Patrick Rabe

Retorte

Retorte

 

Eine Horrorgroteske

 

Als ich auf dem Rollbett in das Krankenzimmer der städtischen Psychiatrie geschoben wurde, erhob sich im hinteren Winkel dieses düsteren, dreckigen Raumes ein Wimmern. Aus Resten einer eingestürzten Wand, aus der Bauschutt rieselte, morphte sich ein Mann mit blutender Kopfhaut mäandernd und die Glieder unlogisch verziehenden Bewegungen ins Zimmer. Er kletterte wie eine Spinne von der Wand herab, und spuckte seine Zähne auf den Boden. „Um halb sechs gibt es den ersten Teller Scheiße.“, sagte der Pfleger. „Was wollen sie dazu trinken?“ Ich wusste auf diese Frage keine Antwort. Der Pfleger lächelte mich leutselig an. „Wir haben da eine große Auswahl.“, sagte er strahlend. „Pferdepisse, Kackwasser aus den Arschfalten von unglücklichen Kühen, radioaktive Fliegenpilzlimonade aus Tschernobyl, Rührmilch mit ranziger Butter und vergammeltem Eigelb, und  Kotze von dilierenden Alkoholikern im Endstadium.“ „Ich hätte gerne einen Früchtetee.“, sagte ich trocken. Der Pfleger ging wortlos aus dem Zimmer.

 

Inzwischen war der andere Mann zu dem Bett auf der gegenüberliegenden Seite des Zimmers gewankt. Mit einem riesigen Taschentuch wischte er sich das Blut von der Stirn. „Der Dunkeltroll von nebenan wollte mir schon wieder den Kopf aufsägen.“, sagte er entnervt, und rollte sich unter papierähnlichem Geknister auf das Bett. „Darf ich mich vorstellen?“, sagte ich, „Ich heiße…“ „Ist nicht wichtig.“, raunzte der andere. „Die nehmen einem hier sowieso die Namen weg. Ich nenne dich einfach Farout Fahrenheit Flatterhemd.“ „So heiße ich aber nicht.“, sagte ich trotzig. „Ist doch scheißegal.“, sagte der andere. „Ich heiße übrigens nicht G. Orgasmus Anderson, aber du musst mich so nennen. Das brauche ich für meine innere Struktur. Ich befehle dir jeden Morgen, dir einen neuen Namen von mir zu merken, und mich damit anzusprechen. Das macht mich gesünder, und dich kränker.“ „Und was soll das?“, fragte ich. „Nichts, Flatterhemd.“, sagte er. „Also, wie heiß ich, du Nutte?“ „Keine Ahnung.“, antwortete ich wahrheitsgemäß. Mit einem lauten Schrei sprang der andere vom Bett auf, rannte auf mich zu und schlug mir mit eisenharter Faust voll ins Gesicht. „Du Schwein!“, schrie er. „Wie heiße ich?“ Ich zitterte vor Angst. Meine Nase blutete. „G Punkt Orgasmus Anderson heißen sie.“, sagte ich mit weinerlich zitternder Stimme. „Du SCHWEIN!!!!!“, schrie der andere und schlug mit nochmal mit voller Wucht gegen den Kopf. „Ich heiße Roland Kaiser. Und jetzt sing ganz laut mit mir, du Schwein: Santa Maria, Insel, die aus Träumen geboren, ich hab mein Gehirn hier verloren, du wirst nicht mehr wiedergeboren, heute  Nacht, da esse ich dich auf.“ Er war jetzt zu mir aufs Bett geklettert und fasste mir mit seinen Spinnenfingern ins Gesicht, sodass sich sein Zeigefinger in mein linkes Auge, und sein Mittelfinger in eines meiner Nasenlöcher bohrte. Ich sank aufs Laken. Befriedigt stöhnte der andere auf. Er kletterte wieder von mir herunter und legte sich auf sein Bett.

 

