Ingrid Baumgart-Fütterer

Der Engel der Liebe lässt Wünsche wahr werden

Es war einmal ein Mann namens Kaspar, der von seinen Mitmenschen zutiefst enttäuscht war. Daraufhin suchte er die Abgeschiedenheit, um mit sich ins Reine zu kommen. Er wanderte Tag und Nacht durch einen finsteren Wald bis er erschöpft
am Fuße eines Berges in sich zusammensank. Zwischen verfilzter Kappe und zerzaustem Bart starrten Kaspars Augen auf den Eingang der Höhle, von der er sich stark angezogen fühlte. Beim Betreten spürte er den Frost, der den Stein von den Wänden sprengte, bis ins Knochenmark. Die Höhle, für andere Menschen ein unwirtlicher Ort, war für Kaspar in seiner Verfassung die richtige Herberge.
Sieben mal zwölf Monde gingen ins Land. Kaspar hauste noch immer in seiner nachtschwarzen, eiskalten Höhle. Seine Nase war von Frostbeulen entstellt und sein Mund vom ewigen Schweigen fest verschlossen. Unter seinem Bärenfellmantel lugten Felllappen
hervor, die seine zerschundenen Füße mehr schlecht als recht zu wärmen vermochten. Seiner vereinsamten Seele näherten sich bereits die Schatten des Todes. Nur die Fledermäuse leisteten ihm Gesellschaft.
Als er eines Morgens erwachte, schleppte er sich, wie von unsichtbarer Hand geführt, bis ans Ende der Höhle. Dort flackerte ein Feuer, über dem  in einem verrußten Kessel eine Wurzelsuppe brodelte. Sogar ein Schöpflöffel war beigelegt. Er traute seinen Augen nicht. Als er davon kostete, wurde ihm wohlig warm ums Herz. Die Herzenswärme breitete sich bis in seine Zellen aus und taute ihn innerlich auf. Nie zuvor hatte ihm eine Suppe köstlicher gemundet.
"Mir ist, als schwebte ein Engel durch den Raum, der mich mit seinen Flügeln sachte streift", ließ Kaspar mit brüchiger Stimme andächtig verlauten. "Dein Gefühl trügt dich nicht. Ich bin gekommen, um dir beizustehen," flüsterte eine sanfte Stimme, die sein Herz berührte. Plötzlich erschien ihm ein Engel in einem Sternenkleid, das die Höhle bis in den letzten Winkel in ein goldenes Licht tauchte. Seine prachtvollen Flügel leuchteten wie Bergkristall. Ungläubig rieb er sich die Augen. War dies ein Traum oder Wirklichkeit?
"Kaspar, du hast drei Wünsche frei. So sprich, was du begehrst!" Mit rauer Stimme antwortet er: "Ich habe nur einen einzigen Wunsch, führ mich ins Leben zurück." "So sei es!" Der Engel nahm ihn bei der Hand und führte ihn durch den tiefen Wald über einen unendlich langen Steg, unter ihnen tosendes Wasser. Die Jahreszeiten wechselten, als sie am Fuße eines majestätischen Berges angelangten. Je höher sie den Berg hinaufstiegen, desto lebendiger fühlte sich Kaspar. Als er sich gerade fragte, wohin der Weg wohl führen würde, sprach der Engel: "Kaspar, bald bist du überm Berg".
So verging die Zeit. Inzwischen stand die Sonne im Zenit. Kaspar verspürte brennenden Durst und wie von Zauberhand sprudelte eine Quelle aus dem Gestein. Voller Gier ließ er seine Kehle von dem köstlichen Nass durchströmen. Dann wusch er sein erhitztes Gesicht. Verheißungsvoll lächelte der Engel. Als er aufblicke, spiegelte sich sein Gesicht im transparenten Glanz der Engelsflügel.
Nun sah er sich mit anderen Augen. Er erblickte den Kern seines Wesens, der vom göttlichen Funken durchleuchtet war. In seinem Inneren öffnete sich die Tür, die all die Jahre sein Herz verschlossen hielt. Endlich konnte die Stimme seines Herzens an sein Ohr dringen.
Ehe er sich besinnen konnte, entschwand der Engel mit den Worten: "Kaspar, nun bist du auf dem richtigen Weg. Die Weisheit deines Herzens wird dich leiten." Allein mit sich selbst, vertraute er fortan  seiner inneren Führung. Selbstsicher und frohen Mutes setzte er seinen Weg fort. Nach einer Weile spürte er eine Kinderhand in der seinen. Das Gefühl war ihm nicht fremd, im Gegenteil, es war ihm höchst vertraut. Es stieg aus der Tiefe seines Herzens auf und belebte die Erinnerung an das Wesen dieses göttlichen Kindes. Er nahm sich dessen freudig an. Plaudernd und lachend erreichten beide wohlbehalten die Stad, in deren lebhaftes Getümmel sie eintauchten. Sie blieben sich in inniger Treue verbunden und wenn sie nicht gestorben sind, so leben sie noch heute.

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