Karl-Konrad Knooshood

Deutschsprachige Musikwunder 14 - Buchstabe D 138 bis D 152

 


 

 

  1. DIE ELENDEN – "Popstar" (2003)

In Zeiten entstanden, in denen gerade die erste Staffel DEUTSCHLAND SUCHT DEN SUPERSTAR, einem Ableger von Formaten aus dem englischsprachigen Raum (u.a. "America's Got Talent") im deutschen Fernsehen lief (auf dem jetzigen "Familiensender" RTL), thematisiert es natürlich was, dieses Lied einer PUNK-Band, die sich nach einem dramatischen, tragikomischen Roman von VICTOR HUGO "Les Misérables" (ins Deutsche übersetzt) benannt hat? Natürlich den Starrrummel, den Hype um die vielen jungen Leute, die, in der Mitte der 2000er, zum Teil perspektivlos (natürlich längst nicht alle) versuchten, sich bei der Casting-Sendung DSDS zu bewerben. Eine Zeitlang war es wie eine Seuche: Sie schossen wie Pilze aus dem Boden, an jeder Ecke, gefühlt, machte eine Casting-Sendung auf – wie heutzutage Moscheen und anderweitige DITIB-finanzierte islamische Gebetshäuser. Auf SAT1 gab es STAR SEARCH, die ÖR konterten mit einem vermeintlich "seriösen" Format, PRO 7 ging mit POPSTARS an den Start… Das große Showsterben dieser Formate überlebte schließlich DSDS bis heute (2021), auf PRO 7 entstand noch THE VOICE, das es leider auch für die Kleinsten gibt inzwischen: THE VOICE KIDS. Auf RTL gibt’s, neben DSDS, das immer noch beliebte Format DAS SUPERTALENT, auch ein Ableger irgendeiner englischen Show, aber ein guter. Dank DIETER BOHLEN und BRUCE DARNELL extrem unterhaltsam. Bisher.

Nun, das Popstar-Dasein wurde immer schon ironisch aufgebrochen und in seine Einzelteile zerlegt. Lange Zeit, bevor die großen Bigplayer-Labels der Musikindustrie ihre Castings partiell ins Fernsehen auslagerten, gab es auch schon zusammengesetzte Bands, etwa die Boygroups, eine umstrittene Erscheinung der 90er-Jahre-Populärmusik.

Über die auf den Musikvideokanälen damals stark gepuschten Popstars, teils auch die wirklich weltweit Erfolgreichen, wurde viel gespottet und, sicherlich nicht immer neidfrei, argwöhnisch-kritisch gesungen: "Popstar (Goes Home)" von SELIG ist ein weiteres gutes Beispiel für ein Lied, das die Zustände im harten und künstlichen Popbusiness beleuchtet. Es befindet sich weiter unten in dieser Topliste – und ich empfehle es ausdrücklich. "Gott ist ein Popstar" von OOMPH! hingegen ist eher ein nichtblasphemisches Lied über die Position, die Gott zumindest in einigen Kirchen noch hat, nämlich die eines von Millionen heroisierten und verehrten Populärstars. Ja, dieser Typ im Lied schätzt sich selbst wesentlich realistischer ein als Massen von mehr oder weniger schillernden Selbstdarstellern im unreifen Jugendkörper und mit noch nicht gefestigtem Charakter: Er kann weder singen noch sieht er (für Popproduzenten "verwertbar") gut oder gar geil aus, Tanzen liegt ihm auch nicht, auch ist er nicht dumm genug fürs Popgeschäft – oder zumindest lediglich mit einer strategischen Schläue gesegnet, die einen im Popzirkus weiterkommen und durch jeden Reifen des Produzenten springen lässt. "Ich passe einfach nicht in euren Rahmen" stellt er resigniert fest. "Und keiner bringt mich ganz groß raus" – resümiert er von Anfang an.

Viele scheiterten vor der Jury des DIETER BOHLEN bei DSDS – oder der der POPSTARS oder später THE VOICE-Experten, nicht wenige, obwohl sie geil aussahen und zumindest tanzen konnten. Passabler bis sehr guter Gesang war nicht zwangsläufig ein Garant fürs Weiterkommen – oftmals ging es nach "Verkaufbarkeitskriterien". Tja, ich würde meinen Kindern dieses Lied dann vorspielen, sollten sie jemals drauf kommen, sich bei einer solchen Sendereihe zu bewerben und sich im Fernsehen zum Affen zu machen. Vielleicht kuriert es einen – wenn man mal ein wenig in die realistische Selbsteinschätzung geht. Lieber einen normalen Beruf erlernen oder irgendeine Tätigkeit tun, schließlich wird in allen Bereichen jemand gebraucht, und der muss selten einfach nur trällern können.

