Ramon Kania

Wir sind die Nacht!

Dunkelheit regierte die Welt. Selbst der Mond und die Sterne waren von schweren Wolken bedeckt, so war das einzige Licht meine kümmerliche Kerze neben mir und die kleinen Häuser in weiter Ferne.
Es war höchste Zeit, dass ich die Stromwerke kontaktierte, doch ohne Festnetz und Mobilfunkempfang war das leichter gesagt als getan.
Morgen werde ich dorthin fahren, erzählte ich mir zum vermutlich zwanzigsten Mal. Leider hatte ich mich in mein rudimentäres Leben schon etwas eingelebt und vermisste die Elektrizität im Grunde nur abends, wenn Stille und Dunkelheit sich in die Bäume und über die Wiesen einquartierten und ich mir an jeder zweiten Tischkante den Zeh anstieß. Aber ich war ja hier rausgekommen um genau diese Erfahrung zu machen. Weg von den schrecklichen Gespenstern der großen Stadt, von all dem lodernden und fackelnden Treiben in ihren Straßen und den immer höher und höher werdenden Türmen, die sich gegen das Sonnenlicht stemmten. Hier draußen konnte man am Tag den freien Himmel sehen und in der Nacht der ruhigen Stille lauschen. Die Gedanken konnten hier in die Ferne schweifen und stießen nicht auf die Ecken und Kanten der „zivilisierten Welt“.
„Wir sind die Nacht.“, las ich den Satz meines Buches, an dem ich pausiert hatte.
„Wir sind die Nacht. Wir sind die lidlose Dunkelheit. Das Toben des Sturms im Reigen der chaotischen Leere.
Wir sind die Wellen. Das Rauschen des Stroms am einsamen Strand. Das Echo der vergessenen Zeiten.
Wir sind die Schatten. Das Monstrum der Ungewissheit. Die Gefahr des unbekannten Rufens in den Gefilden finsterer Gedanken.“ Es war noch ziemlich weit am Anfang des Buches, als der Protagonist zu seiner Reise aufbrach und an ein gewaltiges Tor herantrat, auf dem genau diese Worte geschrieben standen. Ein unheilvoller Moment des Schicksals, der den Verlauf der Reise auf seinen düsteren Pfad bringen sollte.
Ich las weiter. Und weiter… und weiter... Doch so richtig konzentrieren konnte ich mich nicht. Irgendetwas mit Liebe und Verrat, Hoffnung und Verzweiflung, den Dingen, denen man in Büchern eben so begegnete. Aber so richtig prägte sich nichts davon ein.
Wir sind die Nacht. Der Satz dämmerte noch immer in meinen Gedanken, auch wenn ich nun schon viele weitere nach ihm gelesen hatte. Es war wie die Erinnerung an einen Traum, der verblasst war, sich aber dennoch in die Erinnerung gebrannt hatte. Ein Schemen, kaum etwas das man fester zu fassen vermochte, wenn man sich darauf konzentrierte. Aber es war da.
Wir sind die Nacht. Etwas ließ meine Nackenhaare erzittern und die Welt um mich herum wurde dünner. Dieser Satz. Ein Omen? Eine Erscheinung? Zu wage, um es in Worte zu fassen, aber es genügte, um in meinen Gedanken widerzuhallen.
Wir sind die Nacht. Blankes Grauen erfasste mich. Ein Schatten huschte an meinen Augen vorbei. Ein Rabe. Nein, eine Eule, aber mit Federn schwarz wie Pech und Augen so leuchtend wie Sternenlicht. Der Anblick einer Eule war hier nicht sonderlich außergewöhnlich, aber die Situation riss mich trotzdem in ihren Bann. Sie sauste davon und verschwand in der Dunkelheit. Augenblicke vergingen, in denen ich der Kreatur nachschaute.
Dann streifte sie nochmal an meinem Fenster vorbei, dabei erhaschte ich einen Blick in ihre Augen.
Diese Augen. Ein Stoben, das einen in den Abgrund riss. Leere und… Etwas anderes. Wirbelndes Chaos. Gänsehaut kroch über meine Arme. Das eine durch die Nacht hervorgerufene Halluzination gewesen sein. Doch das Bild war so lebhaft vor mir, dass ich es einfach unmöglich als Hirngespinst abtun konnte.
Ich entfernte mich von dem Fenster. Düster begann das Kerzenlicht zu flackern und draußen schien schlagartig das Licht zu verblassen. Ich hörte das Flattern von Flügeln über mir.
Was ging hier vor?
Schritt für Schritt zog ich mich in eine Ecke des Raumes zurück. Zeitgleich kam Bewegung in die Nacht. Schwarzes Gefieder und wirbelnde Augen traten vor jedes einzelne meiner Fenster. Sie glotzten mich an, dutzende Blicke verfolgten jede noch so kleine Regung von mir.
„Wer seid ihr?!“, kam es krächzend und verzweifelt aus meinem Mund.
„WER SEID IHR. WER SEID IHR. WER SEID IHR.“, echoten Stimmen von den Wänden wieder. Es klang wie Spott in meinen Ohren.
Ich bekam Panik. Unglaubliche Panik. So schnell konnte sich ein ganz gewöhnlicher Abend nicht mal eben in einen wahrgewordenen Alptraum verwandeln. Ich musste träumen, ganz einfach träumen. Doch selbst Schmerz konnte mich nicht aus diesem unwirklichem Schauspiel reißen.
Aber vielleicht etwas anderes.
Ich griff nach einem Kerzenständer. Funken glommen auf, als die Kerzen durch die Luft sausten. Ich schrie. Ohne nachzudenken holte ich aus und mit einem Krachen zerbarsten Glas und Nacht in tausend kleine Scherben. Mein Schrei weilte fort, doch nicht aus meinem Mund. Durch das Loch, welches ich in mein Zimmer geschlagen hatte, dröhnte das Geräusch wie aus hunderten krächzenden Kehlen.
Welcher Wahnsinn regierte hier?
Ich ließ den Kerzenständer fallen. Jeder meiner Sinne war auf das Loch gerichtet. Wie ein Portal, oder eine Tür, klaffte es dort gähnend in der Wand, dahinter war nichts. Kein Draußen, keine Sterne.
Die Augen starrten mich unverändert an. Eine Aufforderung lag in der Luft und man gab mir zu verstehen, dass ich ihr lieber folgen sollte. Also trat ich an das Loch heran. Das war der Moment, in dem Alice den Kaninchenbau betreten würde, doch statt dem Wunderland konnte hier nur das blanke Entsetzen lauern.

Das erste, was ich sah waren die Konturen einer Welt die unmöglich real sein konnte. Schatten wanderten über den Horizont. Riesige Gebilde, die sich vor den braunen Staub erhoben, der die Luft erfüllte.
Ich rappelte mich auf. In meinem Kopf drehte sich alles.
„Ein… Neunankömmling…?“, raunte eine tiefe Stimme hinter mir. „Wie… sonderbar.“
Ich wirbelte herum und starrte in ein mit scharfen Zähnen bestücktes Maul. Augenblicklich machte ich einen Satz nach hinten.
„Oh… keine Angst… ich… tu dir nichts.“
Aus einer kleinen Höhle ragte ein Wolfsgesicht heraus, welches mit grauen Tüchern bedeckt war. Schnuppernd trat das Gesicht aus der Höhle hinaus. Der Körper der Kreatur war ebenfalls über und über in Lacken gehüllt.
Er näherte sich mit seiner Nase meinem Gesicht.
„Ahh… ein Außenweltler… dich haben bestimmt… die Eulen hergebracht.“
„Wo… wo bin ich hier?“, stotterte ich, während mein Blick die Bewegungen der Kreatur verfolgte, die begonnen hatte langsam um mich herumzugehen.
„Weit… weit weg von Zuhause… mein... kleines Kind.“
„Was ist das für ein Ort?“
Der Wolf stand nun hinter mir, nur seine Schnauze konnte ich aus dem Augenwinkel ganz dicht an meinem Ohr erkennen.
„Mein… kleines Kind… dieser Ort… hat viele Namen… Aber meistens kennt man ihn als… den Ort… an dem die Alpträume entstehen.“
„Also… träume ich nur?“
Die Kreatur begann zu lachen. Ich spürte den kalten Speichel an meinem Ohr.
„Oh, nein… mein kleines Kind… keineswegs.“
„Und wie…“ Das Rascheln von Tüchern drang an mein Ohr.
„Keine… Zeit für Fragen… Zeit… zum fressen.“
Ich duckte mich. Gerade noch rechtzeitig, denn ich sah, wie die blitzende Klaue wenige Zentimeter über meiner Stirn durch die von Staub geschwängerte Luft zischte.
Ein Schrei ertönte. Wild und laut, eine Mischung aus Verzweiflung, Frust und Hunger. Ich drehte mich nicht um, sondern setzte sogleich zum Sprint an und tauchte in die Gebüsche unweit der kleinen Höhle ab. Der Schrei wurde noch markerschütternder.
