pedro fasste mir auf die Schulter, lächelte leicht und meinte: „Nein. Wir sollten nicht nur hoffen.“

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 12.03.2021. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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