 

  1. DIE FANTASTISCHEN 4 – "Die da?!" (1992)

Ein frischer, schöner Sommer-Sonnentag im Jahre des Hörrn 1992: Deutscher Hip-Hop/Rap (Rhythm And Poetry) war geboren. Nach einiger Verspätung, denn die ersten US-amerikanischen Rapper gab es bereits in den frühen 70ern, das erste kommerziell erfolgreiche Lied dieser Art war das der SUGARHILL GANG und hieß passenderweise "Rapper's Delight", also "Des Rappers Wonne". Und welch Wonne: Mit etwa zehnjähriger Verzögerung fing es, gegen Ende der 80er, auch in Deutschland an, mit BLUMENTOPF, einer im Nachhinein bedeutungslosen Combo – und den FANTA 4, wie ich sie abgekürzt gern nenne. Letztere waren frischer als BLUMENTOPF und das gleichnamige Limonadengetränk zusammen und brachten Hip-Hop, clever auf Deutsch gerappt, zum kommerziellen Erfolg und in die Charts. Zunächst mit diesem noch eher naiven, unbedarften kleinen Lied. Nachdem das erste Album "Jetzt geht's ab!" nicht über Hip-Hop-Kennerkreise hinausgegangen war und keinen Hit abgeworfen hatte. Album 2, "Vier gewinnt" brachte dies hervor! Dies Lied: Es handelt von einer modernen 90s-Frau: Diese ist promiskuitiv unterwegs und gönnt sich gleich mehrere Liebhaber, weshalb sie "freitags nicht kann". Zwei Freunde, nämlich zwei der drei Rapper bei den vier FANTAS (der vierte ist der M.C., also für die Soundeffekte und das Soundkostüm jedes Liedes zuständig, also die musikalische Basis), erzählen sich jeweils begeistert von ihrer neuen "Flamme". Dann erblicken sie die Dame plötzlich beide – und ihnen wird klar (einer der überraschendsten Plot-Twists der deutschen Musikgeschichte nach UDO JÜRGENS' "Paris, einfach so nur zum Spaß"), dass sie beide dieselbe Freundin haben, die, just in dem Moment, in dem sie beide sie erspähen, bereits mit einem dritten Typen rumflirtet und rumläuft. Es ist erstaunlich. Dieser noch relativ radiotaugliche Song war der Urknall, auch wenn BLUMENTOPF irgendwie schon im Untergrund die Zündung vorbereiteten. Das erste deutsche Hip-Hop-Lied von Chartrelevanz, historisch also bedeutsam, fiel mir schon als kleinem Bengel positiv auf. Lerne den Rap! Lerne das Rappen! Könnte es heißen. Heute wäre dies der Start für ein fantastisches DIY. Der Satz "Freitags ist sie nie da" indes wurde schon fast zum geflügelten Wort, zu dem bekanntesten Liedzitat.

 

  1. DIE FANTASTISCHEN 4 – "Ernten, was wir säen" (2007)

2007 – und auf "Fornika", ihrem siebten Album, hatten die Pioniere und Götter des deutschsprachigen Hip-Hop es nicht mehr nötig, nur reinen Hip-Hop nach Schema F zu produzieren. Wie immer schon, seit ihrem ersten Album und ihren noch naiv-jungen Soundexperimenten und kreativen Klangspielereien und dem cleveren Einsatz von Sampeln aus Film/Fernsehen und anderen Medien, nachdem sie sich, erfolgreicher als jede andere Hip-Hop-Formation bis dato, nachdem sie schärfste Konkurrenten, von denen sie früher immer gedisst worden waren, locker sowohl kommerziell als auch künstlerisch hinter sich zum Siechen zurückgelassen hatten und einmal mehr das klassische Sprichwort "Totgesagte leben länger" bestätigten, gingen sie nicht nur mit diesem Lied etliche Schritte weiter. Seit ihrem Debütalbum "Jetzt geht's ab!", das leider noch keinen veritablen Hit wie "Die da?!" hervorgebracht hatte (siehe oben; "Die da?!" ist vom zweiten Album "Vier gewinnt"), hatten sie sich nicht nur schwerer Psychedelic, sondern inzwischen einer Art "Schweinerock" zugewendet. Letzteren bieten sie rein soundtechnisch hier, wenngleich man sich denken kann, dass das seltsame Getöse kaum wirklicher E-Gitarren-Arbeit entsprungen sein kann. Zu einem flinken Beat, eher Rockriff wird ein Text gesungen, in dem sich jedes Wort zweimal hintereinander wiederholt. Es geht um Anstrengung, Leistung und Errungenschaften, um das Erreichbare und Unerreichbare, die Erwartungen vom Leben, die oftmals nicht erfüllt werden. Um den Sinn überdies, der in dem Ganzen steckt oder stecken könnte. Es ist schwer zu sagen. Eines der dennoch stärksten Lieder der FANTAs.

 

  1. DIE FANTASTISCHEN 4 – "Es wird Regen geben" (1992)

Bedrohliche, verfremdete Trompetenklänge erklingen, ein tiefer, unheimlicher Ton – wie in einem Film. Zu diesem bedrohlichen Hörszenario gesellt sich auf einmal eine Stimme, die, gruselig im Unterton, spricht: "Und was wäre, wenn es auf einmal anfangen würde zu regnen – und keine Regentropfen vom Himmel kommen, sondern…" – Hier bricht die geisterhafte Stimme ab – und hinterlässt den Hörer mit einem unguten Gefühl in der Magengegend, Gänsehaut inklusive. Verhärmte Flötenklänge, ebenfalls tief auf Moll gestimmt, ertönen, dazu setzt ein diffuser, zischeliger Hip-Hop-Beat ein, dynamisch aber eher dunkel. THOMAS DÜRR, abgekürzt zum Künstlernamen THOMAS D., fängt zu rappen an, Erste-Person-Singular-Erzähler, eine Geschichte, wie er zunächst gedächtnislos in einer Art Amnesie in seinem Bett aufwacht und sich die klassischen Fragen zu stellen beginnt, wie sie ein aus dem Koma der letzten Sauferei aufwachender Alkoholiker, der sich erstmal sammeln muss. Weiter rappt er, wie er Menschen begegnet, etwa einem Untergangspropheten (womöglich) ohne festen Wohnsitz, ein "Bekannter", der ihm vom Weltenende erzählt – und davon, dass etwas grundlegend falschläuft in der Welt. Wie ein Prediger im Stile JESU spricht und spricht er, in Symbolen, Metaphern und Gleichnis-Artigem. Der Erzähler reagiert verständnislos und aggressiv darauf wie ein Nicht-wahrhaben-Wollender, wie ein kleines Kind, das sich die Ohren zuhält und "Lalala, ich höre nichts!" kreischt.

