Na endlich. Herr Bode war erleichtert, als er das leuchtende Logo des
Supermarkts sehen konnte. Die Fahrt hierhin kostete ihm viel Zeit, nachdem er
vergessen hatte, dass auf dem üblichen Weg hier hin ein Teil der
Straße gesperrt war und er somit einen großen Umweg fahren musste.
Wie achtlos von ihm. Heute morgen hat er doch noch von dem Umbau in der
Zeitung gelesen. Angekommen hastete er über den Parkplatz und nahm sich
einen Wagen am Eingang. Bei lauter Aufregung hat er ganz vergessen, in welchen
Gang er denn jetzt muss. Seit seiner Rente nutzt er viel Zeit, um seine
Kochkünste zu verfeinern. Almas Kraft gab immer mehr nach und sie
aß nur noch sehr wenig. In der Hoffnung, ihr Appetit würde sich
verbessern, probierte er schon mehrere Gerichte für sie aus. Sülze
mit Kartoffeln und grünen Bohnen, Seelachs mit Spinat und Dill-
Rahmsoße, Rinderroulade in Bratensoße mit Apfelrotkohl. Er machte
sich ein eigenes Kochbuch aus Rezepten, die er in der Zeitung oder in den
Klatschzeitschriften seiner Frau fand. Diese schnitt er dann aus, foliierte
sie und heftete sie in einen Ordner. Doch all das Kochen brachte bisher
nichts. Mal aß sie einen kleinen Teller, dann wieder nur die Beilagen,
sodass der Rest an Herrn Bode hängen blieb. Doch er gibt nicht auf. Heute
wollte er einen Klassiker zubereiten: Spaghetti Bolognese. Die Bolognese
köchelte schon, bis ihm erst spät auffiel, was gerade eigentlich
fehlte. „Die Spaghetti!“ dachte er und fasste sich an die Stirn.
Wie konnte er nur die wichtigste Zutat vergessen?
Angekommen am Regal
schnappte er eine Packung und legte sie in den Einkaufswagen, jetzt nur noch
ab zur Kasse. Doch zu früh gefreut. Vor ihm wartete eine endlos lange
Schlange. Warum muss das denn jetzt so lange dauern? Er lässt Alma nur
ungerne alleine Zuhause. Erst wollte er sie mitnehmen, aber sie wollte partout
nicht. Einmal wollte sie sich Suppe warm machen, als er spazieren ging. Er kam
gerade nach Hause, als er die Rauchmelder losgehen hörte. Sofort lief er
die restlichen Treppen nach Oben, sperrte die Tür auf und schob den
verschmorten Topf in die Spüle. Seit dem Vorfall nimmt er aus Angst die
Drehknöpfe vom Herd, wenn er dann doch mal die Wohnung ohne sie verlassen
musste. Vielleicht ein bisschen radikal, dachte er, aber sicher ist sicher.
Auch seiner Nachbarin entging das schrille Geräusch des Melders nicht.
Als er am nächsten Tag herunter ging, lauerte dort schon die neugierige
Frau Knappstedt an der Haustür, um zu erfahren, was oben vorgefallen war.
Bei Klatsch, Tratsch und Vorfällen aller Art war sie die erste Adresse.
Durch ihre Fenster im Erdgeschoss und ihrer Arbeit im Mieter- und
Gartenvorstand kriegt sie alles mit, was in der Nachbarschaft gerade passiert.
„Ach, alles in Ordnung, Frau Knappstedt.“ beruhigte er sie.
Manchmal hat er das Gefühl, sie würde ihn durch den Türspion
beobachten, wenn er durch den Hausflur geht.
Herr Bode ließ
seinen Blick über die Leute an den Selbstbedienungskassen schweifen. Doch
Moment, da hinten ist doch Eine frei. Vor ihm wartete noch ein Mann, aber
warum geht der denn nicht weiter? Ihn ärgerte es, dass der Mann, im
Gegensatz zu seinen Adleraugen, die Kasse nicht gesehen hat.
Er tickte
ihn an der Schulter an. „Warum benutzen Sie nicht die Kasse da vorne?
