Walter Günther

Neulich

Neulich traf ich den Schorsch, nur einfach so, nichts Belangloses, also vor kurzem, ich glaube es war vor zwei Jahren montags. Mann, wie es mir denn ginge und ihm erst und alles...? Wir hatten uns längere Zeit aus den Augen verloren, seit Mai 88 etwa und er erzählte mir dass sein Kleiner – das war sein Baby, das ich damals auf dem Arm halten durfte – kürzlich in Afghanistan gefallen sei, ja doch...sehr traurig.

Noch trauriger allerdings war, dass ich dachte wir hätten uns erst neulich, also vor fünf bis acht Jahren zum letzten mal gesehen. Also als ich sein Kind auf dem Arm....... und so....

Was denn?! Schon wieder eine ganze Generation verstrichen?! Eine komplette unendlich lange Kindheit mit Jugend, Schule, Freundin, großen und kleinen Sünden, Hoffnungen und Enttäuschungen, Freude und Leid und der irrigen Ansicht, endlich unsere Welt begreifen zu können?

Man fasst es nicht! Eigentlich ist fast nichts passiert in dieser Zeit, jedenfalls nichts gravierendes. Gut meine Schwiegermutter ist gestorben und wir haben eine neue Katze. Was sonst noch, ach ja ich bin seit drei Jahren Rentner und habe vor zwanzig Jahren bei der Band PAN aufgehört, das war quasi erst neulich. Neulich habe ich einen getroffen, der mich nicht mehr erkannt hat. Ich meine ich ihn auch nicht, aber vor allem er mich nicht!

Wie? Habe ich mich denn so verändert? Das wäre mir doch bestimmt aufgefallen, schließlich schaue ich jeden Morgen in den Spiegel und da gibt es an sich nichts auffälliges.

Weißt du, dass der Toni tot ist, Lungenkrebs. Wie, hat der geraucht? Was denn d e r Toni?! Den habe ich doch erst neulich...so so, der also auch. Die Leute sterben wie die Fliegen und nicht nur einfach so Leute, sondern meine Bekannten, ja sogar Freunde die man erst neulich getroffen hatte.

Vor kurzem habe ich erfahren, dass George Harrison tot ist. Das mit dem John Lennon wusste ich ja, aber George Harrison? Wer hätte das gedacht. War wohl nix mit 'when I'm sixtyfour' wie?

...und dann sagen mir die Kollegen, was denn, der ist doch schon jahrelang unter der Erde...ach hör' doch auf, ich hab' doch erst neulich....!

Ja, die Zeit ist schon eine seltsame Erfindung, zumal es sie nicht wirklich gibt, Wie gesagt, wurde erfunden, denn Zeit an sich existiert nicht, ist nur ein Wort, eine menschliche Schwäche. Man könnte sagen, ein Stein hat keine Zeit, was nicht bedeuten soll, dass er es eilig hätte - oder auch alle Zeit, was das selbe wäre.

Menschliche Zeitabläufe unterschieden sich erheblich von steinernen, wenn die Steine sie an ihrer Lebensspanne mäßen. Das bedeutet, dass die Zeit grundsätzlich individuell wahrgenommen wird und vollkommen relativ ist, wie das berühmte Beispiel mit der Eintagsfliege zeigt.

(Wie stehts Mädchen treiben wir's zusammen? Geht nicht, hab' meine Sekunde)

Überhaupt haben Fliegen keine schnellere Reaktion als Menschen, trotz Facettenaugen, sondern schlicht eine andere Zeit, sie leben schneller. Ein Trick den sich die gesamte Menschheit zu nutze macht, denn immerhin leben wir in mitten von kosmischen Explosionen der übelsten Art, die uns nur deshalb verschonen, weil wir eine andere Zeitrechnung haben. Für die Sonne existieren wir wahrscheinlich nicht, denn die Sonnenzeit lässt sich nicht so fein einteilen.

Ja ja, so lange ich zurückdenken kann, gelten die Gesetze der Physik. Was denn, 70 Jahre? Ja, auch...

Kann man denn überhaupt zurück denken? Stimmt der chronologische Ablauf? Wird nicht hier geschönt und dort weg gelassen, so dass mit der Zeit gar nichts mehr stimmt? Was heißt überhaupt vor und zurück? Warum nicht zur Seite? Das sind doch alles Modellvorstellungen für ein abstraktes Phänomen, welches nur wir Menschen Zeit nennen.

Tiere können nicht sprechen, also nicht abstrakt denken und haben deshalb keine Zeit, oder warum rennen die meisten dann dauernd?

Zukunft oder Vergangenheit gibt es nicht, kann es nicht geben, den 'gibt' und 'geben' stehen im Präsens, sind also präsent, was man von der Zukunft oder der Vergangenheit nicht gerade behaupten kann. Die gab es mal, aber das ist vorbei. Gut, für manche Menschen ist die Vergangenheit dauernd präsent und einige werden sogar zeitweise von Ihr eingeholt und morgen ist die Zukunft auch nicht mehr das, was sie mal war. Das heißt aber nicht, dass sie trotzdem existiert, hier und heute, denn dann wäre es keine Zukunft, die bekanntlich nicht existiert, weil sie keine Zukunft hat, denn sobald sie eintritt, ist sie Vergangenheit. Ach, dann gibt es gar keine Gegenwart? Natürlich nicht! Die Gegenwart ist der Grenzwert zwischen dem was kommt und dem was gerade vorbei ist. Egal wie weit man in den Milli-, Mikro-, Nano-, Pico-, Femto-, Atto-. Zepto-, Yoctosekundenbereich vorstößt. Keine Gegenwart zu finden, nirgends. Die Gegenwart ist unscharf, wie bei Heisenberg.