"Der Stillstand ist der Tod" – später wird GRÖNEMEYER (siehe dort) in "Bleibt alles anders" diese Weisheit aufgreifen und weiterentwickeln. Doch für den Ich-Erzähler im Lied sind all diese Informationen oder Erläuterungen einfach zu viel, er kann und will sich nicht auf die logischen Darlegungen einlassen. Doch im weiteren Songverlauf sieht er die tiefere Wahrheit hinter den Worten des "Bekannten" ein: Es ist die Ignoranz der Menschen, die Nicht-Hilfsbereitschaft. Das angebliche "Bäuche voll – Köpfe leer". Und im Grunde: Jeder könnte in die Situation eines Obdachlosen, Armen, Gescheiterten kommen - irgendwann. Klar: Es wird sich einfach gemacht, es gibt viel mehr Facetten. Doch es ist ein Anfang. Und es ist unheimlich, gruselig, wie es sein sollte. Kein einfaches Lied, trotz fehlenden Feinschliffs, was die Facetten anbelangt, anspruchsvoll alle Male. Nichts fürs Nebenbei-Hören. Kein Easy Listening. Am Ende verhallt alles wiederum im ewig unvollendeten Satz: "Und was wäre, wenn es auf einmal anfangen würde zu regnen – und kein Regen vom Himmel kommt, sondern…sondern…sondern…"

 

  1. DIE FANTASTISCHEN 4 – "Lass die Sonne rein" (1992)

Immer diese Sommerhits! Dass nichts erst in den mittleren 2000ern hippe deutschsprachige Sommerhits am Start waren (siehe BUDDY VS. THE WAVE, etwas weiter oben), beweist diese verspielte Nummer mit karibisch anmutenden Trompetensamples und einem entspannten Beat, effektiv zusammengesetzt von AND Y, dem DJ und MASTER OF THE CEREMONY (MC) unter den vier Fantastischen. Wie damals typisch für die VIER, gespickt mit Audioausschnitten aus Filmen und anderen Effektschnipseln, kommt hier die vollkommene Stimmung auf: Man möchte sich direkt einen kühlen Drink schnappen, lässig mehrere dicke Eiswürfel aus dem Gefrierfach hineindroppen und dann ohne zu stoppen dran nippen (selbstverständlich "vornehm" durch einen schönen Strohhalm aus buntem Plastik), während man sich, voll seliger Ruhe, wippend im Liegestuhl am Strand entspannt, buhlend um der Sonne schönste Strahlen, nur ein wenig vom Mini-Sonnenschirm "abgeschirmt". Ähnlich wie schon THOMAS D.s Beitrag zur "Deutschen Reimachse" (Die Kollabo: siehe etwas weiter oben) geht es hier um positives Denken und darum, in jeder Lebenslage die Sonne ins Herz zu lassen (ähnlich der GRUPPE WIND: "Lass die Sonne in dein Herz") und nicht miesepetrig mit Mundwinkelsenkung herumzulaufen. Nicht der falscheste Lebensratschlag.

 

  1. DIE FANTASTISCHEN 4 – "MfG" (1999)

Wenig wahrscheinlich, dass es ein derartiges Lied bereits gegeben hat. Wie noch nie zuvor im Bereich Hip-Hop/Rap, in keiner Sprache – außer seitdem Deutsch – wurde hier ein Lied kreiert, das von Abkürzungen lebt: Die gängigsten, verrücktesten und bekanntesten Abkürzungen, angefangen beim Titel, der "Mit freundlichen Grüßen" heißt und eine Standard-Grußformel am Ende von Geschäftsbriefen ist (mittlerweile gern auch verkürzt zu "Freundliche Grüße"), kommen vor und werden in Querverbindungen und logische Konsistenzen eingeteilt, akustische Verlinkungen sind also gegeben. Ein cooler Beat zum Mitwippen, ein spannendes Intro (ein Herr spricht: "Nun, da sich der Vorhang der Nacht von der Bühne hebt, kann das Spiel beginnen, das uns vom Drama einer Kultur berichtet!"), ein mehrdeutiger, weiser Refrain (den angeblich FREUNDESKREIS-Mastermind MAX HERRE textlich beigesteuert haben soll), der ins Ohr, in die Beine und ins Gedächtnis geht. Mehr braucht ein genialer Song mit einer spezialgelagerten Sonder-Idee als kreativem Einfall, eines der besten Lieder der Musikkultur überhaupt, weltweit, aber auch und vor allem der deutschen Sprache. Man kann eben mehr draus machen als schwülstige Liebeslieder voller Pathos und peinlicher Simplizität. Absolut superduperspitzengut!

