Petra Kazjanow

Brief an Sergej

Manche Tage mit Dir laufen so gut, andere ziemlich schlecht. Ich weiß von einem Tag zum anderen nie was mich erwartet. Manchmal weiß ich von Minute zu Minute nicht wie Du im nächsten Moment auf die normalsten, alltäglichsten Dinge reagieren wirst. Deine Stimmung kann sich von einer Minute zur nächsten ändern und mir bleiben nur Sekundenbruchteile, um zu überlegen wie ich reagieren soll oder mich darauf einzustellen. Manchmal fühle ich mich als würde ich auf rohen Eiern laufen. Die unschuldigste Bemerkung die man sich denken kann, die bedeutungsloseste Bewegung, Berührung oder das kleinste Geräusch reichen aus Dich wieder zurück in Deine Hölle zu schicken. Manchmal denke ich, dass ich das nicht mehr aushalten kann. Erst vor Kurzem war wieder einer von diesen schlechten Tagen. Ich habe das Gefühl, diese Art von Tag kommt immer dann wenn gerade alles gut zu laufen scheint. Ich weiß, dass ich nicht Schuld bin an Deinen Ausrastern. Ich weiß, dass ich nichts dafür kann – aber ich trage trotzdem die Last. Ich stehe zwischen Dir und Deinen Mitmenschen. Ich stehe zwischen Dir und der Gesellschaft. Ich stehe zwischen Dir und dem Rest der Welt. Jedes Mal wenn ich mich in dieser Situation befinde werde ich ein wenig schwächer. Ich rücke jedes Mal ein wenig näher an den Abgrund. Jedes Mal stirbt ein kleiner Teil von mir.
Aber ich liebe Dich. Ich weiß, dass unsere Schwierigkeiten durch die schrecklichen Erinnerungen an die Geschehnisse bedingt sind, die Du niemals wirst vergessen können. Manchmal, nachts, beobachte ich Dich. Ich sehe wie Du Dich im Schlaf hin und her wälzt, von Träumen gequält. Ich höre Dich von den schlimmen Momenten sprechen deren Zeuge Du gewesen bist und die Dich nicht mehr loslassen. Ich sehe wie Dich die Geister der Vergangenheit überfallen. Ich kann Dich weinen hören und ich wünschte Deine Tränen könnten diese Erinnerungen auslöschen. Auch wenn Du es nicht bemerkst, ich bin bei Dir wenn Du diese furchtbaren Alpträume hast. Jedes Mal höre ich Dich vor Angst und Qual schreien. Es ist jedes Mal als würde man mir mit dem Messer ins Herz stechen. Manchmal weine ich mit Dir und Du weißt es nicht einmal. Jede gemeinsame Nacht reise ich mit Dir zurück in die Vergangenheit. Aber ich schaffe es einfach nicht Dich wissen zu lassen, dass ich da bin.
Wenn ein Alptraum so schlimm ist, dass Du schreiend aufwachst, stelle ich mich schlafend. Aber ich sehe wie Du aufstehst, Dir mit zitternden Händen eine Zigarette anzündest und Deine nächtliche Patrouille beginnst. Ich sehe wie Du jede Tür kontrollierst und nach unsichtbaren Feinden suchst. Ich sehe zu wie Du alle Fenster in der Wohnung überprüfst als ob sich in jedem Eck ein Feind verbirgt. Wenn Du zurück ins Bett kommst liege ich ganz still; hoffend, dass Du mich erkennst. Ich höre auf zu Atmen wenn Du das Schlafzimmer wieder betrittst und frage mich, ob heute vielleicht die Nacht ist in der Du glaubst in mir den Feind zu erkennen und – wenn das so ist – versuchen wirst mich zu töten. In manchen Nächten stehst Du auf meiner Bettseite über mich gebeugt. Du stehst einfach still vor mir und es ist als ob Du mich nicht kennst. Das sind die Nächte vor denen ich mich am meisten fürchte. Ich kann Deine Anwesenheit, Deinen Blick fühlen. Manchmal denke ich, dass dies die letzten Momente meines Lebens sind. Aber ich weiß, ich würde sterben und Dich trotzdem lieben. Ich wünschte es gäbe ein Heilmittel gegen diese Krankheit "Krieg". Ich wünschte die Vergangenheit könnte vergessen und begraben werden. Aber ich weiß, dass das nicht möglich ist. Ich weiß, dass ich diesen Krieg austragen werde bis einen von uns der Tod wegholt. Manchmal denke ich, dass der Tod unser einziger Ausweg ist. Die einzige Möglichkeit – für uns Beide - Erlösung zu finden. Getrennt und doch gemeinsam.