Neulich kam einer und fragte, hast du mal für mich Zeit. Wie viel, lautete meine Gegenfrage, eine Stunde, einen Tag, wenige Sekunden? Wie viel Zeit brauchst du von mir, von meiner privaten Zeit? Denn die gibt es, sie ist schließlich Privatsache. So sollte man das sehen und so sollte es auch bleiben – Zeit ist Privatsache!

Neulich erst hab' ich gesehen, wie jemand keine Zeit hatte und einfach quer über die Hauptstraße gerannt ist. Jetzt kann er sich nicht mal mehr erinnern...

Erst neulich traf mich der Schlag, als ich den Bußgeldbescheid für zu schnelles Fahren erhielt und habe mir vorgenommen mehr Zeit mit Langsamfahren zu verbringen.

Irgendwie komisch 'Zeit verbringen' oder 'Zeit totschlagen' wenn man zu viel davon generiert hat. Viele Menschen hingegen müssen aufpassen, dass sie nicht ihrerseits von der Zeit erschlagen werden, was sie dadurch verhindern, das sie nie welche haben.

Neulich wollte mir jemand erklären, dass Gott die Zeit gemacht hat. Warum hat er die Tage dann nicht länger gemacht und die Erde in zehn Minuten erschaffen? Den Rest bis Sonntag hätt'er dann frei gehabt. Die Freizeit ist scheinbar nicht von ihm, muss 'ne menschliche Erfindung sein.

Erst neulich wollte der selbe Typ mir erklären, dass wir Menschen es nicht verstehen könnten, denn schließlich wäre es Gott – wohl gemerkt er wollte mir Gott erklären.

Das haben schon ganz andere seit tausenden von Jahren erfolglos versucht. Also jetzt nicht nur bei mir. Herausgekommen ist dabei ein dementer alter Mann der seine angebliche Schöpfung scheinbar vergessen hat. Vielleicht hatte er nur Zeit für wichtige Dinge....wie Harfe spielen oder schwarze Löcher stapeln.

Neulich habe ich mich gefragt, was passieren würde, wenn die Zeit einfach rückwärts liefe. Eine interessante Vorstellung, die allerdings zu der Erkenntnis führt, dass Zeit überhaupt nicht läuft, weder vorwärts noch rückwärts. Die einzigen die laufen, sind wir und zwar auf und davon, hin und her, vor und zurück und vor uns selber weg. Mit wenigen Überlegungen muss einem klar werden dass es nicht anders sein kann und neulich versuchte ich es meiner Mutter zu erklären - was dann aber zum Streit führte.

Die alten falschen Vorstellungen haben einfach zu tiefe Rillen in das menschliche Bewusstsein gegraben, als dass man sie in Frage stellt, genau wie Gott. Den gibt’s eben und basta! OK, damit wäre er zumindest zeitlos.

Vor gar nicht langer Zeit erst, habe ich gesehen wie jemand versucht hat, nicht zu altern. Das sah vielleicht komisch aus, oh Mann. Man findet es häufig bei Frauen, die darauf abfahren stets jung zu erscheinen. Es ist so ähnlich, als wolle man eine Uhr anhalten, obwohl die Zeiger weiter laufen. Sie versuchen die biologische Uhr anzuhalten, die tatsächlich wirklich existiert und dem Inhaber Auskunft über den derzeitigen Zustand seines Körpers erteilt. Allerdings nur im relativen Vergleich zu den anderen Zuständen, die er noch in Erinnerung hat und da auch nur unvollständig. Als Vergleich zieht man meist andere Personen, Fotos oder die Fernsehwerbung heran, die damit wenig zu tun hat und mit der Zeit langweilig wird.

Neulich kam mir die Idee, meine Zeit einfach selber zu bestimmen, da ich sie schließlich erzeuge. Das bewirkt in erster Linie eine arge Fehlsynchronisation mit den Zeitabläufen anderer Menschen und zweitens wird man schnell für einen zeitlosen Spinner gehalten.......wie schon namenlose Denker vor mir.

 

Die Spinne und das Bügeleisen

Ich glaub' ich spinne, sagte die Spinne. Ich hab' keine Zeit, meinte das Bügeleisen...

 

 

 

 

 

 

Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Walter Günther).
Der Beitrag wurde von Walter Günther auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 29.06.2021. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Der Autor:

  Walter Günther als Lieblingsautor markieren

Bücher unserer Autoren:

cover

Seelenfarben von Eveline Dächer



Dieser Lyrikband malt ein Kaleidoskop meines Lebens
Er gibt einen Einblick in mein Innerstes, meine Seele.
Hier spiegelt sich eine Farbpalette von kristallenem Hell
Über alle Regenbogenfarben bis zum tiefsten Dunkel.
Das Auf + Nieder des Lebens - Gedichte und Bilder, die in die Tiefe gehen.

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (0)


Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Gedanken" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von Walter Günther

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

Heilich heilich... von Walter Günther (Spirituelles)
Alte bleiben länger jung von Norbert Wittke (Gedanken)
Lösegeld für meinen Hund. von Walburga Lindl (Autobiografisches)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen