Helga Moosmang-Felkel

Die Regenkatze Kapitel 19

Im Morgengrauen machten sie sich auf den Weg zum Brunnen am Marktplatz, um Bericht zu erstatten. Der Himmel war bewölkt und der Wind wurde so stark, dass es sich anfühlte, als wäre irgendwo ein Damm gebrochen. „Wir erzählen aber nicht, dass ich geniest habe…“, sagte die kleine Mona trotzig. Der Wind wühlte in den Baumkronen. Ein breiter Streifen Hellblau am Himmel kündigte den Föhn an. Ein kleiner gelber Schmetterling streifte fast Blues Gesicht. „Du hast dich unmöglich benommen…“, sagte Blue ärgerlich, „ich fürchte, wir werden nie mehr herausfinden, wer diese Morde begangen hat, alles ist totenstill,…niemand bemerkt etwas Verdächtiges…, alles ist so, als wäre nie etwas in der Altstadt vorgefallen…“ „Blue…“, zischte Mona, „du sagst nichts davon, von meinem Malheur…, sonst bin ich nicht mehr deine Freundin…“ Blue war geistesabwesend. Wieder einmal sah sie das fratzenhafte Gesicht vor sich, das sie bei dem Ritual gesehen hatte. So sehr sie sich auch einredete, das Gesicht wäre erloschen, und alles wäre zerronnen, es verging nicht, es blieb wach und unabwendbar auf sie gerichtet und schaute und glotzte oft zu ihr herüber, wenn sie die Augen schloss. „Sag schon, Blue, du verrätst es doch nicht…“, bettelte die kleine Mona. „Wir haben sowieso nichts zu berichten, wie alle anderen in letzter Zeit auch…“; sagte Blue, „da ist dein kleiner Niesanfall doch auch egal…“ Unaufhaltsam drang eine blendende Helligkeit durch die schmalen Gassen und die Sonne stieß zäh durch die Wolken. Als sie den Marktplatz erreichten, bauten die ersten Händler ihre Ware auf und entluden lärmend einen Lastwagen. Grimmig und hoch aufgerichtet sah ihnen Robby entgegen. Sein weißes, langhaariges Fell wehte im Wind. Mehrere Katzen standen um ihn herum mit gesenkten Köpfen. Seit die Rundgänge keine Ergebnisse brachten und die Tage ereignislos verstrichen, suchte er ständig neue Schuldige. Alles, was die Katzen berichteten, passte ihm nicht. Er schimpfte, dass sie nicht schnell und schlau genug waren. „Und…“, sagte er in einem hochnäsigen Ton und blickte auf Mona und Blue hinunter, „was habt ihr zwei zu berichten…?“ Mona rammte ihre Pfote in Blues Seite und Blue sagte schnell: „Keine Auffälligkeiten…“ Robbys blaue Augen wurden blass vor unterdrückter Wut: „Habt ihr nicht gewusst, wo ihr suchen sollt? Habt ihr euch eine schlaue Zeit im „Roten Löwen“ gemacht? Habt ihr wieder eine Gelegenheit verpasst?“ Mona stand klein und geknickt vor dem großen weißen Kater, während Blue vor Wut kochte. „Wir haben Magnolia mit einem Freier überrascht,…und sind ihr gefolgt…“, sagte sie betont laut und warf dem roten Clarence einen vernichtenden Blick zu. „Und habt ihr den Hof der Apotheke abgesucht nach dem verdammten Gift, das da herumstehen soll…, oder habt ihr in der langen, finsteren Nacht nur euren Arsch im Warmen gehalten?“ Blue sah ihn fest an und sagte: „Wie wäre es, wenn du selbst einen Rundgang machst…oder bist du zu feige…?“ Die kleine Mona sah sie bestürzt an. Wie konnte Blue es wagen, so mit Robby zu reden. Sie drückte sich gegen die Erde und ihre ganze Haltung verriet Reue. „Was nimmst du dir heraus, Regenkatze…“, sagte Robby, „in der Tat werde ich diese nutzlosen Rundgänge beenden…und die Sache allein in die Hand nehmen…, ich werde dieser Magnolia einen Besuch abstatten und dann wird sie schon mit der Sprache herausrücken…“ Blue spürte Robbys Grimm wie einen nahenden Sturm und obwohl sie ihm fast ins Gesicht gelacht hatte bei seiner Ankündigung, Magnolia zu besuchen, verdrückte sie sich weiter nach hinten. Viele Katzen hatten zu tuscheln begonnen. „Lieber Freund…“, begann Said, „ich halte es für viel zu gefährlich, dort einfach so hinein zu spazieren,…wir sollten meiner bescheidenen Meinung nach die Rundgänge noch einen Mond lang fortsetzen, es ändert sich alles mit der Wanderung des Mondes…“ „Dann kannst du ja solange zuhause bleiben…“, sagte Robby und musterte ihn argwöhnisch. „Ich bin nicht bereit, das länger hinzunehmen und zu erdulden,…dieser Fall muss beendet werden…“ Robby lag auf der Lauer, er musterte die Katzen und nichts entging ihm. Mit einem Mal fühlte er eine wilde Lust in sich, gegen diese Apothekerkatze zu kämpfen und zu siegen. Selbstsicher wie er war, verspürte er bereits den Vorgeschmack des Sieges. Said sah ihn ängstlich an: „Teurer Freund, Mahazedi,… ich werde dich natürlich wie immer begleiten…“, sagte er, „aber, nun…, wie soll ich es sagen, die Apothekerkatze ist eine ziemlich…voluminöse…starke Katze…“ „Ich komme auch mit…“, rief die kleine Mona, „ich werde helfen…“ Sie hatte ihren Niesanfall und die Ohrfeigen von Magnolia vergessen und tänzelte aufgeregt über den Marktplatz.