„Komm her! Und… lass dich… FRESSEN!“
Den Teufel tat ich. Es ging hinab. Rutschend und stolpernd eine Schräge herunter. Steine bohrten sich mir in die Füße, Äste in meine Seite. Der Abstand zwischen mir und dem Vieh wurde größer.
„Ich… kann sie riechen… deine süßen… süßen Träume! Lass… SIE MICH PROBIEREN!“
Bäume fielen um. Es knackte und raschelte hinter mir wie der rollende Donner in einem aufkommenden Sturm. Er war mächtig, keine Frage, aber offensichtlich mangelte es ihm an Geschwindigkeit. Schon wurde das Tosen zu einem seichten Plätschern, welches irgendwo zwischen den Bäumen und Felsen verrann, bis es mit einem letzten Schreien endgültig versiegte.
Ich rannte noch ein Stück weiter, bis ich mich auf einem umgeknickten Baumstand niederließ und tief durchatmete. Viel Ruhe bekam ich nicht, denn kaum als ich einen kurzen Moment fand um meine Umgebung genauer zu betrachten, da bemerkte ich bereits wie viel mit ihr nicht stimmte. Alles bewegte sich. Bäume wiegten und streckten sich mit einem flüsternden Knarzen. Schwarze Ranken krochen über Boden und Blätterdach. Selbst die Pilze und Blumen drehten sich immer mal wieder im und gegen den Uhrzeigersinn. Dies alles geschah gespenstisch langsam und hätte einem nicht mal auffallen müssen, doch wenn man es einmal gesehen hatte, gab es keinen Weg es nicht mehr zu bemerken.
Ich stand auf und betrachtete einen der lila-schwarzen Pilze, die überall zu finden waren, etwas genauer. Eine Stimme schrie ganz laut in mir „WARUM RENNST DU NICHT ENDLICH WEG?!“, während eine andere, in einem etwas ruhigeren Tonfall bemerkte; „Hah! Ein tanzender Pilz.“
Und der Pilz tanzte wirklich. Nicht nur, dass er sich hin und her dreht, sondern sich auch zum Takt einer lautlosen Melodie rüttelte und schüttelte. Ich war mir sehr unschlüssig darüber, ob ich mich gerade vor diesem merkwürdigen Wald fürchten, oder ihn eher belustigend finden sollte. Nach kurzem Zögern entschloss ich mich dazu ihn anzustupsen. Meinen rationalen Sinn für Gefahr hatte ich nun eh schon in ein kleines Zimmerchen in einem abgelegenen Bereich meiner Gedanken verbannt.
„Hey! Wer erlaubt sich hier so eine anmaßende Frechheit und unterbricht mein lustvolles tanzen?“ Die Stimme war piepsig, schnell und klang wie das Bimmeln einer sehr kleinen Glocke. Der Pilz drehte sich und ein Paar knopfartiger Augen, sowie ein schmaler Mund tauchten plötzlich auf. „Aha! Ich sehe schon, ein Außenweltler. Wer sonst könnte sich eine derartige Taktlosigkeit erlauben? Nun, ich höre, was haben sie zu Ihrer Verteidigung zu sagen?“
Der Pilz starrte mich aus seinen winzigen Augen an und ich starrte zurück. Er wurde zusehends erboster.
„Ähm…?“, brachte ich nur heraus.
„So eine Dreistigkeit habe ich ja schon lange nicht mehr gesehen! Nicht einmal eine Entschuldigung bringt er mir entgegen, lediglich ein ratlos gestammeltes 'Ähm'. Ist das zu fassen? Diese Außenweltler von heute. Und mit diesen Manieren wundern sie sich dann, wenn man sie beim lebendigen Leib fressen will.“ Der Pilz schüttelte, offensichtlich über alle Maße enttäuscht, den Kopf.
„Ent… schuldigung.“, fand ich endlich meine Worte. „Es war nicht meine Absicht Ihnen in irgendeiner Weise zu belästigen. Ich bitte Sie vielmals um Verzeihung!“
Er musterte mich einen Moment, dann nickte er.
„Schon besser. Manieren sind wichtig junger Mann, das darf man niemals vergessen.“
„Selbstverständlich. Ich muss wohl noch etwas Durcheinander sein. Die Situation, in der ich mich befinde… sie ist noch etwas sonderbar für mich.“ Wenn man bedachte, dass ich vor einigen Minuten noch vor einer wolfsähnlichen Kreatur geflohen bin, die mich fressen wollte und mich in diesem Moment gerade mit einem tanzenden Pilz unterhielt, dann war das womöglich sogar einigermaßen verständlich.
„Ja, sowas hört man des Öfteren von frisch eingetroffenen Außenweltlern. Gerade wenn ihr erster Kontakt mit einem der etwas harscher auftretenden Wesen des Landes ist. Nun gut, ich verzeihe Ihnen, sofern Sie versprechen in Zukunft keine Tänze mehr zu unterbrechen.“
„Das verspreche ich. Hoch und heilig. Nur eine Sache wüsste ich noch gerne… könnten Sie mir freundlicherweise sagen, was verdammt nochmal hier vor sich geht?“

Ich wusste nicht, ob ich mit der Antwort wirklich zufriedener war, als mit meiner Unwissenheit. Der Pilz hatte etwas von Träumen und Traumfressern erzählt. Wie es jedem hier nach dem süßen Geschmack von Träumen dürstete, ja man sogar verrückt werden konnte, wenn man zu lange nicht von ihnen kosten konnte. Aber ihn als Pilz konnte das natürlich nicht passieren, war er schließlich mit der „großen Wurzel“ verbunden, die das Erdreich mit all seinen pflanzlichen Bewohner zu genüge versorgte, solange er nur hin und wieder ein kleines Tänzchen hinlegte. Alles ganz logisch, zumindest für ihn.
Des Weiteren solle ich mich immer gen Süden bewegen und Ausschau nach einer kleinen Stadt halten, dort würde ich schon wen finden, der mir sagen könnte, was ich nun tun solle.
„Ach! Und nehmen Sie noch ein paar der Äste hier und stecken Sie sich die in die Haare. Etwas Schlamm sollte auch helfen. Man riecht Ihre Träume wirklich Kilometer weit und erkennen, dass Sie von Außen kommen, könnte derzeitig auch ein halbblinder Oktavier.“ Mit diesen Worten verabschiedeten wir uns. Der Pilz begann wieder zu tanzen und ich schmierte mir Schlamm und Äste in die Haare. Unschlüssig, ob ich nun ängstlich sein, oder mir lächerlich vorkommen sollte, machte ich mich auf den Weg.
Es dauerte nicht lang, bis der Wald langsam dünner wurde und ich auf ein weites Tal blicken konnte. Hier wanderten keine monströsen Schatten über den Horizont und kein brauner Staub lag in der Luft. Nur dunkler war es, aber das lag vermutlich an der voranschreitenden Tageszeit. Selbst im vorherrschendem Dämmerlicht konnte ich die Stadt gut erkennen, von der der tanzende Pilz gesprochen hatte. Auf den ersten Blick dachte ich noch, dass es sich um eine stinknormale Stadt handelte, so wie ich sie zuhauf kannte. Beim Näherkommen und auf den zweiten Blick merkte ich allerdings, dass ich mich fürchterlich geirrt hatte.
Im Grunde war die Stadt ein Spiegelbild des Waldes; alles war schief und krumm, kein Haus stand grade. Und alles bewegte sich. Wie das Flimmern einer Wüste flackerten die Gebäude im Schatten des Rauchs ihrer eigenen Schornsteine.  Auch hier lag eine unsichtbare Melodie in der Luft. Etwas wilder, etwas chaotisch und nicht ganz so harmonisch, wie ich sie noch im Wald gespürt hatte, aber nicht störend oder mit schiefen Tönen versehen. Dennoch erfüllte mich ein schauriges Unbehagen, als ich kurz vor den Toren stehen blieb. Sie waren offen und ließen mich auf das Innenleben der Stadt blicken. Ich erkannte sofort, wieso der Pilz mir eine Verkleidung empfohlen hatte.
Diese Kreaturen… Lebewesen? Was es auch waren, keiner von ihnen sah einem Menschen ähnlich. Gut, manche von ihnen gingen auf zwei Beinen, hatten nur einen Kopf und auch nur einen Rumpf, aber der Rest wirkte so willkürlich zusammengesetzt, wie bei einem Schöpfer, der leidenschaftlicher Patchwork-Neher war, was dadurch bestärkt wurde, dass tatsächlich einige der hier anwesenden… Dinge zum Teil aus Stofffetzen und Nähten bestanden. Ich mit meinen Ästen und Matsch im Haar, war selbst jetzt noch in meinem Auftreten am konservativsten. Manche auf den Straßen bestanden, zum Beispiel, nur aus Ästen und Schlamm. Andere hatten Stämme statt Arme, andere Arme an Stämmen. Dabei konnte ich keine Einheitlichkeit ausmachen. Keine Spezies widererkennen, geschweige denn so etwas wie Rassen oder Arten. Dennoch herrschte kein Durcheinander auf den Straßen. Es gab angeregte Gespräche und ernsthafte Geschäfte. Ich wusste, dass ich die Laute der hier gesprochenen Sprachen im Grunde noch nie gehört hatte, den Sinn verstand ich, zu meiner eigenen Überraschung, jedoch völlig problemlos.