Doch nun zum heiteren Abkürzungs-Raten: Kannst DU sie alle erkennen? Kannst DU sie alle nennen? Kennst DU ihre Bedeutung?

 

  1. DIE FANTASTISCHEN 4 – "Michi Beck In Hell" (1999)

Ihr fünftes Album nach vier langen Jahren Schaffenspause hieß schlicht 4:99. Es sind die FANTASTISCHEN VIER (römisch: IV), die im Jahre des Herrn 1999 ein neues Album herausgeben…Das Cover ziert ein alter Digital-Radiowecker, der in rotleuchtenden Ziffern die irreale Zeit 4 Uhr 99 (4:99) anzeigt, daneben eine schicke Brille, die nicht zwangsläufig mehr als Style ist, die wohl weniger wahrscheinlich aus Sehhilfe dient.

Wie schon vier Male vorher, waren die FANTAs auf dem Höhepunkt ihres künstlerischen, irre kreativen Schaffens – und nach "MfG" (siehe direkt hier drüber) lancierten sie gleichzeitig drei (!) weitere Single-Auskopplungen vom neuen Album in die Charts. Die Besonderheit: Jeder der drei Rapper (der vierte FANTA ist ja MC und DJ AND Y) brachte eine eigene, eigens von ihm allein gerappte Nummer heraus. THOMAS D. (DÜRR) war mit "Buenos Dias, Messias" am Start, sein Kollege SMUDO (bürgerlich: BERND MICHAEL SCHMIDT) mit "Le Smou" – und schließlich der dritte im Bunde, MICHAEL (MICHI) BECK mit "Michi Beck In Hell". Der englische Titel samt Wortspiel mit "back" ("zurück"/"rück-" etc.) täuscht nicht darüber hinweg, dass es ein lupenrein deutsches Lied ist, mit den üblichen Fremdausdrücken aus dem Englischen, klar. Von diesen drei Nummern ist "Michi Beck In Hell" meines Erachtens die beste. Auch wenn im Musikvideo zu "Buenos Dias, Messias" Interessantes aber auch Verstörendes zu sehen war: Die vier Bandmitglieder gingen, mit wie Banditentücher vor ihre Mundpartien gezogenen Masken (damals noch keine Infektions-"Schutz"-Masken), auf denen jedoch jeweils ihr Künstlername stand, begaben sich in damals noch kaum gesicherte Fernsehstudios, in denen diese unsäglichen Krawall-Nachmittagstalkshows (auf SAT1 und RTL, PRO SIEBEN und Co.) liefen – und filmten mit kleinen Camcordern mit, was sie sahen, konfrontierten Moderatoren auch damit. Es gab einen kleinen Skandal darum, weitestgehend verlief aber alles im Sande, niemand kam ernsthaft zu schaden, niemand wurde verletzt. Wer auf YOUTUBE den Titel "Buenos Dias, Messias" eingibt und vielleicht den Zusatz ("Musikvideo" oder einfach "Video"), da sieht man solche Szenen – und andere Videosequenzen aus aller Welt, eine Art Zusammenschnitt des weltweiten Wahnsinns, ungefähr sechs Jahre, bevor es YOUTUBE & Co. überhaupt gab. "Le Smou" war eine solide Nummer – mehr nicht. Die drei Rapper wollten dann herausfinden, welche ihrer Singles in den Charts am meisten reüssieren würde. "Michi Beck In Hell" ist der düsterste Track: Er thematisiert eine Urangst eines jeden erfolgreichen Sängers, Rappers und Künstlers überhaupt. Das Vergessen der Öffentlichkeit. Das In-Ungnade-Fallen bei den Fans, der Absturz und Abstieg, sei er durch Drogenmissbrauch, produzierte persönliche Skandale oder private Tragödien oder sogar begangene Verbrechen bedingt, schwingt immer mit. Die Angst ist immer da. Dementsprechend sind auch viele Stars bereits tierisch abgestürzt – einige der besten, die es je gab, sind nicht besonders alt geworden und waren selten oder nie glücklich. Ich denke, ich brauche keine der größten Namen aufzuzählen…

MICHAEL BECK, "MICHI", malt sich in klug konstruierten Raps eine Abstiegsgeschichte, ein Drama, aus, allerdings mit Klimax – und am Ende der positiven Auflösung, eine Art "Reset", die Rückkehr zum Ausgangspunkt.

Ich erinnere mich noch an das Making-Of, das ich vom Musikvideo sah: Ungefähr in seinem Mittelteil, wo auch im Liedtext das Ende des Protagonisten folgt (der Rapper verreckt elendig in winterlicher Kälte auf der Straße), sieht man im Video eine Beerdigungsszene, bei der einige der damals bekannten deutschen Rapper einen Sarg tragen wie auf einer Trauerfeier, unter ihnen auch die drei Herren von FETTES BROT (siehe etwas weiter unten), von denen einer im Making-Of sagte, die FANTASTISCHEN VIER werden sich durch diese Aktion, gleichzeitig drei Singles in den Charts zu haben und damit zu dritt in Konkurrenz zueinander stehend, langfristig auseinanderleben werden, dass sie im Streit untergehen werden, so ähnlich drückte der Typ es aus. Weit gefehlt! Wiedermal hatte jemand, wie andere Rapper vor ihm in Rapsongs den Mund zu voll genommen – Totgesagte leben mal wieder länger. Die FANTASTISCHEN VIER gibt es bis heute, letztes Jahr (2020) feierten sie ihr dreißigjähriges Jubiläum…Zwar existieren auch FETTES BROT immer noch, aber mal ehrlich: Mit weit geringerem Erfolg. Die meisten anderen großkotzigen Rapper der alten Ära sind jedoch verschwunden, etwa die von 3P RECORDS…