Tagsüber ist die Situation oft nicht besser. Die Alpträume werden zu Flashbacks. Und es gibt nichts was ich sagen oder tun kann, um Dich vergessen zu lassen. Alles worauf ich hoffen kann ist, dass Du eines Tages lernen kannst mit all diesen Erinnerungen umzugehen. Es macht mir Angst wie Du oft die Welt durch die Augen der Vergangenheit siehst. Du siehst dann nicht die gleiche Welt wie ich. Die Menschen in Deiner Welt versuchen Dich zu töten und ich weiß, dass Du alles versuchen wirst sie zuerst zu töten. Aber was ist, wenn Du den Feind in einem Deiner Freunde zu erkennen glaubst? Was ist wenn Du in mir den Feind siehst? Werde ich die Kraft haben Dich aufzuhalten?
Ich weiß Du tust es nicht oft, aber wenn Du trinkst, wird es besonders schlimm. Es scheint, wenn der Alkohol in Dir ist, dann kommen alle Geister der Vergangenheit aus ihren Verstecken, um Dich zu quälen und zu verfolgen – sogar in der Nacht. Ich weiß nicht mehr wie oft Du Dinge in Deiner Wohnung demoliert hast. Die kaputten Sachen kann man alle ersetzen, doch die Wunden auf der Seele kann man nicht reparieren. Jedes Mal werden es mehr.
Warum ich bei Dir bleibe? Weil ich weiß, dass Du ein guter Mensch bist. Weil ich weiß, dass der Mann den ich liebe da in diesem Körper steckt. Und wenn ich Dich ansehe, dann sehe ich den Menschen den ich liebe. Ich weiß, Du kannst nichts dafür wie Du bist. Du kannst nicht gegen das an was Dir Deine Erinnerungen antun. Ich weiß, dass es nicht ich bin auf die Du wütend bist. Ich bin eben nur meist gerade da wenn Du Deine Wut und Frustration rauslässt. Ich hoffe so sehr, dass dieser Krieg irgendwann einfach aus Deinem Kopf verschwinden wird. Ich hoffe das gegen alle Vernunft. Ich weiß, dass das nicht passieren wird. Doch ich muss hoffen, sonst halte ich es nicht aus. Ich liebe Dich und ich würde mir von Dir auch wünschen, dass Du bei mir bleibst wenn mir etwas Schlimmes zustoßen würde. Ich bin bei Dir – wie man sagt – in guten und in schlechten Zeiten. Auch wenn es scheint, dass vielleicht die schlechten Zeiten überwiegen, so komme ich doch immer darüber hinweg wenn ich an die schönen Momente denke. Ich habe auch Glück, dass ich vieles mit einigen Deiner Freunde teilen kann. Sie sind eine so große Hilfe. Ich glaube, oft wissen sie gar nicht wie viel sie für uns getan haben. Für Dich und mich.
Ich weiß, dass es Dir unendlich weh tut wenn Du bemerkst wie viele Dinge in Deinem Leben sich Deiner Kontrolle entziehen, wie sie Dir einfach entgleiten. Besonders dann wenn ich davon betroffen bin. Ich weiß, dass Du alles dafür geben würdest anders zu sein. Ich möchte, dass Du weißt, dass ich immer an Deiner Seite sein werde. Egal was passiert. Ich werde niemals aufgeben. Wir kämpfen noch immer: Du in diesem Krieg und ich gegen den Krieg in Dir. Wir werden uns niemals ergeben. Wenn nötig werden wir den Rest unseres Lebens kämpfen und wir werden gemeinsam überleben. Am Ende werden wir die Sieger sein.
Ich will für Dich die Stütze sein wenn Du schwankst. Ich will Dir zuhören wenn Du sprechen musst. Ich will für Dich stark sein wenn Du schwach bist. Ich will Dich in den Armen halten wenn Du Trost brauchst. Ich will Dein Freund sein wenn niemand sonst mehr da ist. Ich will Dein Ventil sein wenn der Druck zu groß wird. Ich will Dein Führer sein wenn Du Führung brauchst. Ich will Dein Wegweiser sein wenn Du Orientierung brauchst. Ich will Dein Arzt sein wenn Dein Schmerz übermächtig wird.
Und vergiss nicht, mein vergessener Held, dass Dich immer lieben werde.

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