Was für ein Ort. Was für eine Welt. Wo war ich hier nur gelandet.

Ich bemerkte es erst, als ich mich durch einige Straßen, Gassen, Kreaturen und Geschäften vorbeigeschlängelt hatte, doch dann sah ich es in jeder Ecke. Es herrschte Not. Mangel an kleinen, bunten Kügelchen, die man hier nur „Träume“ nannte. Sie waren wohl das gängige Zahlungsmittel in der Stadt und ebenso begehrt wie Gold oder Diamanten in meiner Welt, wenn nicht sogar noch mehr. Und ich verstand, wieso der Pilz mir geraten hatte, den Geruch meiner Träume zu verdecken. Ein Kopf der mit ihnen vollgestopft war? Ich musste unweigerlich an meine erste Begegnung mit einem der Bewohner dieser Welt denken, an das lüsterne und verzweifelte Schreien der wolfsähnlichen Kreatur. Auch hier sah ich Verzweiflung. Gewaltige, und einstmals auch bestimmt mächtig furchteinflößende Kreaturen, lagen in dunklen und abgelegenen Gassen, der Blick war Leer, die Gliedmaßen zuckten kaum merkbar im letzten Kampf gegen den bevorstehenden Hungertod. Und auf den Dächern saßen schwarzgefiederte Schlangen, die sich auf die leblosen Körper stürzten, sobald sich der letzte Atemzug von ihren Lippen gelöst hatte.
Der wahre Alptraum, so schien es mir, waren nicht die Bewohner dieser Welt, es war das Elend, dem sie ausgesetzt waren.
Ich nahm zunächst an ziellos durch die Straßen zu laufen, bis ich bemerkte, dass dies ganz und gar nicht der Fall war. Ich trat auf einen riesigen Platz in dessen Mitte ein monströser Turm in den Himmel ragte. Er war so hoch, dass ich meinen Kopf beinahe nicht weit genug nach hinten Strecken konnte, um sein ganzes Ausmaß auf einmal aufzunehmen.
Wo kam er nur her? Weder von außerhalb noch innerhalb der Stadt hatte ich ihn sehen können. Und er musste eigentlich zu sehen gewesen sein. Ja, von mehreren Kilometern Entfernung und bei tiefer Nacht hätte man ihn immer noch sehen müssen. Doch erst jetzt, wenige Meter vor mir, bemerkte ich die gewaltige Konstruktion zum ersten Mal.
„Ah, ja, die Weltennadel. Beindruckend, nicht wahr? Im Jahre 612 erbaut und seit 863, während die verheerenden Traumschlachten am erbittertsten tobten, mit dem effektivsten Schutzzauber aller acht Königreiche versehen.“
Verdutzt drehte ich mich um. Man hielt mir einen Prospekt vor die Nase. So dicht, dass ich nur die Überschrift erkennen konnte:
„Weltennadel – Mehr als Sie jemals wissen wollten“
„Hi, ich bin Mary und Sie sind gerade erst in dieser herrlichen Stadt angekommen. Habe ich recht?“ Ich spürte, wie eine Hand meine eigene Hand schüttelte. „Freut mich sehr! Und? Konnte ich Ihr Interesse wecken?“
Der Prospekt wurde weggezogen und zum Vorschein kam ein Gesicht ganz aus Porzellan. Viele Risse bedeckten die einstmals weiße Haut, welche von einem Leben voller Erschöpfung und Trauer erzählten, dennoch strahlte auf den blassroten Lippen ein scheinbar aufrichtig gemeintes Lächeln.
„Sie sind also so etwas wie ein Reiseführer?“, folgerte ich aus dem Offensichtlichen.
„Nicht 'so etwas wie ein Reiseführer'! Sondern der beste Reiseführer in ganz Alpstadt! Nun, möglicherweise auch der einzige…“
„Tatsächlich könnte ich einen Reiseführer...“
„Den BESTEN Reiseführer.“, korrigierte sie mich mit erhobenen Finger. Dieser Umstand schien er sehr wichtig zu sein.
„… den BESTEN Reiseführer der Stadt gerade gut gebrauchen. Ich bin gerade erst in… öhm… Alpstadt angekommen und…“
„Und Sie wollen jetzt natürlich all die herausragenden und unglaublichen Sehenswürdigkeiten der Stadt sehen. Kein Problem! Am besten fangen…
„Um ehrlich zu sein…“
„… der Weltennadel an. Stehen ja schon direkt davor. Dann machen wir weiter mit der Gruft der tausend Toten. Unheimlich und mysteriös. Wer war die sagenumwobene Nachtgestalt, die 85 die Straßen von Alpstadt heimgesucht hat? Wissen Sie, was im Barvaille-Anwesen tatsächlich vorgefallen ist? Dort werden Sie es erfahren! Und schließlich geht es zum Palast der Träume, der Verwaltungs- und Regierungszentrale von Alpstadt. Vor über 500 Jahren erbaut und mit Kellern und Gewölben, die noch viel älter sind! Glanz und Geheimnisse warten dort auf Sie! Den Abschluss der Führung…“
„Eigentlich brauche ich keine Führung durch die gesamte Stadt, es reicht mir, wenn…“
„… die Mauer von Bor-Feng. Gehen Sie hautnah den Spuren der brutalen Traumschlachten nach und machen Sie sich auf einen atemberaubenden Anblick über die leichtgrüne Ebene gefasst, der… Haben Sie etwas gesagt?“
„Das klingt ja alles wirklich unglaublich spannend. Und wenn ich die nötige Zeit hätte, würde ich mir die Sehenswürdigkeiten liebend gern angucken. Allerdings bin ich etwas in Eile und habe nur ein paar Fragen zu der Stadt.“
„Oh… das ist aber sehr schade.“ Das Lächeln auf dem Porzellangesicht verschwand und Enttäuschung machte sich breit. „Was für eine Frage haben Sie denn?“
„Ich… nun… also mir wurde gesagt, dass es in dieser Stadt möglicherweise einen Weg in die sogenannte Außenwelt gäbe. Wissen Sie etwas darüber?“
Das ohnehin schon blasse Gesicht der Puppe wurde noch bleicher.
„Sie suchen… das Portal?“ Sie machte eine kurze Pause, das dann folgende Wort sprach sie mit unglaublicher schärfe aus. „Wozu?“
Ihre Augen, Glaskugeln, in denen sich das Lichter der Umgebung wiederspiegelte, durchdrangen mich plötzlich mit einem Blick voller Misstrauen.
„Ich… ähm…“
„Sind Sie einer der Agenten des Zauberers? Was haben Sie dann hier zu suchen? Wo sind die gefiederten Schlangen, die Sie auf die Weltennadel bringen?“
„Nein, ich bin kein…“ Es brachte nichts, ihr Zorn stieg immer weiter an, also rang ich mich zu einem Entschluss durch. „Komm mit, ich zeig dir was.“
Ohne ihre Proteste abzuwarten zerrte ich sie in eine kleine Seitengasse.
„Sie können doch nicht…“, setzte dir Puppe an, als wir zum Stehen gekommen waren und ich mir sicher war, dass uns hier niemand sah.
„Ich bin keiner von euch. Ich…“ Ich nahm die Äste aus dem Haar und entfernte den Schlamm. „Bin ein Außenweltler.“
„Sie sind… du bist…“ Sie schnupperte in der Luft und nach einem kurzen Moment der Ungewissheit dämmerte ihr die Erkenntnis.
„Aber das… das ist unmöglich! Seit Jahren… Jahrzehnten! war kein Außenweltler auf unserer Seite…“
„Aber ich bin hier.“
„Das sehe ich…“ Mary dachte anscheinend angestrengt nach.
„Willst du… willst du gar nicht meinen Kopf aufbrechen und meine Träume fressen?“, fragte ich zögernd.
„Was?!“ Sie schreckte hoch und sah zugleich angewidert und schockiert aus. „Warum sollte ich so etwas tun?!“
„Na, das erste Mal, als ich einem Bewohner dieser Welt begegnet bin wollte er genau das machen.“
„Oh, verstehe… Nein, so verzweifelt bin ich noch lange nicht.“ Sie machte eine kurze Pause, in der sie sich mit traurigem Blick umsah. „Aber ich gebe dir recht, die Gefahr besteht. So wie der Hunger gerade um sich greift…“
„Ihr ernährt euch hier also von Träumen? Den Träumen von Menschen?“
„Natürlich, schließlich sind Träume nichts anderes, als pure Lebenskraft!“
„Okey…? Und… und war der Hunger immer so schlimm? Gibt es seit kurzen einen Mangel an Träumen?“
„Oh nein, erst seit den Schlachten herrscht auf dieser Seite…“ Das krächzende Zischen einer geflügelten Schlange unterbrach sie. Das Vieh saß auf den Zinnen über unseren Köpfen und starrte neugierig auf uns herab.