 

Nun, wir haben es mit einem Lied zu tun, das zunächst einen kräftigen Hip-Hop-Superbeat sein Eigen nennen kann, der von vornherein mit allerhand elektronischen und akustischen Effekten gespickt ist. Der langsame (fiktive) Verfall des Rappers (MICHI BECK) wird minutiös in mehreren Strophen dargestellt: Von seinen Eskapaden, sich immer dekadenter und vermessener Penthouse-Etagen zu gönnen, Geld, Weiber und Gesang, zu protzen, prahlen, prassen – und seine künstlerische Arbeit bei den FANTASTISCHEN VIER zu vernachlässigen. Die anderen Drei beschließen dann, ihn rauszuwerfen, was der Anfang vom Ende ist. Er gerät tief in Schulden, seine Frau verlässt ihn, er verliert seinen gesamten Besitz, landet auf der Straße, findet "neue Freunde" in Flaschen ("Es gibt kein richtiges Leben in Flaschen", GUNNAR KAISER), trinkt viel von ihnen – und stirbt elend und verlassen. Schon hier zeigt sich eine Stärke des Liedes: Jede Menge Selbstreferenzen auf alte FANTA-VIER-Lieder der ersten vier vorherigen Alben sind für Fans (sog. "Fanservice") zu finden: "Hast du kein Auto – und hast du kein Haus – dann hast du keine Frau – und so sieht's aus!" zum Beispiel ist eine Referenz an ein altes von THOMAS D. geschriebenes Hip-Hop-Lied der Band, "Sie sei weg, um mit jemandem anderen zusammen zu sein – und ich war wieder allein, allein" spielt auf das bis dato erfolgreichste Lied der Band an, das von MICHAEL BECK geschriebene Ohrwurm-Verlassenwerden-Stück "Sie ist weg" (siehe weiter unten). Und noch mehr.

 

Der wahre Höhepunkt folgt jedoch erst, als Herr BECK nach seinem Ableben überraschenderweise nicht automatisch im Himmelreich Gottes, sondern der Hölle landet, wo ein gewisser SATAN das Sagen hat! Dieser Augenblick im Lied, diese Sequenz, die grande-finale Strophe, ist die emotional erheblich ergreifende: Eine alte Horrormelodie aus einem alten Film setzt als unheimliches Endlos-Sample ein, verhärmte, unheimlich unheimliche Schreie des Grauens und der Höllenqual setzen ein, bestimmen den Hintergrund und erzeugen einen gepflegten Grusel, als hätte man versucht, ein EDGAR-ALLAN-POE-Gedicht oder eine Kurzgeschichte des Meisters des literarischen Grusels zu vertonen!

Da tritt Herr BECK dem Teufel in Personalunion entgegen: Dieser bringt ihm, schonungslos, mit Monsterstimme, bei, was jetzt Sache ist: "Herzlich willkommen am Arsch!" – Doch es gibt einen Ausweg: SATAN wäre nicht SATAN, gäbe er nicht jedem Delinquenten, der bei ihm in der Hölle ankommt, eine "lächerlich klein" seiende Chance, dem Ganzen wieder zu entkommen.

MICHI BECK muss nicht lang überlegen: "Gegen meine Geheimwaffe konnte er einpacken". Er wird sich freirappen. Er fordert den Teufel zu einem Battle-Rap heraus, zu einem Duell der Sprache und Reim-Geschicklichkeit – und SATAN ist auf einmal Mr. Chancenlos: "Ich spuckte 666 Styles – binnen kürzester Zeit – legte ihn aufs Kreuz in höllischer Geschwindigkeit – pumpte Reim für Reim – wie Blei in ihn hinein – mit jeder Punchline – verschwand sein – Widerstand wie von allein!"

Und am Ende steht BECK, der MICHI, wieder "bei uns Vier vor der Studiotür". Er ist wieder da, wieder lebendig – und hat etwas Grauenhaftes überstanden. Die Beschreibung der Hölle, die realistische Schilderung des Absturzes, all das ist eine der besten kurzgehaltenen Geschichten, auch noch in Liedform, die es gibt – deutsche Musik auf ihrem hohen Standard!

 

  1. DIE FANTASTISCHEN 4 – "Michi gegen die Gesellschaft" (1995)

Ein älteres Lied, vom vierten Studioalbum der Hip-Hop-Combo Nummer 1 in Deutschland, dem Hitwerk "Lauschgift". Wie an einigen Samples und Versatzstücken auditiver Natur auf dem Album erkennbar ist, handelt es sich beim Wort "Lauschgift" um eine Fehlwortstellung eines Japaners, der, Klischee, kein R sprechen kann. Dabei soll diese Eigenheit eher auf Chinesen zutreffen… Aus "Rauschgift" wird demnach "Lauschgift". Diese Szene, die heutzutage nicht als liebenswertes kleines Witzchen, sondern als politisch unkorrekter "antiasiatischer Rassismus" bewertet würde, ist der deutschen Synchronisation von "Breakfast At Tiffany's"/"Frühstück bei Tiffany" (USA, 1961) entnommen. Auch im O-Ton soll die Darstellung wohl "eine der schlimmsten rassistischen in einem Film" aller Zeiten gewesen sein.