Die ist doch frei.“
„Sie funktioniert nicht.“
„Wieso funktioniert sie nicht? Die ist doch frei, da ist nichts.“
„Sie funktioniert nicht.“ wiederholte der Mann in einem
genervten Ton.
Das kann doch nicht sein, dachte er. Mit seinem
Einkaufswagen fuhr er vorbei an dem Mann, dann an den anderen Kunden, die
bereits eine freie Kasse sichern konnten. Fast war er dort, da hörte er
von der Seite eine Kassiererin: „Guter Mann, diese Kasse können Sie
nicht benutzen!“ Im selben Moment sah er das `Defekt` Schild auf
dem Bildschirm. Was für eine Demütigung. Die Kassiererin
brüllte fast so laut, als wenn man es nicht nur im Laden hören
konnte, sondern auch auf dem Parkplatz. Jetzt musste er sich sogar wieder
hinten anstellen, so dauerte es nur noch länger. Den ganzen Weg trottete
er mit gesengtem Kopf zurück zur Schlange.
„Ich hab`s Ihnen
ja gesagt.“ sagte der Mann mit einem Achselzucken und
selbstgefälligen Grinsen.
„Konnt` ich ja nicht sehen.“
grummelte Herr Bode.
Der Mann schaute fast so frech wie der neue Mieter
von gegenüber, der nie das Treppenhaus sauber machte. Herr Bode wusste so
gut wie nichts über ihn. Der Kerl hat sich ja nicht mal bei ihnen
vorgestellt. Er schätzt ihn aber auf Anfang Dreißig. Einer, der
erst mittags das Haus verlässt, manchmal auch gar nicht. Schwer arbeiten
tut der bestimmt nicht. Soll er wissen, wo er bleibt, aber seinen Pflichten
nicht nachkommen? Wie kann er das vergessen? Schließlich ist die
monatliche Reinigung einer der ersten Punkte im Mietvertrag. In dieser Zeit
schaute er immer mindestens 3-4 Mal am Tag aus der Wohnungstür, ob der
Boden nass war. Doch nichts passierte. Vielleicht hat er ihn doch verpasst,
aber nicht mal der Duft von Putzmitteln war im Flur zu vernehmen. Dieser
Faulpelz. Für die nächste Zeit nahm er sich vor, einen
Beschwerdebrief an die Hausverwaltung zu schreiben.
Zuhause erwartete
ihn Alma am Küchentisch. Wie ein Häufchen Elend saß sie
zusammengesunken auf dem Stuhl, formte ein müdes Lächeln und
begrüßte ihn mit einem „Na.“
„Na“,
sagte er, während er das Essen wieder zubereitete. Er packte eine Kelle
Spaghetti auf einen kleinen Teller und machte ein wenig von der Bolognese
rüber. Dann verrührte er beides zusammen und schnitt ihr die
Spaghetti klein.
In den frühen Morgenstunden wurde Herr Bode
aus dem Schlaf gerissen. Alma bekam keine Luft mehr und gab nur noch ein
angestrengtes Röcheln von sich. Er sah, wie sich wenig später der
Rettungswagen sich ankündigte, indem er von weitem die lange Straße
immer mehr in ein blaues Licht tauchte. Bis dahin stützte er sie und half
ihr dabei, sich ein wenig aufzurichten. Sie deutete auf ihren Brustkorb, aber
konnte kein Wort herauskriegen. Schnell noch die wichtigsten Sachen
rausgesucht, während die Sanitäter die Trage vorbereiteten. Alle
Karten und Unterlagen bewahrt er jetzt immer in einem Karton auf, damit sie
nicht mehr verloren gehen. Vorher suchten sie sonst vor den Arztbesuchen die
Krankenkassenkarte, bis Alma kurz darauf fragt, nach was sie denn eigentlich
schauen.