„Verdammt! Schnell, wir müssen hier weg!“
Sie zog mich hinter ihr her. Im hastigem Tempo ging es die schmalen Gassen entlang. Je weiter wir kamen, desto mehr schwarzes Gefieder sah ich über den Dächern aufblitzten und die Straßen in dunkle Schatten hüllen. Ihr Krächzen steigerte sich zu einem ohrenbetäubenden Durcheinander, während wir eine Abzweigung nach der nächsten entlang spurteten.
Die Hetzjagd endete erst, nachdem wir eine rostige Tür passierten, die Mary fest hinter uns verschloss. Man hörte noch, wie wildes Flügelschlagen sich vor der Tür sammelte, dann aber mit wütend klingendem Zischen wieder verschwand.
„Ge…“ Ich atmete ein paar mal tief ein um Luft zu holen. „… schaft.“
„Dieser verdammten Viecher! Tja, Heimlichkeit ist damit wohl unsere geringste Sorge.“ Ihr viel das Atmen offenbar nicht sonderlich schwer, was mich zu der Frage brachte, ob die Puppe namens Mary überhaupt Luft zum Leben brauchte. Aber das konnte warten.
„Was ist das nur für eine Welt? Rennen hier denn nur Monster und lebendig gewordene Alpträume herum?“
Sie sah mich mit ihrem glasigen Blick an.
„Sehe ich für dich wie ein wahrgewordener Alptraum aus?“
Ich musterte sie genauer. Die rissige Haut, das zerschlissene Kleid. Die blassroten Lippen, die krausen Haare. Es gab Horrorfilme, in denen Puppen die furchteinflößende Hauptrolle spielten, aber ob Mary diese Position hätte besetzen können?
„Nein, du jagst mir keine Angst ein.“ Vermutlich hatte ich vor ihr deswegen auch so unmittelbar meine Maskerade enthüllt.
„Na also, diese Welt besteht nicht nur aus Alpträumen. Zumindest wenn man an den richtigen Stellen sucht.“
„Doch es ist eine Welt, in der ich anscheinend von allerlei Leuten gejagt werde…“
„Das stimmt, aber schließlich hast du ja auch deine kostbaren Träume. Träume, die hier Berge versetzen, oder sogar ganze Armeen auslöschen können. Einfach so, mit etwas Konzentration und einem einzigen Traum wird aus dem Bettler in der Gosse ein König im hohen Turm und aus der Schlange am Boden ein Vogel in der Luft.“
„Diese… Viecher?“, fragte ich.
„Alles hier! Träume zu haben bedeutet Macht, Macht über die Wirklichkeit selbst!“
„Habt ihr denn keine eigenen Träume?“
Sie sah mich verständnislos an, so wie ein Erwachsener der einen anderen Erwachsenen gerade gefragt hat, was der große, gelbe Ball da am Himmel ist.
„Ihr Außenweltler…“ Sie seufzte. „Ihr wart noch nie besonders umfassend, was euren Wissensbestand angeht.“
Sie wendete sich ab und ging an einen Schreibtisch, der nicht weit entfernt von uns vor einem staubigen Spiegel stand. Das war der Moment, in dem ich zum ersten mal die Wohnung zu Kenntnis nahm.
Jemand lebte hier, so viel stand fest. Doch es konnte nicht viel mehr als das herumspukende Gespenst einer Person sein. Nicht alles war von Staub bedeckt, allerdings das Meiste. Hier und dort sah man dünne Fußabdrücke, die sich von dem restlichen Grau abhoben, oder einen Bilderrahmen, der erst vor kurzem umgestellt worden war. Auch der Spiegel, vor dem Mary stand, besaß eine kleine Stelle, die jemand mit der Hand freigewischt hatte, durch die die bleiche Puppe ihr eigenes Gesicht betrachtete.
„Weißt du, ich wüsste gerne, wer einmal von mir geträumt hat.“, sagte sie, ohne den Blick von ihrem eigenen Abbild abzuwenden. „Ich weiß so wenig über eure Welt und den Lebewesen, denen die Macht innewohnt ganze Welten zu erschaffen.“
„Hast du nicht gerade noch meinen Wissensstand als nicht allzu umfassend beschrieben?“, scherzte ich.
„Ich denke“, sie drehte sich um, „das können wohl beide Seiten über den jeweils anderen behaupten.“ Ihr Lächeln war zurückgekehrt.
„Hier wohnst du also?“ Ich machte eine Geste, mit der ich wohl versuchte auf irgendwie alles zu zeigen was ich sah.
„Nicht sehr eindrucksvoll, ich weiß.“
„Es ist… nett.“
Sie schüttelte den Kopf. „Ein verstaubtes Puppenhaus für ein vergessenes Püppchen.“
„Abe…“
„Versuch es gar nicht erst.“, unterbrach sie mich. „Es ist wie es ist. Ich kenne Schlösser und das ist definitiv keines. Aber meistens bin ich eh auf den Straßen und nur selten hier.“
„Auf den Straßen als Reiseführerin?“
„Als ob es dafür genug Kundschaft gäbe…“
„Und was machst du dann in der Stadt?“
Ihre Antwort kam erst nach einer kurzen Verzögerung in der sie anscheinend über irgendetwas angestrengt nachdachte.
„Sag mal… wärst du bereit einer Revolution beizutreten?“

Es war eine sehr… interessante Gruppe an… Gestalten, denen ich mich hier gegenübersah.
„Und was ist dein Plan? Glob. Mit ihm voran die Weltennadel stürmen? Glob.“, fragte ein gigantischer Haufen Matsch, der, wenn man ihn ansah, immer so aussah, als würde er in alle Richtungen verlaufen, dabei aber dennoch stets auf mysteriöse Weise seine Form beibehielt und nach jedem Satz ein dumpfes Platschen von sich gab.
„Natürlich nicht. Es wird eine geheime Mission werden.“, erwiderte Mary. „Wir werden uns hineinschleichen. Du und Emmry“, sie zeigte auf ein kleines Wesen mit schwarzen Flügeln und messerscharfen Zähnen, „ihr seid schon mal hineingekommen.“
„Ja,“, meldete sich das geflügelte Wesen namens Emmry zu Wort, „und es hätte beinahe unseren Leben gekostet nur auf die unterste Ebene des Turms zu kommen!“
„Die Hälfte meines Schlamms musste ich einbüßen! Glob. Es hat Wochen gedauert, bis ich wieder meine volle Masse erreicht hatte! Glob.“
Die Puppe sah den Haufen Schlamm verständnisvoll an. „Ich weiß. Ich weiß, dieser Krieg hat uns alle viel gekostet. Zu viel. Aber nach Jahren des Versteckspiels haben wir endlich wieder eine Chance auf einen Sieg! Glob, mit dem Außenweltler können wir endlich diese Seite von der Tyrannei des Zauberers befreien!“
„Und wenn… SIE bei ihm ist? Glob. Der… Alptraumschlächter? Glob.“ Glob flüsterte den Namen nur.
„Ist sie nicht.“, antwortete Mary mit Bestimmtheit.
„Woher willst du das wissen?“ Eine Kreatur, ähnlich dem Wolf, dem ich ganz zu Beginn meiner Reise begegnet bin meldete sich zu Wort. „Woher willst du wissen, dass sie nicht immer noch das Schwert für diesen Bastard schwingt? Jetzt als Leibwächter, anstatt als Kriegsführer?“
„Sie hat nie für ihn gekämpft, der Zauberer kam erst nachdem die Schlacht bereits verloren war. Und außerdem… wurde sie in dem Krieg schwer verwundet.“
„Woher willst du das wissen?“, brummte der Wolf. „Steht das in irgendwelchem geheimen Aufzeichnungen geschrieben oder so etwas?“
„Weil ich DABEI gewesen bin.“ Alle Anwesenden erstarrten in Ungläubigkeit.
„Du warst dabei? Glob. Du hast sie gesehen?! Glob.... Und überlebt?“ Glob konnte es nicht glauben. „Das ist unmöglich. Es gibt niemanden auf dieser Seite der sie gesehen und überlebt hat!“
Mary sagte nichts, zog nur ein Schwert aus ihrem Kleid hervor, dass sie auf unerklärliche Weise, bis eben nicht sichtbar für das Auge, versteckt hatte.
„Das ist es!“, fiepste Emmry. „Das ist es wirklich!“
Die Klinge war weiß und makellos. Marmor, Elfenbein, oder Porzellan, ich konnte nicht genau sagen woraus es gemacht worden war, aber es war kein Eisen.
„Wie bist du da drangekommen?!“ Der Wolf machte Anstalten es anzufassen, entschied sich im letzten Moment allerdings doch dagegen.
„Sie hat es fallen gelassen, kurz nachdem die Lanze von Fähnrich Schwarzherz ihren Magen durchbohrte.“
„Fähnrich Schwarzherz hat sie verwundet? Glob.“, fragte Glob überrascht.