Soweit zum von einer Filmszene inspirierten Albumtitel. Es ist natürlich kein anti-asiatisches Album, auch keins mit Rassismus. Der linken deutschen Hip-Hop-Band läge jeglicher Rassismus so fern wie mir jeglicher echte Rassismus fernliegt!

Auf dem Album findet sich dieser Rap-Track, der ein bisschen augenzwinkernd verschmitzt an die Konkurrenz rausgeht: Damals fing es langsam an, dass sich, neben dem nievauvollen deutschen Hip-Hop, auch eine eher am amerikanischen Original-Gangster-Rap orientierte Strömung (etwa MOSES PELHAM und sein RÖDELHEIM HARTREIM PROJEKT) bildete. Die FANTASTISCHEN VIER waren wiederholt dem großen Dissen (von "to disrespect", also "nicht respektieren") ausgesetzt, was eine Art Mobbing und Beschimpfung im Rap ist, die immer wieder vorkommen kann. Die FANTAs wurden als zu weich und sogar "Schwuchteln" hingestellt (Homophobie ist, gerade im migrantisch geprägten Gangsta-Rap unserer Tage, immer noch eine traurige Begleiterscheinung, ebenso wie übertriebene Maskulinität und Macho-Gehabe). Mit diesem pseudo-harten Titel antworteten sie darauf, auf immer noch hohem Niveau, mit erhobener Augenbraue auf die niederen Kreaturen herabblickend, die so töricht waren, sie dahingegehend anzugreifen. MICHI BECK schrieb dieses Lied, das als astreiner, lupenreiner Hip-Hop der harten Marke rüberkommen könnte, der Titel ist programmatisch: Subversiv, rebellisch und mit überzogenem Ende (die Bandmitglieder werden auf dem elektrischen Stuhl hingerichtet, ein Geräusch ertönt wie von einer elektrischen Überspannung). Im Grunde geht es um den "Alltag" der Hip-Hop-Treibenden, sie ziehen durch die Stadt, Stuttgart, die Hauptstadt des Hip-Hop-Südens und gleichzeitig Bawüs. Sie rauchen Gras. Sie üben Rap-Songs ein. Sie fahren schwarz – und werden erwischt. Und machen einen auf harte Gangster, dabei werden viele Anspielungen und Ovationen an den Hip-Hop eingebaut. Geiler Song, muss drauf auf jede einsame und offene Insel.

Ein Garant für die offene Gesellschaft.

 

  1. DIE FANTASTISCHEN 4 – (Der) Picknicker" (1996)

Herrlich entspannt, schöne Melodie, ein weiterer Hit für den Sommer von unseren FANTASTISCHEN, den VIER Jungs aus Stuttgart, aus der süddeutschen Hip-Hop-Szene, die Immer-noch-Könige, eventuell Kaiser des Rap sind. Es gibt eben Dinge, über die man nur in diesem Lande rappt: Übers Picknicken. Na gut, das Wort Picknick stammt, wie sein Freizeittätigkeiten-Verwandter, das Grillen, aus dem angelsächsischen Sprachgebiet und fand nahtlosen Eingang in die deutsche Sommeralltagssprache. Der Picknicker im Lied ist ein großer Partymensch (Party People!), der zu seinem Großpicknick eher viele, viele Leute einlädt, nicht nur seine privaten Angehörigen. Und alle feiern, fühlen sich gut, haben eine schöne Zeit. So sollte das Leben sein – und selbst ich als nicht riesiger Partyhengst, sehne mich danach. Schöne Wortschöpfungen gibt’s auch noch: Statt "den Durchblick nicht Habende" heißt es kurz "Nixblicker". Reimt sich perfekt auf "Picknicker" – und kopfnickend kann man zum Beat mitgehen. Ein Ohrwurm! Im Text: "Hausmarke" ist ein Künstler-Pseudonym für den hier hauptsächlichen Rapper, einen der drei Rapper der Vierköpfigen-Band, MICHAEL (MICHI) BECK. Später würde er noch unter diesem Namen solo einige Stücke aufnehmen.

 

  1. DIE FANTASTISCHEN 4 – "Populär" (1995)

Ebenfalls vom Album "Lauschgift" (1995), dem Hitalbum, eine der großen Auskopplungen, härter im Sound, heftiger gerappt, es geht um den Starruhm. Man ist als Pop- und Rapstar immer in dieser Sache drin: Man wird erfolgreich – und irgendwann dann stürzt der Vogel ab, der hellste und höchste Stern sinkt. Der Slogan aus dem Lied ist glatt mehrheitswerbefähig: "Gestern niemand, morgen tot – und dazwischen: populär!" – Ein knarziger, knirschender, etwas dissonanter Beat, krasse Synthi-Drums, Effekte, Effekte, Effekte, ein veritables Hip-Hop-Lied. Und eines ihrer besten, zum Vorzeigen und zum Nachdenken. Aus Sicht eines Fans in Strophe 1, in Strophe 2 gibt es einen Kritiker, der sie überschätzt, in Strophe 3 dann geht es darum, wie schwer es eigentlich ist, aus Star-Sicht. Sehr schön gemacht. Starrummel ist zwar schön, so der Tenor, doch irgendwann überlebt man sich selbst, man überhebt sich. Mittlerweile sind sie sehr, sehr, sehr kommerzielle erfolgreich und längst gesättigt. Im Grunde haben sie ihre eigenen Vorhersagen fast eingeholt. Was soll nach über 30 Jahren jetzt noch kommen? Sie sind zwar offenbar unsterblich, nur: Alles hatte seine Zeiten. Dieser Song hingegen ist für die Ewigkeit gemacht! Und sprachlich auf höchstem Niveau!

