Die Motive und Handlungen eines Menschen vermögen wir kaum zu
ergründen und deswegen bleibt letztlich unerklärbar, warum wir dieses tun
und jenes lassen.
Schon ein einflussreicher Philosoph und Ökonom des 18. Jahrhunderts, der
Schotte David Hume, ein gemäßigter Skeptiker, war der Ansicht, einzig die
Mathematik biete sichere Beweise und Schlüsse. Ansonsten sei der Mensch
ein Bündel aus Empfindungen, Erfahrungen, Erinnerungen und Emotionen,
dem die Gewohnheit als Führerin durchs Leben und die Vernunft vor allem
als Sklavin zur Befriedigung seiner Leidenschaften diene.
Der kaum weniger wirkmächtige deutsche Denker des 19. Jahrhunderts
Arthur Schopenhauer, ein Pessimist durch und durch, der das Leben fiir nicht
lebenswert hielt, - Übrigens lautet ein spanisches Sprichwort: "La vida no vale
nada.", "Das Leben ist nichts wert." - behauptete sogar, dass menschliche
Individuen Überhaupt keinen freien Willen besitzen und demzufolge zu
zielgerichtetem Handeln nicht fähig sind. Menschen dienen dem willkürlichen
Weltwillen lediglich als Instrumente zur Erhaltung der Art. Das höchste Ziel
der menschlichen Art besteht nach Schopenhauer darin, den Geschlechtsakt
zu vollziehen, um dadurch Nachwuchs zu zeugen. Er führt einige
Beobachtungen und Vermutungen an, die seine Ansichten belegen sollen:
Männer umwerben Frauen nur solange bis sie mit ihnen Kinder in die Welt
gesetzt haben. Dann lässt die Anziehungskraft der Frauen nach, da ihre
Schönheit dem Alter nicht Stand hält. Der italienische Renaissancedichter
des 14. Jahrhunderts Francesco Petrarca hätte seine "Canzoniere", "Lieder
und Gedichte", im "dolce stil novo", "süßen neuen Stil", für seine Geliebte,
Laura de Sade, niemals verfasst, wäre es ihm gelungen mit ihr ins Bett zu
steigen.
Offensichtlich würde also Schopenhauer der Aussage kaum widersprechen,
die Simone de Beuvoir in "Le deuxieme sexe", "Das andere Geschlecht",
zitiert und deren saftige Formulierung die wohl bekannteste Feministin des
20. Jahrhunderts sehr erfreut zu haben scheint: "Dies ist das wahre Ziel der
Liebe, vier Arschbacken an einem Stiele." Nach Schopenhauer singen die
Vögel nur, bis sie ein Weibchen in ihr Nest gelockt und zur Eiablage
veranlasst haben. Dann verstummt der melodiöse Gesang.
Die Beobachtung des Philosophen kann der Pädagoge Ödipus Lustig gut
nachvollziehen. Ungefähr von Anfang März bis Mitte August trällern
zahlreiche Drosseln in den Bäumen seines Gartens und auf dem Dach
seines Hauses in der ersten'Morgenfrühe sowie in der Abenddämmerung ihre
kunstvollen Lieder.
Danach sieht Lustig die schwarz gefiederten Sänger zwar immer wieder, aber
ihre Gesänge erschallen nicht mehr. Gelegentlich hört er die Drosseln noch
aus vollem Halse schimpfen, wenn eine Katze in der Nähe ist oder sie sich
um irgendwelche Leckerbissen zanken. Gerade eben, in diesem unglaublich
schneereichen Dezember 2010, prügeln sie sich vor seinem Fenster wie die
Besenbinder um ein paar halb verfaulte Äpfel, die er ihnen auf die
Schneeberge in seinem Vorgarten gelegt hat. Der harte Lebensalltag Iässt im
Herbst und Winter keine Zeit mehr für artistische Musikpoesie.
In den Herbst- und Wintermonaten fehlt dem Lehrer der Morgen- und
Abendchor der Drosseln sehr. Er hat fest gestellt, dass sie auch vor
einsetzendem Regenwetter und danach ganz besonders melodiös jubilieren,
trauern oder nachdenklich vor sich hin philosophieren. Bei aller Süße
beinhaltet der Drosselgesang immer auch Bitternis und Melancholie, die
Lustig bei zwei Gelegenheiten ganz besonders tief unter die Haut gingen.
So lag er eines frühen Morgens in den Sommerferien des Jahres 1982 ganz
eng an der Seite einer sehr vertrauten und liebenswerten Frau in dem breiten
Bett eines Gästezimmers, das sich im Seitentrakt eines stattlichen alten
Gutshofes auf der Ostseeinsel Fehmarn befand.
Da begann vor dem geöffneten Fenster eine einzelne Drossel ihre
Morgenmusik. Nur sie war in der grauen Morgenstunde zu hören, perlte
unendlich traurig dahin, hielt vom großen Schweigen überwältigt kurz an und
hing wie der filigrane Faden einer Spinne im überaus depressiven Zwielicht
der Dämmerung. Sehr, sehr, sehr nah war er seiner Geliebten und doch
plötzlich Millionen Lichtjahre so weit, weit, weit entfernt von ihr wie die Sterne
einer unsichtbaren Milchstral3e.
1986 starb ungern, aber äußerst tapfer und gefasst im April seine Mutter im
Alter von fast 75 Jahren an Krebs der Bauchspeicheldrüse. Nach dem Tode
seines Vaters am Ende des Jahres 1943, vor Ödipus' Geburt also, blieb ihr
die ständige Sorge für eine große Familie.