„Kurz darauf hat sie ihm den Kopf abgeschlagen. Daraufhin fiel ihr das Schwert aus der Hand und sie zog sich blutend vom Schlachtfeld zurück.“
Nach einem Moment des Schweigens war der Wolf der erste, der das Wort ergriff. „Du sagtest immer, dass du sehr alt bist. Aber SO alt? Hmm…“ Er dachte kurz nach. „Dort liegt also dein Hass begraben… du bist höchstpersönlich bei den Gräueltaten von damals dabei gewesen.“
Die Puppe antwortete nicht, doch den Schmerz und die Wut sah man deutlich in ihren Augen. Es war die Reflektion einer Welt, deren Werdegang sie verabscheute.
„Ich denke, dass ich für uns alle Spreche, wenn ich sage, dass wir mit dir in die Schlacht ziehen werden, so wie du es schon einmal für uns getan hast.“ Der Wolf sah sie an, Entschlossenheit lag in seinem Blick. Auch die anderen nickten zustimmend.
„Ich danke euch vielmals. Euch allen. Ich weiß wir waren einmal mehr und wir sind kaum mehr als der kümmerliche Rest eines einst so stolzen Widerstands. Aber es braucht nicht immer eine Armee, um eine Tyrannei zu stürzen. Dies wird ein wichtiger Tag werden. Vergangenes Unrecht wird endlich wieder gut gemacht werden können. Nach all den Jahren der Sklaverei und Unterdrückung...“

Er war tot. Aus seinem Kopf sprudelten die letzten Träume in Form von durchsichtigen Seifenblasen. Es war ein seltsam beruhigender Anblick im Vergleich zum Chaos und Schrecken, welche den Rest der Szenerie bestimmten. Keine zehn Minuten waren wir durch die matschigen Röhren der Kanalisation gestampft, als die Apparatur aus rostigen Scheren wie aus dem Nichts aus der Dunkelheit gekommen war. Ein Klackern, ein Aufblitzen im Fackelschein und schon lag der Kopf des Wolfs vor unseren Füßen, während der Rest des Körpers langsam im braunen Schlamm versank.
„Sie haben eine Wache aufgestellt! Glob. Ich wusste, dass unser letzter Besuch nicht ohne Folgen geblieben war. Glob.“ Der Haufen Matsch hatte sich bisher im Abwasser verteilt und war kaum wahrnehmbar gewesen, jetzt jedoch richtete er sich zu voller Größe auf. Auch Mary zog ihr Schwert. Keine Zeit für Trauer; ein Kampf würde entbrennen und er würde hässlich werden.
Und er wurde es.
Untätig sah ich dabei zu, wie das Abwasser einer Stadt voller Alpträume durch die Gegend spritzte, darin hineingemischt: die scharfen Klingen und rostigen Scheren von Wesen, die des Nachts Schrecken in die Träume der Menschen brachten. Es klirrte und schepperte, Funken stoben im Zwielicht des Fackelscheins, welcher unheimliche Schatten an die Wände warf.
Ich versuchte es mir vorzustellen, so wie es Mary mir gesagt hatte. Die Klinge, die sich durch die Apparatur bohrte, die Faust aus Matsch, die sie in tausend Einzelteile zerschlug. Ich musste es nur vor meinem geistigen Auge sehen und es würde Wirklichkeit werden. Doch jedes mal, wenn ich es gerade geschafft hatte einen halbwegs klaren Gedanken zu fassen, schlug etwas gegen meine Schulter, oder umherfliegender Matsch versperrte mir die Sicht.
Dann war es vorbei und aus dem rostigen Apparat entströmten die Träume in Form von Seifenblasen. Mary blickte bedauernd auf die Überreste aus Scheren, Zahnrädern und Gewinden. Glob verzog kein matschiges Fältchen. Der Leichnam des Wolfs war im Gezänk verschwunden.
„Wie viele Freunde müssen wir noch unter der Knechtschaft dieses Tyrannen verlieren? Wie viele müssen wir noch bekämpfen, weil man ihnen Leere Versprechungen als Träume verkauft hat?“ Bitterkeit triefte aus den Worten der Puppe.
„Kanntest du ihn etwa? Glob.“
„Früher einmal.“ Sie stach ihr Schwert durch den noch zuckenden Rumpf. „Aber unsere Wege haben sich vor langer Zeit getrennt.“
Und damit gingen wir weiter. Mary und Glob voran, ich mit der Fackel hinter her.
Mein Gefühl Leser und nicht Charakter einer Geschichte zu sein verstärkte sich immer mehr. Seit der Besprechung der Revolutionäre in ihrem geheimen Quartier hatte ich kaum ein Wort mit jemanden gewechselt. Und selbst jetzt, nach einem eigentlich sehr aufwühlenden Kampf, war ich mehr Beobachter als Krieger, mehr Berichterstatter als Kämpfender, kaum beteiligt an den Geschehnissen, die mich umgaben. Es war ein sehr sonderbares Gefühl. Ein Gefühl, als toter Geist unter den Lebenden zu wandeln. Keiner sprach mit mir, keiner schien mich wahrzunehmen.
Ich wollte es gerade zu Wort bringen, einen Dialog anfangen, da hielten die beiden vor mir plötzlich in der Bewegung inne. Ich schaute auf.
„Das muss sie sein, oder?“, fragte Mary. Ihre Hand betastete die Mauer, vor der sie stehen geblieben war. Verschiedene Runen verzierten den Stein, von dem ein bläulicher Schimmer ausging.
„Die ist ja wie aus dem Nichts aufgetaucht. Glob. Es kann nur die Tür zur Weltennadel und zum verdammten Zauberer sein! Glob.“ Glob schien über diesen Umstand weitaus überraschter als Mary zu sein.
„Ich dachte du hattest damals auch diese Tür benutzt? Bist du nicht auch durch die Kanalisation in den Turm hineingekommen?“
„Nicht über… Glob. … diesen Weg. Glob.“ Unmissverständlich gab Glob zu verstehen, dass er nicht weiter darüber sprechen wollte. Ich konnte mir denken, welchen Weg er damit meinen könnte.
„Na gut, dann hoffen wir mal, dass Emmry es leichter hatte als wir.“
Der Plan war, dass das kleine Feenwesen sich durch eins der hoch gelegenen Fenster in den Turm hineinschlich und die versteckte Tür von ihrer Seite aus öffnete. Der Haken an der Sache war allerdings, dass die Fenster hauptsächlich dazu dienten den geflügelten Schlangen Ein- und Ausgang in den Turm zu gewähren und man konnte sich vorstellen, dass diese nicht sonderlich begeistert von ungeladenen Gästen sein würden. Dementsprechend konnte man sich vermutlich auch gut unsere Nervosität vorstellen, die immer weiter anstieg, während wir mehrere Minuten warteten, sich jedoch, weder vor noch hinter der Tür, etwas zu rühren schien.
Dann kam das ersehnte Durchbrechen der Stille endlich. Aber es war nicht das Geräusch, das wir erwartet hatten. Mit einem dumpfen Klatschen schlug etwas von der anderen Seite gegen die Tür, kurz darauf folgte ein erstickter Schrei. Wieder zog Mary das bleiche Schwert. Ich sammelte meine Gedanken: dieses Mal wollte ich bereit sein und einen echten Beitrag leisten.
Die Tür ging auf, oder viel eher: sie flog, in dutzende Teile gesprengt, durch den Raum. Seifenblasen begleiteten die Trümmer bei ihrem Flug durch die Luft und mit ihnen kamen schwarze Federn durch das Loch geströmt, welches nun in der Wand klaffte.
Ich sprang zu Seite und hielt meine Hände schützend vors Gesicht. Der Strom aus Trümmern, Feder und Seifenblasen hielt einen Augenblick lang an, dann verpuffte alles in Stille. Als ich wieder hochschaute hatte Mary ihr Schwert weggesteckt und betrachtet kopfschüttelnd die Stelle, wo bis eben noch die blau schimmernde Tür fest in den Stein verankerte gewesen war.
„Das hätte sie nicht machen dürfen.“, sprach die Puppe leise. „DU DUMMES, KLEINES VIEH!“ Sie schlug mit der Faust gegen die Wand, so dass ein Stein hinausbrach.
„Sie hat sich… Glob… für uns geopfert… Glob.“, sagte Glob beschwichtigend.
„Nicht mal den Turm haben wir betreten… UND SCHON STIRBT DIE HÄLFTE UNSERER LEUTE!“ Die letzten Worte schrie sie, spuckte sie aus ihren Lungen. „Ich bin eine armselige Anführerin. Die ganze Aktion ist eine Katastrophe! Ein Desaster. Zum scheitern verurteilt, vom Anfang bis zum Ende… Ich habe uns alle in den Tod geführt.“ Sie drehte sich zu uns um. In ihren Augen lag Zorn und Verzweiflung, in ihrer Hand lag ein paar winziger Flügel. „Mehr ist nicht von ihr übrig. Emmry und Wolf sind tot und wir haben nichts erreicht. Rein gar nichts.“
„Das ist nicht wahr, der Weg steht uns offen. Glob. Wir können es ein für allemal beenden, wenn wir jetzt weitergehen und ihr Opfer nicht vergeblich werden lassen. Glob.“
War das alles wirklich noch Teil meiner Welt? Das Drama, es geschah vor Meinen Augen. Tod und Verzweiflung, Schmerz und Trauer. Nichts davon spürte ich, als Mary die Flügel zerdrückte und durch die Öffnung trat, Glob ihr direkt hinterher. Unbeteiligt blieb ich im Hintergrund.