„Das hab` ich dir doch schon gesagt, wieso
begreifst du das denn nicht?“ schnaubte er sie an. Er brüllte nie,
aber er bemerkte augenblicklich, wie genervt sein Tonfall ist und lauter
wurde. Manchmal schon abwertend. In der selben Sekunde schämte er sich
dafür. Wie konnte er auf sie Böse sein, wenn sie doch gar nichts
dafür konnte? Viele sagten das sei normal. Man sei ja auch nur ein
Mensch, da vergisst man sich schon mal. Trotzdem war er wütend, dass er
sich nicht besser unter Kontrolle hatte. Im Auto fragte sie, von woher sie
jetzt kommen würden oder wohin sie fahren. In einigen Momenten kann er
ihr das selber nicht beantworten. Manchmal fuhren sie mehrmals die Woche zu
den verschiedensten Ärzten und Kliniken. Wenn sie das Wohnhaus wieder
erreichen, steigt seine Frau zuerst aus und wartet vor der Eingangstür,
während Herr Bode nach einem Parkplatz schaut. Ab und zu würde er am
liebsten im Auto sitzen bleiben und weiter die Decke anstarren, um einen
Moment Inne zu halten.
An Schlaf war für ihn natürlich
nicht mehr zu denken. Den ganzen Tag über wartete er schon auf einen
Anruf vom Krankenhaus, doch bis jetzt kam noch immer nichts. Und je
länger Herr Bode wartete, desto nervöser wurde er. Warum hat er
nicht schon früher gemerkt, dass mit seiner Frau etwas nicht in Ordnung
war? Gestern war es Schlimmer als sonst. Nicht mehr als zwei Löffel
rührte Alma von ihren Spaghetti an. Herr Bode setzte sich in die
Küche mit einem Kaffee und einer Zigarette. Früher rauchte er im
ganzen Haus, aber da es anonyme Beschwerden über den Geruch im
Treppenhaus gab, ging er nur noch Nachts schnell vor die Tür wenn Alma
schlief. Oder er pustete den Rauch durch die weit geöffneten
Küchenfenster. Das Einzige, was er von draußen hörte, waren
die Vögel und das Rauschen des Laubs. Je mehr er auf die Ruhe
draußen achtete, desto schläfriger wurde er auf dem
Küchenstuhl.
Es war später am Abend als er wieder
aufwachte. Herr Bode wunderte sich. So lange hat er doch schon ewig nicht mehr
geschlafen. Er schaute auf das Telefon in der Ladeschale, aber noch immer kam
nichts. Aus dem Fenster spürte er die kalte Luft von draußen. Ein
wenig raus gehen wäre vielleicht gar nicht so schlecht, dachte er. Gerade
ist es sowieso ziemlich still. Er schmiss sich seine beige Stoffjacke um und
verließ die Wohnungstür. Das Flurlicht blieb aus, damit die
Nachbarn ihn beim Verlassen des Hauses nicht sehen. So kann er ihnen aus dem
Weg gehen. Bei all dem Aufruhr mit dem Krankenwagen bekam das hier sicherlich
jeder mit. Später müsste er sich bestimmt noch von den Nachbarn wie
Frau Knappstedt die Fragen anhören, was mit Alma passiert ist. Das
hätte noch gefehlt! Draußen blickte er über die zugeparkte
Straße. Geradezu menschenleer, bis auf der Nachbar von nebenan, der ihm
jetzt entgegen kam. Der hat doch bestimmt auch mitgekriegt, was mit seiner
Frau heute Morgen los war. Wenn der auch nur einen Ton sagt, kriegt er eine
gewaschen. Doch er sagte nichts. Er blickte nur kurz auf, nickte Herrn Bode zu
und ging durch die Tür. Da hat er aber noch Glück gehabt, dachte er.
Sein Ärger verflog wieder schnell. Und das Bild von Alma auf dem Bett
schoss ihm wieder durch den Kopf. Gedankenversunken drehte er eine Runde um
die Häuser, bevor er sich bettfertig für eine schlaflose Nacht
machte.
Herr Bode griff sofort nach dem Telefon auf dem
Nachttisch, als ihn das Krankenhaus morgens anrief. Heute könne Alma er
besuchen kommen. Nach einem schnellen Frühstück zog Herr Bode sich
an und machte sich auf den Weg. Doch er musste sich am Treppengeländer
festhalten. Fast wäre er über den nassen Flurboden ausgerutscht.
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 16.04.2021.
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