Außer ihm mussten vier ältere Geschwister, zwei Schwestern und zwei
Brüder, betreut und erzogen werden. Seine kurz vorher ausgebombte
Großmutter, wie ihre Tochter, seine Mutter, eine unendlich starke
Ruhrgebietsfrau, die sogar acht Kinder aufgezogen hatte, half ein wenig, so
weit ihr Alter und die zugehörigen Krankheiten es gestatteten.
Als hoffnungsvoller Wicht im Kindergartenalter hielt Lustig eine Tatsache für
ganzlich unumstößlich: "Wenn meine Oma und meine Mutter bei mir sind,
kann zwar die Welt untergehen, aber wir, wir gehen nicht mit."
Ungefähr 1949 unternahm er mit seiner Mutter einmal einen Ausflug zu seiner
Lieblingstante Mimmi in Gladbeck, einer Kohle- und Bergarbeiterstadt im
Herzen des Ruhrgebietes, dem Herkunftsort seiner Familie mütterlicherseits.
Zu der Zeit konnte man ab Schwerte, nördlich der Ruhr und
Nachbarkleinstadt seines Heimatdorfes Ergste, südlich des Flusses gelegen,
noch für wenig Geld mit der Straßenbahn quer durch das Ruhrgebiet bis nach
Gladbeck fahren, wenn man umständliches, häufiges Umsteigen und
Holzsitzbänke nicht scheute.
Ödipus samt Mutter waren fast am Ziel, mussten ein letztes Mal umsteigen
und befanden sich auf dem kurzen Weg zur nächsten Haltestelle. Die Nacht
war bereits angebrochen und ein riesiger Vollmond beleuchtete die Straße.
Obwohl der kleine Junge das Dunkel und die Nacht fürchtete und der Rie-
senmond mit seinem bleichen Licht ein wenig unheimlich auf die Erde
herunter schien, ging es ihm sehr gut, denn an der Hand seiner Mutter konnte
ihm nichts passieren.
Sie war damals 37 Jahre alt und Ödipus ihr leidenschaftlichster Verehrer. Er
fand sie sehr schön und stattlich, ihre Kleidung äußerst damenhaft. Ihre
Hände waren in weiße Lederhandschuhe gehüllt, die sich ganz weich
anfühlten. Auf dem Kopf trug sie einen runden blauen Hut mit elegant
gebogener weiter Krempe, dazu einen gleichfarbigen glockenförmigen kurzen
Mantel. Die Beine verschönerten durchsichtige Nylonstrümpfe mit Naht. Die
Füße steckten in Halbschuhen mit nicht übertrieben hohen Hacken, an deren
Farbe Lustig sich nicht erinnert. Es gab nichts Besseres, als an der Seite
dieser großen, starken und schönen Frau, die er in diesem Augenblick
endlich einmal ganz für sich allein hatte, durch die mondhelle Nacht zu
wandern und die Welt kennen zu lernen, z.B. das seltsame Verhalten des
Mondes. Er begleitete den künftigen Studienrat hoch oben am Himmel auf
seiner linken Seite und sprang auf und ab, während seine rechte Hand in der
mütterlichen lag.
"Guck rnal! Der Mond hüpft auf und ab und geht immer mit uns.“ Seine Mutter
lächelte, hielt kurz an und zeigte auf den kugeligen Erdtrabanten: "Siehst du,
jetzt steht er wie wir und bewegt sich gar nicht mehr. Es sieht nur so aus, als
ob er hüpft, weil du beim Gehen selbst ein Bisschen hüpfst."
"Wie klug ist doch meine Mutter. Sie weiß einfach alles!" Das sagte das Kind
zwar nicht, dachte es aber voller Hochachtung.
Damals wusste Ödipus noch nichts vom Sterben und Abschiednehmen für
immer. Aber viele Jahre später, 1986, wollte er seine Mutter nach ihrem Tod
noch einmal sehen und besuchte deswegen an einem trüben, ungemiitlich
kühlen Aprilvormittag allein den Ergster Waldfriedhof am Semberg. Die
Verstorbenen bahrt man dort in der Leichenhalle kurz auf, bevor die
Beerdigung stattfindet. So lag jetzt auch der tote, knochendürre und
eingeschrumpfte Körper seiner einmal so schönen, starken und großen
Mutter in einer engen Totenzelle im Untergeschoss des Gebäudes.
Durch ein kleines Fenster fiel dünnes Licht in den kahlen Raum. Das Gesicht
seiner Mutter war gar nicht mehr von dieser Welt und drückte aus: "Ich bin an
einem ganz anderen Platz. Niemand und nichts wird mich zurück holen!"
Endgültigkeit und Ewigkeit sahen Lustig an.
Ähnlich hatten ihn manchmal während seiner Fahrradausflüge tote Vögel,
Hasen, Igel, Hunde oder Katzen vom Straßenrand angeblickt. Autos hatten
sie zerfetzt.
Da begann eine einzige Drossel zu singen, ganz allein, ein tief schwarzes,
ein schreckliches Requiem, einsame einzelne Töne, die wie dicke
Tränentropfen in den Abgrund der Zeit fielen, ein Lebewohl für immer. Der
Vogel stellte seinen Gesang abrupt ein.
Ein scharfer Dolch bohrte schmerzhaft unheilbare Wunden mitten in Lustigs
Herz. Warum, warum, warum? Hume und Schopenhauer wussten es nicht
und er erst recht nicht.
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 17.04.2021.
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