Ich folgte, aber wozu wusste ich nicht mehr. Etwas lief hier vollkommen falsch.

Schwarze Federn und bleicher Stahl. Ein tanzender Wirbelsturm im Chaos aus verzweigten Gängen und ewigen Treppen.
Glob kämpfte erbittert an Marys Seite… oder war er schon längst gefallen? Die Konturen der Geschichte verschwommen vor meinen Augen. Ich wurde aus ihr herausgeschnitten. Und alles was ich wusste, alles was ich tun konnte, war irgendwie dagegen anzukämpfen. Mit aller Macht! Mit allen Mitteln! Mit allem, was ich hatte versuchte ich die Seiten, die vor mir auseinandergerissen wurden, zusammenzuhalten!
Ich streckte, windete und wand mich. Schrie und tobte, doch niemand schien mich zu bemerken. Keiner hörte meine Rufe, niemand sah mein Flehen!
Wo war ich? Was war ich? Was geschah hier mit mir?!
Es zerrte an mir, es riss an mir, es zog an mir mit aller Kraft.
Aber es gab Momente. Für den Schimmer eines Augenblicks war da ein Leuchten in Marys Augen. Vergessen und Erkennen, zu kurz, um mir Hoffnung zu geben, aber ein Anfang, an den ich mich aller Macht krallte.
Ich schlug verzweifelt gegen ihre Brust. Aber nichts schien zu helfen.
Es musste der Zauberer sein! Er war es, der mich aus dieser Welt hinausziehen wollte! Nur wie? Womit? Woher kam es? WAS war es?
Dann sah ich sie. Die kleinen Scheren, mit ihren riesigen schwarzen Augen und blutbefleckten Zähnen. Am Rande meines Sichtfelds durchtrennten sie die Fäden, die mich an diesen Traum banden.
Ich starrte sie an und sie erstarrten unter meinem Blick.
Dann geschah es wie von selbst. Sie lösten sich auf. In einer Sekunde zur anderen wurden sie zu leuchtenden Seifenblasen und ich fiel zu Boden… oder glaubte zu fallen. Mein Kopf schepperte jedenfalls beim Aufprall.
Mary schrag hoch und sah mich verwirrt an.
„Wer…“ Ihr Schwert schnellte auf mich zu, blieb aber mitten in der Luft stehen, als sich langsam die Erkenntnis ausbreitete.
„DIESER BASTARD!“, rief sie voller Zorn. „Wie lange… wie lange hat er jetzt schon versucht dich zu entfernen?“
„In der Kanalisation hat es begonnen… Vielleicht aber auch schon vorher.“, antwortete ich überraschend direkt, obwohl sich im Grunde noch alles in meinem Kopf drehte.
„Und Wolf, Emmry und Glob haben derweil das zeitliche gesegnet... DIESER HURENSOHN! DAFÜR WIRD ER BEZAHLEN! Jetzt bringen wir es zu Ende… ER WIRD LEIDEN! FÜR ALL DAS, WAS ER UNS ANGETAN HAT!“
Was… Entsetzen packte mich. Was war mit Mary geschehen?!
Die nette Fremdenführerin, die ich in den Straßen von Alpstadt kennengelernt hatte, war kaum wiederzuerkennen. Über ihre Haut tänzelten nun rote Schlieren und in ihren glasigen Augen tobte ein wildes Feuer, welches Lieder von Hass und Zerstörung sang. Mit dem Schwert des Alptraumschlächters in der Hand hätte man jetzt wirklich denken können, dass sie einem Alptraum entsprungen war.
Sie wollte losstürmen, doch ich griff ihren Arm.
„Mary,“, sie starrte mich an, „was ist los mit dir? Was passiert hier?“
Ihr Gesicht verzog sich zu einer grauenvollen Grimasse. Sie riss sich los und rannte die Treppen hinauf. Im letzten Moment erhaschte ich einen Blick auf die Spitze ihres Schwertes. Grüner Schlamm klebte an der Klinge.
Aber das… das konnte unmöglich sein… Was war nur in meiner Abwesenheit geschehen? Stand auch Mary unter einem Bann des Zauberers? Oder irgendwelcher Kreaturen? War er… war er wirklich so mächtig Freunde gegeneinander kämpfen zu lassen?!
Meine Gedanken überschlugen sich, so als wäre ich von jetzt auf gleich in eine tobende und stürmende See geschmissen worden. Ich spürte, wie meine Beine zu zittern begannen und das Blut aus meinen Gliedern strömte. Panik ergriff mich. Aber es half nichts, ich musste Mary hinterher. Also zwang ich meine Füße dazu mich die Treppe hochzutragen.
Ich rannte immerzu dem Schatten der Puppe nach. Kaum eine handbreit schien er von mir entfernt zu sein. Ich packte und rief nach ihr, doch all mein Bemühen schien vergeblich.
Eine Zeit lang gelang es mir das Tempo aufrecht zu halten. Doch dann fingen meine Lungen an wie wild zu brennen und die Treppenstufen einem gewaltigen Berg zu gleichen, der endlos weit in die Höhe schoss. Ich wurde langsamer und verlor schließlich Marys Umrisse aus den Augen. Ein paar Schritte ging ich noch weiter, bis ich einfach nicht mehr konnte und mich schwitzend und keuchend gegen eine Wand lehnte.
Es hört… einfach… nicht auf..., schnappte ich keuchend nach Luft. Einer Puppe ohne Lungen konnte ich in Sachen Ausdauer nicht das Wasser reichen, nicht beim Erklimmen eines Turms, der bis in die Wolken ragte.
Ich schaute nach oben, doch da war nichts außer Stufen zu sehen.
Was jetzt? Die ganze Situation überforderte meinen Verstand. Aber es musste doch einen Ausweg geben. Irgendwie kam der Zauberer ja auch diesen verdammten Turm hoch! Oder etwa nicht?
Aber wie? Na…Ich stockte. Mit Zauberei. Was sonst?
Aber bedeutet das nicht…, dämmerte es mir, dass ich es dann nicht auch können müsste? Hatte Mary mir nicht gesagt, dass Dinge passieren könnten, wenn ich sie mir nur vorstellen würde? Winde, die mich nach oben trugen… so schnell wie ein Vogel. Ein Sog, der an meiner Kleidung zerrte... und mich über die Stufen preschte. Galoppierend durch die Luft… auf dem Rücken einer Sturmböe! JA! AUF DEM RÜCKEN EINER STURMBÖE! EINER STURMBÖE!
Ich spürte ihn. Den Wind.
Und es geschah. Es geschah wirklich! Auf einem unsichtbaren Strom wurde ich hinaufgetragen. Schnell, schneller, immer schneller sauste ich die Stufen empor. Mein Atem stockte, mein Herz raste. Ich spürte, wie durch meine Adern das Gefühl von Macht pulsierte. All die Möglichkeiten! Da waren sie! Wie schemenhafte Gegenstände, die plötzlich von glänzend hellem Licht bestrahlt wurden. Eine Geschichte, die in diesem Augenblick unter einer schwarzen Feder entstand und wenn ich sie nur etwas lenken, ihre Richtung nur etwas verändern würde… ja dann könnte ich… dann könnte ich…
Gewaltige Steinblöcke wurden aus der Wand gesprengt. Mit einer Explosion verlies ich die grauen Stufen der Wendeltreppe und flog unter freiem Himmel die Wand des Turms entlang. Ich war frei, losgelöst, erwacht in einem Traum und hatte erkannte, dass es mein eigener war. Da war nichts mehr, das mich aufhalten konnte, da waren keine Grenzen mehr, die mich beschränkten. Oh, dieses Gefühl! Es jauchzte in jeder Faser meines Körpers. Ich schrie und Donner grollte und Blitze zuckten durch die sich verdunkelnden Wolkenschwaden.
Unter mir… unter mir da lagen braune Länder aus Staub, graue Länder aus Nebel, aber hinter einem unsichtbaren Schleier sah ich eine Welt aus frühlingsgrünen Wiesen und himmelsblauen Bächen.
Ich hielt inne und erstarrte.
Es war so friedlich und… schön… doch nur für einen Moment. Dann ich erinnerte mich, dass es noch etwas zu erledigen galt.
Ich riss mich von dem Anblick dieses herrlichen Landes los und schaute hoch zur Spitze des Turms.
Ein Lächeln spielte sich auf meine Lippen, als ich Mary und dem Zauberer entgegenraste.