Ich zitterte am ganzen Körper. Im schummrigen Licht beobachtete ich ihn. Er lag jetzt mit dem Rücken zu mir. Er war schlank, hatte eine Halbglatze, und ganz kurze, rötlich flimmernde Haare. Er trug ein weißes T-Shirt, auf dem vorne, wie ich vorher gesehen hatte, eine 36 abgebildet war und viel zu enge Karottenjeans. „Du guckst dir meinen Arsch an, nicht wahr?“, fragte er. „Nein.“, sagte ich. „Doch.“, sagte er. „Mein Arsch ist auch was ganz besonderes.“ Ich entgegnete nichts. „Doch, doch.“, sagte der andere vehement. „Ich habe nämlich keine Arschfalte. Ich bin in der Retorte gezüchtet worden, weil meine Eltern ein Kind ohne Arschfalte wollten.“ „Das ist ja schrecklich.“, sagte ich wenig überzeugend. Mir fiel einfach nichts Besseres dazu ein. „Wieso?“, schrie der andere laut. „Meine Eltern meinten es gut mit mir. Ohne Arschfalte kann einen keiner fisten oder einem Grillzangen hinten rein schieben. Das machen die Perversen doch alle. Und aufs Klo gehen muss man ohne Arschfalte auch nicht. Und übrigens. Ich bin nicht psychisch krank. Ich bin immer einmal im Monat hier, damit mir die Pfleger die angesammelte Scheiße aus dem Körper holen und sie den anderen Patienten hier verfüttern können. Die Reste, die übrig bleiben, gehen an Lebensmittelrecyclinghöfe, die dann aus meiner Scheiße Lebensmittel für die Unterschicht herstellen. Deswegen fühle ich mich auch wertvoll, geachtet, und gebraucht. Und die Basis für mein Leben habe ich von den vielen Jahren, in denen ich angekettet im Keller meiner Eltern die Wiederholungen von der Hitparade mit Dieter Thomas Heck gucken durfte. Aus Schlagern kann man so viel lernen. Zum Beispiel aus dem hier: Ich bin verliebt in die Liebe, sie ist oley-hey für mich. Oder aus dem hier: Xannadududu hip holly hepp oherrgehackt.“  „Geht der nicht irgendwie anders?“, fragte ich aufseufzend. Mir blieb wohl nichts übrig, als mich auf dieses Gespräch einzulassen. „Aaaaaanders????!!!!????“, schrie der Mann. „Ich hab dir doch gesagt, ich bin Nino de Angelo. Und mit ‚Anders‘ willst du Christian Anders beleidigen und mir unterstellen, ich wäre andersrum!“

 

„Nein.“,  rief ich erschreckt, denn mir schwante, dass er gleich wieder auf mich einschlagen würde. „Dann ist ja gut.“, sagte er, nun überraschend friedlich. „Übrigens, du musst dich hier vor einer Mitinsassin besonders in Acht nehmen. Vor der Frau mit dem Hähnchenkopf.“ Ich stöhnte. Da standen mir ja wieder Zeiten bevor.

 

Es war Nacht. Mein Zimmernachbar schnarchte. Seine Karottenjeans hing auf halb Acht, weil er den Gürtel vorm Einschlafen locker gemacht hatte. Zwanghaft sah ich auf seinen Hintern. Manchmal schien es mir im Schein der vor dem Fenster stehenden Straßenlampe, der Mann habe eine Arschfalte, und manchmal nicht. Ein Pfleger mit Essen oder Tabletten war nicht mehr gekommen. Plötzlich hörte ich in der Luft ein leises Singen. Eine einschmeichelnde Stimme sang: „Die Frau. Mit dem Hähnchenkopf. Die Frau. Mit dem Hähnchenkopf.“. Ich fröstelte. Plötzlich hörte ich, wie die Straßenlaterne draußen laut knarrte. Ihr Lichtkegel drehte sich einmal um die eigene Achse, und urplötzlich fiel ihr gesamtes Licht blendend weiß und hell in unser Zimmer. Mein Zimmernachbar saß kerzengerade auf seinem Bett und hatte einen verdrehten Kopf mit Hähnchenschnabel und rotem Kamm. Langsam und leise öffnete sich die Zimmertür und ein ungutes, fiebriges Licht strömte hinein. Mit wackelnden Bewegungen kam eine drahtige Farbige mit Sonnenbrille, knallgelbem T-Shirt und lila Hip-Hop-Cap hinein, und sagte mit breitem, amerikanischen Akzent: „Hähnschenkopf, isch mach disch grade.“. Mein Bettnachbar  gackerte und ruckte mit dem Kopf vor und zurück. „Frau Bratbecker!“, gackerte er mit Hähnchenstimme, „Das verrückte Huhn ist weder da.“. „Hoide gipt es Chicken Mc Nuggets, Roberto.“, sagte die Farbige und wackelte auf mein Bett zu. „Ja.“ gackerte mein Zimmernachbar aus seinem Hähnchenschnabel. „Ain bisschen Schbaß muss sain! Der Perverse hier hat seinen Blanco-Scheck noch nicht unterschrieben.“. Die Farbige war mittlerweile vor meinem Bett angekommen. Sie riss sich die Sonnenbrille herunter und sah mich aus leuchtend weißen Augen ohne Pupillen starr an. „Hähnschenkopf, isch mach disch grade!“, schrie sie und drehte mir mit einem geübten Griff den Kopf ins Genick. Das Dach stürzte ein, und Unmengen Bauschutt fiel auf uns herunter und begrub uns unter sich.

 

Am nächsten Morgen fuhr ein Lastwagen mit der Aufschrift „Hähnchenprodukte vom Lande-garantiert biologisch“ an einer Umgehungsstraße durch eine Pförtnerschranke hinein in die Mauern unserer Stadt. Der Pförtner winkte freundlich, und schob seinen Kirschbonbon von einem Mundwinkel in den anderen. Die sonnenbebrillte Farbige im gelben T-Shirt mit dem lila Hip-Hop-Cap grinste breit. „Hähnschenkopf, isch mach disch grade!“ rief sie freudestrahlend. Der Pförtner nickte, und ließ sie durch. Er hatte bis heute immer noch nicht verstanden, was dieser Satz sollte.

 

 

© by Patrick Rabe, 1. Mai 2021, Hamburg.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 01.05.2021. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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