 

  1. DIE FANTASTISCHEN 4 – "Saft" (1992)

Albernheiten sind musikhistorisch irrelevant? Nein. Albernheiten gehören dazu – und in dieser Liste befinden sich einige alberne Lieder, die davon zeugen, dass es doch so etwas wie deutschen Humor gibt, entgegen aller anderslautenden Legenden. Im Albernen liegt eine unwiderstehliche Weisheit. Auch in Ferkeleien und Versautem. Es wird noch eine Menge Makabres kommen, da werde ich ein Lied über Körpersäfte nicht verleugnen. Richtig gelesen: Ein Thema, über das im Englischen höchstens noch die BLOODHOUND GANG singen würde und vielleicht noch als Einzelkünstler PRINCE (Gott hab ihn selig). Auf gar nicht mal absichtlich frivole Weise nähern sich naiv: DIE FANTASTISCHEN VIER, damals noch jung, nahmen sich auf ihrem zweiten Album "Vier gewinnt" (wie das berühmte Spiel) des Themas an. Eingebaut an passenden Stellen: Ausschnitte aus alten SLIM-FAST-Werbespots mit HARRY WIJNVOORD ("mmh, köstlich!") und der deutschen Synchronfassung der ulkigen "Naked Gun"/"Die nackte Kanone" (dem ersten Teil): "Du sagst das nicht nur, weil wir Körperflüssigkeiten ausgetauscht haben?"… Irre lustig, experimentell, ein albern-uriger Ulkbeat und noch Quasi-Gesang statt knallharter Rap. Sehr, sehr gut! Deutsche Musikgeschichte muss neu geschrieben werden – es gibt jetzt reichlich diverse Säfte in ihr. Ich persönlich steh ja mehr auf Karottensaft als auf Sperma, mehr auf Nasen- als Scheidensekret. Einfach mal anhören, Text lieben lernen, schmunzeln, Stirne runzeln!

 

  1. DIE FANTASTISCHEN 4 – "Sie ist weg" (1995)

So lief das in den 90ern: Man(n) wurde gelegentlich auch von Frau verlassen – und haderte dann mit sich, versank in Selbstmitleid, hielt 'ne "jaja, tolle Rede, Mann", seine Freunde versuchen, ihn aufzubauen, doch es ist zu spät: Er ist zutiefst geknickt, dem Heulen nahe (schönes Audiosample: "Och, jetzt weinst du, das tut mir aber leid!") und geht auch in die Introspektion, stellt seine eigene Selbstüberhöhung fest, seine Selbstsucht und wie er sie vernachlässigte. Wie es weitergehen soll, weiß er nicht, denn: "Ich möchte mal wissen, welcher Film auf dieser Welt – einen OSCAR erhält, in dem die weibliche Hauptrolle fehlt!" – "Denn sie ist weg!". Alles, was ein gutes, typisches DIE-FANTASTISCHEN-VIER-Lied haben muss: Eingängiger, typischer Hip-Hop-Beat, ein wenig Hall, ein paar Elektroeffekte, einige Samples/Audioausschnitte – und ein triftiger, treffender Text.

Im Musikvideo indes geht es ganz anders ab. Es präsentiert am Ende die Art Lösung, jene Pointe, die in den 90er Jahren das Beste war: Man nimmt sich ein Streichholz, übergießt sein ganzes Hab und Gut im eigenen Haus mit Benzin – und zündet die ganze Bude an, während man entspannt im Benz-Cabrio wegfährt und selig und befreit lächelt… Nun, nicht immer lief es so…War ja nur ein Scherz.

Liebes-Enden sind immer die härtesten…

 

  1. DIE FANTASTISCHEN 4 – "Sommerregen" (2004)

Sommerhits als Hip-Hop, Hip-Hop als Sommerhit – das ist das große Ding der FANTAs, unter anderem. So war auf ihrem Album "Viel" (2004) neben dem überdrehten, bis obenhin mit guter Laune, kreativsten Wortspielen und Parabeln vollgepackten Quasi-LSD-Song "Troy" (siehe etwas weiter unten), auch dieser entspannte, sphärische Song mit dickem Beat und Regengeräuschen, der sich als gute Entspannungsübung fast ebenso gut wie der Bandklassiker "Tag am Meer" (siehe hier drunter) eignet, wenn nur nicht der Beat sehr stark wäre. "Ne neue Chance für jeden", sich den Wegen des Lebens stellen, egal, was ist, machen, was zu machen ist! So haben wir es hier mit einem wunderbaren Lied zu tun!