Krachend schlugen Blitz und Mensch eine Bresche in den Turm. Zum zweiten Mal an diesem Tag wurde das Gemäuer der Weltennadel mit zerstörerischer Gewalt zerschlagen. Ich platze mitten in die Szenerie, in der Mary mit wutentstelltem Gesicht die Spitze ihres bleichen Schwerts unter das vermummte Gesicht des Mannes hielt, der eindeutig der Zauberer sein musste. Einfach alles an ihm schrie nach Bösewicht. Er trug eine schwarze Kutte, die das Gesicht in tiefe Schatten hüllte, so das nur das Ende eines langen, grauen Spitzbarts hinausragte. Dazu hielt er einen blutroten Stab in der Hand, an dessen Ende ein dunkelblauer Kristall im Rhythmus eines schlagenden Herzens pulsierte. An seinen Fingern klebten drei Ringe, ein grinsender Totenkopf, eine sich windende Schlange und eine komplizierte geometrische Figur. Er legte wirklich keinen Wert darauf als rechtschaffender Herrscher aufzutreten.
Die Klinge an seiner Kehle schien ihn nicht weiter zu stören. Der Sturm peitschte durch das Loch, welches ich in die Wand geschlagen hatte, doch der Zauberer saß seelenruhig in seinem Thron aus dunklem Stahl und weißen Knochen, so als wäre er Herrscher über Zeit und Schicksal höchstselbst.
Ich schritt auf die beiden zu. Auf halbem Weg fing Mary an gegen Wind und Regen anzubrüllen, sie schien mich nicht bemerkt zu haben.
„DU HAST SIE ALLE UMGEBRACHT! DU! DEIN KRIEG! UND DEINE TYRANNENHERRSCHFT!“ Blitze tänzelten bei den Worten über die immer dunkler werdenden Wolken. Das, was sich dort am Himmel zusammenbraute sah schon lange nicht mehr nach einem ganz gewöhnlichen Unwetter aus. „JETZT WIRST DU FÜR ALLES BEZAHLEN! FÜR EMMRY, FÜR WOLF, FÜR GLOB UND ALLE, DIE AUF DEN STRAßEN DIESER STADT ELENDICH VERRECKEN!“
Sie streckte ihren Arm und spannte ihre Muskeln. Sie wollte zum tödlichen Stich ansetzen, aber es ging nicht. Man sah es in ihrem Gesicht, sie wollte es, wollte es unbedingt, mit verzweifelter Wut, aber ihr Arm blieb wo er war.
Da ertönte die Stimme des Zauberers, leise, kaum mehr als ein Flüstern, dennoch setzte sie sich mühelos über den lärmenden Sturm hinweg.
„Mary, mein kleines Püppchen, wo bleibt denn deine Willenskraft? Sieh mal, dein schönes Schwert zittert nicht mal. Steckt hinter deiner Wut am Ende doch nur der Hass auf dich selbst? Lähmt er deine Hand? Du hattest so viele Jahre Zeit deinen Zorn zu nähren, ist das alles, was du mir jetzt zu bieten hast?“ Ein schrilles Kichern drang unter der Kapuze hervor, gar nicht passend zu der ansonst so dunklen und rauen Stimme.
„ICH… WERDE DICH… ICH WERDE DICH…“ Ihr Arm begann zu zittern, doch ich erkannte sofort, dass es nicht an der Willensanstrengung lag das Schwert durch die Kehle des Zauberers zu stoßen, sondern es aufrecht in der Luft zu halten. Man sah die pure Verzweiflung in ihren Augen, in diesen gläsernen Augen, in der die lodernde Wut langsam zu erlöschen begann und Stück für Stück einem kalten und leeren Blick Platz machte.
„Deine Geschichte wiederholt sich, Alptraumschlächterin. Es scheint, als wärst du stets dazu verdammt in Rage alles, was sich dir in den Weg stellt zu vernichten, doch wenn es zum glorreichen Abschluss kommt, dann verlässt dich der Mut und du verkriechst und versteckst dich im Schatten der Geschichte, in der Hoffnung, dass niemand erahnt, was hinter deinen ach so unschuldigen Augen verborgen liegt.“ An der Stimmlage des Zauberers hatte sich kaum etwas verändert, dennoch wirkten seine Worte jetzt wie das Serum einer Schlange, welches den Verstand lähmen und vergiften sollte.
Und sie erfüllten ihren Zweck. Nur einen Moment später fiel das Schwert zu Boden und mit ihm sank auch die Puppe auf ihre Knie. Aller Lebenswille schien sie verlassen zu haben. So wie sie dort auf dem kalten Stein liegen blieb, völlig reglos und blass, glich sie fast einem Spielzeug, das ein kleines Kind vor langer Zeit in irgendeiner Ecke vergessen hatte.
Die Kapuze des Zauberers verweilte einen Augenblick lang auf Mary, dann wanderte sie zu mir hinüber. Schon sprach er mich an.
„Ahhhhh…“, es klang wie ein langer Seufzer. „Mein verehrter Gast. Endlich treffen wir uns… Ich sehe, dass du das Potenzial deiner Kräfte entdeckt hast. Es hat… etwas länger gedauert als ich es angenommen hatte.“
„Vielleicht,“, spie ich zu ihm durch den Raum, „vielleicht hätte ich sie schneller entdeckt, wenn mich nicht ein paar Scheren versucht hätten aus dieser Welt hinauszuschneiden!“ Ich war während des Gesprächs zwischen Mary und dem Zauberer irgendwo mitten im Raum stehengeblieben, jetzt legte ich energisch die letzten Meter zurück.
„Aber, aber. Woher kommt denn all dieser Zorn? Schließlich sind wir beide doch auf derselben Seite.“
„Auf derselben Seite?! Bist du nicht für das Elend auf den Straßen von Alpstadt verantwortlich? Hast du nicht Emmry, Glob und Wolf getötet? Auf der selben Seite… Du bist ein Tyrann und Mörder! Nichts weiter!“
Ich stand nun nur noch einen Sprung weit vom Zauberer entfernt, doch auch hier konnte ich nicht unter den Schatten der Kapuze blicken, aus dem jetzt wieder dieses unpassende und schrille Lachen erklang.
„Machst du dir ernsthaft Sorgen um diese Monster? Um diese… Alpträume? Hat der Hai, der den Fischer verschlingt denn das Recht gefüttert zu werden, sobald er wieder Hunger verspürt? Wohl kaum. Du trittst hier mit Anschuldigungen vor mich, aber weißt du, welche Kreaturen du hier zu verteidigen versuchst?“ Die Dunkelheit unter der Kapuze fixierte mich. War es eine Herausforderung oder das gespannte Erwarten auf eine Antwort?
Ich kam nicht darum herum erst einige Sekunden später eine Erwiderung geben zu können.
„Mir ist es egal, was diese Wesen sind oder wie man sie bezeichnet.“, sagte ich schließlich. „Wichtig ist nur, dass sie leiden. Und du bist für dieses Leid verantwortlich!“
„Bin ich das? So, so…  Ein Tyrann und ein Mörder, das hat man dir also über mich erzählt… verantwortlich für all das Schlechte, was in dieser Welt passiert. Aber sag mir mein junger Freund, hat man dir auch erzählt, was diese Kreaturen sich gegenseitig antun? Wie sie sich gegenseitig abschlachten? Dir ist doch sicherlich der Schlamm auf Marys Klinge aufgefallen...“
Es stimmte also, Mary hatte wirklich…
„Einer deiner miesen Zauber! Du hast sie in diesen entsetzlichen Zustand versetzt!“
„Hahahaha!“ Dieses Schrille, beinahe kindliche Lachen, es schepperte in meinen Ohren. „Ich bringe nur hervor, was sich tief in ihrem kleinen Puppenherz verborgen hält. Ich speise nur ihre unersättliche Wut, niemals habe ich ihre Gedanken kontrolliert! Die Kriege, die sie führte, die Wesen, die sie niederstreckte, es war stets ihr eigener Wille gewesen.“ Just in diesem Augenblick sah ich, wie sich eine madenähnliche Kreatur aus der Glaskugel windete, die Marys Auge bildete. Das Vieh schaute sich um und kroch dann langsam auf den Zauberer zu.
„Nur ein wenig Zunder, in einem bereits lodernden Feuer.“ Er streckte die Hand aus und ließ die Made unter seine Kutte krabbeln. „Die Alptraumschlächterin war stets ihr eigener Herr und Meister.“
Konnte das… konnte das wirklich sein? War Mary tatsächlich zu all dem fähig? Ich hielt mir das Bild der netten und freundlichen Reiseführerin vor Augen, dann, wie sie Glob und ihr eigenes Volk mit dem Schwert niederstreckte.
„Nein.“, sagte ich überzeugt. „Niemals würde sie so etwas ohne Fremdeinwirkung tun!“
„Mein Lieber Freund, du bist erst vor kurzem in unsere Welt gekommen, unrechtmäßig aus deiner eigenen entführt. Du weißt nicht, wer oder was diese Kreaturen sind. Manche mögen lieb und freundlich wirken, doch wenn die Nacht einbricht und sie in deine Träume eindringen… Sag, hast du niemals einen Alptraum gehabt, der so schrecklich, so furchteinflößend war, dass du schreiend in deinem Bett aufgewacht bist? Schreckliche Monster, die deine Liebsten verspeisten? Kreaturen, die dich in tiefsten Kerkern jagten? So dass du dich vor den Schatten in deinem eigenen Zimmer zu fürchten begannst? Hier kommen sie her! Das ist ihre Heimat! Und ich habe mir beschworen sie alle zu vernichten. Sie auszurotten! So, dass keiner sich jemals wieder in seinen eigenen Träumen fürchten muss. Vorbei sind die Zeiten, in denen man Angst vor der Dunkelheit der Nacht hat. Vorbei sind die Zeiten, in denen man sich unter seine Bettdecke versteckt. Nur noch schöne und angenehme Nächte wird es geben ohne die Tyrannei dieser furchtbaren Alpträume!“
Seine Stimme hatte an Lautstärke gewonnen. Es war kein Flüstern mehr, sondern glich hier und dort nun bereits einem fanatischen Rufen. Aber eine Sache dieser Rede war besonders an mir hängengeblieben.