 

  1. DIE FANTASTISCHEN 4 – "Tag am Meer" (1993)

Spätestens der Protagonist in TOMMY JAUDs Erfolgsroman "Vollidiot" (dicht gefolgt von "Resturlaub"), jedenfalls in der Verfilmung, hat ultimativ klargemacht, dass dieses Lied als Entspannungslied voll klargeht. Man fühlt sich, hört man den sanften, entspannten, ruhig-gesetzten Grundbeat, der sich dezent im Hintergrund hält, gemischt mit sphärischen Klängen und Instrumentensamples, vermengt mit Meereswellentönen, mindestens in eine Zen- oder sonstige buddhistische Yoga- oder Autogenes-Training-Situation versetzt. Im günstigsten Falle vielleicht in eine Entspannungskassette hineinversetzt wurde. In besagter Verfilmung jedenfalls spielt OLIVER POCHER (wieso man den albernen Comedian für die Hauptrolle verpflichtet hat, darf weiterhin mysteriös bleiben; der Film ist jedoch überraschend gelungen) den Typen, der unheimlich in eine Fastfoodrestaurantfachkraft verschossen ist. Er folgt ihr sogar heimlich bis zu ihrem Wohnhaus, einem großen, mehrstöckigen Haus (ein Hochhaus von vielleicht 6-7 Stockwerken). Es ist späte Nacht, sie kehrt gerade von der Spätschicht heim – und dreht sogleich diesen Song von den FANTASTISCHEN VIER voll auf, sodass der sich draußen auf eine Bank gelegt habende Protagonist sich wunderbar zu dem Lied entspannen kann. Logikbrüche wie das Nichtauftauchen der Polizei wegen der nächtlichen Extremlärmbelästigung (einer der Nachbarn könnte sie gerufen haben – oder sich zumindest bei der jungen Dame selbst beschweren können) sollen hier außen vor gelassen werden… Es ist ein wahrhaft wunderbarer Song, für deutsche Hip-Hop-Verhältnisse war er damals komplettes Neuland. Das Konzept eines extrem entspannten, eher langsamen, getragenen Rap-Songs mit relaxtem Flow wurde später von vielen Hip-Hop-Formationen nachgeahmt, selbst die FANTAs selbst versuchten sich erneut an diesem Konzept: "Nur in deinem Kopf" (1995) ist ein solcher Versuch. Doch an "Tag am Meer" kommt nichts dran. Die sanften Worte sind etwas ungemein Harmonisches, Friedliches. Sie sind das Wohltuendste, das man auf Deutsch jemals hören konnte.

 

  1. DIE FANTASTISCHEN 4 – "Troy" (2004)

Mitunter ließen sich die FANTAs in ihrer jetzt 31-jährigen Karriere einige Jahre Zeit zwischen ihren Alben. Gut, sie waren immer wieder auf Kompilationen/Samplern zu finden, zweimal MTV-UNPLUGGED-Konzerte, Live-Alben auch, mehrere Greatest-Hits-Kompilationen sowieso – und hier war, nach "4:99" (1999), 2004 das nächste Album, "Viel", in der Pole-Position. Es ging weit rauf in den Charts. "Viel" fiel viel auf: Etwa dadurch, dass die Texte poporientierter und mehr von Gesang als von Rap-Lines geprägt waren, zugänglicher dem Mainstream zum einen, zum anderen auf der Top-Höhe der Zeit, in der Rapper schon lang vorher angefangen hatten, etwa auf schnelleren Techno-Beats ihre Songs zu machen und auch vollelektronische und computergenerierte Digitaleffekte vermehrt Einzug in Hip-Hop hielten, etwa bei SAMY DELUXEs "Weck mich auf!". Die erste Single-Auskopplung des neuen Albums avancierte schnurstracks zum Superhit, was kaum wundern kann: Es handelt sich um einen frischen Up-to-date-High-Standard-Track, der perfekt in die damalige Musikentwicklung zum vermehrt Elektronischen passt, flott, pfiffig und kniffig, wie das restliche Album voller Tiefsinn und Tiefgang, aber auch Hintersinn. Viele Anspielungen auf die eigene Karriere, eine klare Ansage à la "Wir sind immer noch die Besten/Größten" und "Wieso habt Ihr Euch denn bloß immer wieder anderen Hip-Hop-Combos zugewendet, da wir doch besser sind?" – und die Mutmaßung, dass die Fans in anderen Rappern nur eine Art "Ersatzdroge" gesehen haben mögen ("Du ließt dich nur verführen, um irgendwas zu spüren"), vermischt jedoch mit einer gehörigen Prise Selbstironie und den typischen ironischen Brüchen inklusive Selbstreferenzen. In einem Rutsch, einem mitreißenden und anregenden Gute-Laune-Titel wird ein Rundumschlag und Brevier der restlichen Hip-Hop-Szene vorgenommen, ohne die sonst übliche explizite Wortwahl, ohne wirklich jemanden persönlich anzusprechen und dissen. Andere Rapper tun dies nämlich ständig, da wird ein intensives Namedropping betrieben, hier nicht. Eines der gutgelauntesten Lieder der deutschen Geschichte. Ein immer wieder hörenswertes Stück Gold. "Wir bleiben troy", rappen die VIER, wohl als Fingerzeig auf den Film "Troja" (im Original "Troy"), ein Spätwerk des Monumentalfilms, das der deutsche Regisseur WOLFGANG PETERSEN in seiner Wahlheimat USA 2003 regiegeführt hatte, ein Film, der weltweit groß rauskam. Dass sie ihren Fans treu bleiben, ist auch eine schöne Geste! Schließlich bekunden doch sonst nur Fans ihren Idolen Treue, oder? "Diese vier Jungs sind zum Verlieben", konstatieren sie an einer Stelle, die Fan-Sicht einnehmend. Recht haben sie!

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