„Unter… seiner Bettdecke verstecken?“ Langsam erschloss sich mir ein Bild. Das schrille Lachen. Dieses übertriebene Auftreten. Es wirkte… ja es wirkte beinahe wie aus einem… ja! Einem Kinderbuch! „Wie… wie ALT bist du denn?“
Augenblicklich kam der Regen mitten in der Luft zum Stillstand. Der Donner erstarrte, die Blitze erfroren am Himmel.
„Ich… ich bin so alt, wie die Sterne. Älter als die höchsten Berge! Ich war hier, bevor das Meer…“, setzte er im hoch herrschaftlichen Ton an, aber ich unterbrach ihn sofort.
„Nein. Nein, bist du nicht. Du bist ein kleines Kind… Ein kleines Kind, welches sich vor den eigenen Träumen fürchtet! Das steckt also hinter alle dem… Nicht mehr,“, ich lachte laut, „als ein kleines Kind!“
„ICH BIN KEIN KLEINES KIND!“ Mit unbeschreiblicher Wut setzten Wind, Regen, Donner und Blitz ihr vernichtendes Treiben schlagartig fort. „ICH BIN HERRSCHER ÜBER DAS REICH DER TRÄUME! ICH BIN DER GROßE ZAUBER, DER DIE WELT VON DER TYRANNEI DER ALPTRÄUME BEFREIEN WIRD! ICH BIN DER GOTT DIESER WELT! UND ICH WERDE NICHT RUHEN, BIS JEDE EINZELNE ABSCHEULICHE KREATUR VERNICHTET UND AUSGESCHLÖSCHT WORDEN IST!“ In seine Augen trat ein wildes Glühen und Flackern, das gleiche, welches bis eben noch Marys Augen bewohnt hatte.
„Du bist jämmerlich…“ Ich schüttelte den Kopf. „Du hast Angst vor deinen Alpträumen und willst sie deshalb vernichten. Nur, damit du dich ihnen nicht länger stellen musst.“
„ICH BIN NICHT…“ Aber schon schnippte ich mit den Fingern und der Sturm endete in einem stillen Rauschen.
„Du wolltest, dass nur die schönen Wesen die Menschen besuchen.“ Ich trat näher an ihn heran, doch blieb dabei ganz ruhig. „Du wolltest, dass die schrecklichen Wesen, die Alpträume, langsam aber sicher dem Hungertod erliegen, dafür hast du ihre Verbindung zu unserer Welt gekappt.“ Ich erinnerte mich an das Gespräch im Wald mit dem tanzenden Pilz. „Nein, dazu bist du gar nicht fähig… Du hast die Träume versickern lassen und sie so den Alpträumen entzogen. Aber zuvor hast du die Wesen dieser Welt durch einen Krieg entzweit. Die Weltennadel dient dazu die schönen und süßen Träume von den Alpträumen zu separieren, so dass du diese langsam aber sicher in die Vernichtung treiben konntest. Ist es nicht so?“
„MEINE SACHE IST GERECHT!“ Er schrie, doch seine Worte hatten kaum noch den Nachdruck und die Selbstsicherheit wie zuvor. „Wer mag schon Alpträume? Niemand! Die Welt wäre besser ohne sie! Stell es dir doch vor! Nur noch schöne Träume! Wie das nur wäre… Jede Nacht ein wahres Paradies!“
„Und wenn wir aufwachen?“, erwiderte ich. „Was würden wir sehen? Eine Welt, so viel trister als unsere Träume. Sehnsüchte, die nie gestillt, Wünsche, die nie erfüllt werden könnten. Wir brauchen die Alpträume, nur so können wir lernen mit unseren Monstern zu leben.“
„Nein! Die Nacht ist ein Ort der Ruhe und der Erholung! Wo man dem Alltag entfliehen und seinen Gedanken hinterher schweben kann! FREIHEIT und GRENZENLOSIGKEIT! Die Nacht ist der einzige Ort an dem man… an dem man…“ Seine Stimme brach in sich zusammen und begann zu zittern. Sie wirkte mit einem Schlag viele, viele Jahre jünger und auch so viel verzweifelter. „… dem grausigen Tag entfliehen kann. All dem Schrecken, all dem Grauen… endlich… entfliehen…“
„Falsch!“ Ein bleiches Schwert bohrte sich durch die Brust des Zauberers.  „WIR sind die Nacht!“ Die Puppe ließ ihre Klinge tief in seinen Körper gleiten. „WIR gestalten, WIR beleben sie! Deine Ideen haben hier keinerlei Bedeutung.“ Sie stach den Zauberer soweit auf, dass sich ihre Gesichter beinahe berührten. „Die Tage DEINER Herrschaft sind vorbei!“
„Mary! Nein!“, schrie ich, als ich das Blut von der Klinge tropfen sah. „Was hast du getan?! Er war doch nur ein Kind!“ Aber es war zu spät.
Mary schaute regungslos auf die in sich zusammenfallende, schwarze Kutte.
„Vielleicht in deiner Welt.“, antworte sie ohne einen Hauch von Mitleid. „Aber nicht in unserer.“
Der Stab fiel dem Zauberer aus der Hand, die Ringe rutschten ihm vom Finger. Langsam trat ein schmales Gesicht unter der Kapuze hervor. Er sank in sich zusammen und Mary ließ ihn von ihrer blutroten Klinge rutschen.
„Ich wollte doch nur… ich konnte doch nicht…“, hauchte der Mann, der nun die Gestalt eines elfjährigen Kindes annahm. „Ich konnte doch nur nicht mehr ihre Gesichter ertragen! Am Tag und auch in der Nacht…“ Tränen quollen aus seinen Augen. „Wenigstens an einem Ort…“ Er stockte. Kaum mehr als ein Flüstern drang jetzt noch aus seiner Kehle. „… nur an einem Ort wollte ich sicher vor ihnen sein…“
Mit einer letzten Anstrengung hob er seine Hand und befahl somit den Wolken sich aufzulösen. Der Sturm verschwand, Wind und Regen zogen gen Horizont. Doch der Zauberer starb noch bevor der Himmel im hellem Blau erstrahlen und er einen letzten Blick auf das Land seiner Sehnsucht, auf das Land jenseits der Alpträume erhaschen konnte.
Bebenden Herzens und mit zitternden Händen stand ich da, abwechselnd zu Mary und dem toten Zauberer hinüberstarrend.
„Du hättest…“ Ich schluckte einen dicken Klumpen in meinem Hals hinunter. „Du hättest ihn nicht töten dürfen! Er war doch nur… er war doch nur ein Kind…“
„Und ich will nur meine Welt und mein Volk beschützen.“ Sie drehte sich zu mir um. Da lag kein Funkeln in ihren Augen, nur der matte Glanz einer Kugel aus Glas.
„Du bist also wirklich das Monster, für das er dich hielt. Wenn dir jedes Mittel recht ist, um an dein Ziel zu gelangen…“
Ich ließ die Schultern sinken und wendete mich von der Puppe ab. Da begann sie lauthals zu lachen.
„Ihr Menschen, ihr könnt es einfach nicht begreifen. Hier in dieser Welt gibt es keine Monster. Hier ist nichts einfach bloß schwarz oder weiß, auch wenn es so vieles für euch einfacher machen würde. Alles hier speist sich aus euren Ängsten, Sehnsüchten und Wünschen. Wie ihr uns auch beschreibt, wie auch immer ihr uns nennt, am Ende sind wir immer das, was ihr von euch selbst in eurem tiefsten Innern seht.“ Noch während sie die Worte sprach verdunkelte sich der Himmel.
„Dieser… Mensch wollte über unsere Welt regieren. Immerzu wollt ihr die absolute Kontrolle über uns erlangen und es endet immer gleich. Ich danke dir für deine Hilfe in dieser Sache, doch du darfst nie vergessen…“ Und schon stürzten sich dutzende schwarzgefiederte Eulen wie aus dem Nichts auf mich hinab. Sie griffen und zogen mit messerscharfen Krallen an jeder Faser meiner Kleidung. Ich kämpfte dagegen an, wehrte mich mit jedem Muskel, doch der Schwarm krachte wie eine Flutwelle über mich hinweg, so dass ich im nächsten Moment nichts als Schwärze sah.  
„Du darfst nie vergessen; Wir sind die Nacht! Und ihr könnt uns niemals bezwingen.“

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 14.05.2021. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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