Blue seufzte innerlich. Gerne hätte sie sich einen weiteren Besuch bei Magnolia erspart, aber nun musste sie auf die kleine Mona aufpassen. Plötzlich beneidete sie glühend den schwarzen Korsaren, der auf dem Schuppendach liegen konnte und sich die Sonne auf den Pelz scheinen ließ. Er war die vorige Nacht unterwegs gewesen. „Ich komme auch mit…“, sagte sie resigniert und warf Mona einen wütenden Blick zu. Mona verdrehte unschuldig die Augen.

 

Sie sammelten sich hinter Robby und setzten sich gemessenen Schrittes in Bewegung. Robby bewegte sich steifbeinig und würdevoll, so als spielte Zeit überhaupt keine Rolle. Eine schwärende Stille lag über dem kleinen Zug, die sich fing, verdichtete und gärte. Menschen drängten durch die Gassen, die überall redeten, pfiffen oder polterten beim Entladen der Lastwägen. Doch der Lärm prallte am Zug der Katzen ab. Eine bedrückte Stille hielt sie nieder, als sie sich quälend langsam über das Kopfsteinpflaster bewegten. Blue überdachte ihre Lage. Sicherlich war es nicht gut gewesen, Magnolia auf sich aufmerksam zu machen. Nun war sie gewarnt und vieles würde nicht mehr geschehen können. Die frühlingslinde Luft wehte um ihre Nase herum. Neben einem alten Baumstrunk blühten weiße Narzissen. Blue fiel zurück und blieb einige Meter hinten den anderen zurück. Sie fühlte plötzlich eine große Müdigkeit. Die alte Linde gegenüber der Apotheke war schon voller Laub, sie blinzelte in die Sonne. Plötzlich stand der alte Omar neben ihr, so als wäre er vom blauen Föhnhimmel herabgefallen. „Blue…“, keuchte er, „ich habe mich verspätet,…wo geht ihr denn hin?“ Wieder frischte der Wind auf und machte ein hohles Geräusch. Blue zuckte die Achseln: „Robby will Magnolia zur Rede stellen…“, sagte sie lahm. Omar grunzte und prustete dann vor Lachen. Er schüttelte sich vor Lachen und sein fetter Bauch wackelte. „Das will ich mir nicht entgehen lassen…“, sagte er, „die haut diesen eingebildeten Mahazedi auf seine feine Nase…“ So schnell er konnte, watschelte er neben Blue her. „Omar…“, sagte Blue versonnen, „du warst doch auch bei unserem Ritual dabei,…hast du etwas gesehen...?“ Omar schwieg, er schien nachzudenken. Dann flüsterte er: „Blue, ich spreche nicht darüber,…aber ich habe den Mörder in jener Nacht gesehen…, fast hätte er mir den Garaus gemacht…, seitdem habe ich mich fast ganz in den Loft zurückgezogen…“ Blue horchte auf. Eine schreckliche Vermutung streifte sie und am liebsten wäre sie davongelaufen, in großen Sätzen zurück zum Schuppen geeilt, in die freien Felder, dem Himmel entgegen. Sie war sich plötzlich sicher, dass sie Omars Verdacht nicht hören wollte. Sie wollte nichts mehr fragen und beschleunigte ihre Schritte. „Blue, du liegst mir am Herzen,…ich bin ein alter Kater…, ich bedauere nichts und ich fürchte nichts, ich sag dir, der Mörder ist der schwarze Korsar…, so wahr ich hier vor dir stehe…“ Blue jaulte kurz auf, ein schrilles, dumpfes Miauen drang seltsam tonlos aus ihrer Kehle, als sei etwas durchgerissen. Sie wand sich und fühlte, wie ihr das Blut heiß in die Ohren schoss. Es schien in ihr zu schäumen. „Du solltest nicht bei ihm bleiben…“, hörte sie den alten Omar wie aus weiter Ferne sagen,…“er ist gefährlich…, er wird dich einschüchtern… und dann plötzlich zuschlagen…“ Er träufelte Gift in Blues Ohren. „Erspare dir dieses erniedrigende Schicksal…, hast du noch nicht gemerkt, dass er kein großes Interesse zu haben scheint, die Morde aufzuklären…?“ flüsterte der alte Omar heiser. Obwohl Blue nicht zuhören wollte, fiel ihr wieder ein, wie der Korsar sie immer wieder von dem Thema der Morde in der Altstadt ablenkte. Sie ließ den Kopf hängen und starrte auf den Boden. Sie fühlte sich wie gelähmt. „Begleite mich in Ralfs Loft, dort verbarrikadieren wir uns,…ich habe als Kater gelebt und als Kater werde ich enden. Wenn er sich nähert, der große Feind,…dann können wir losschießen…“ Blue schwankte leicht. Sie dachte an den schwarzen Korsaren mit den vier schnellen federnden Beinen und den scharfen Reißzähnen und wusste, dass er viel schneller und stärker war, als sie und Omar zusammen je sein würden. Die Zeit schien plötzlich stehen geblieben. Unbeholfen und langsam lief sie weiter neben Omar her. Sie litt plötzlich entsetzlich.

Sie bogen in den Hof der Apotheke ein. Er lag im Schatten einer dicht mit Efeu bewachsenen Mauer und die Kühle tat Blue wohl. Sie hatte das Gefühl, dass sich eine Schlinge um ihren Hals straffte und wurde immer stiller.

 

Wie aus großer Entfernung sah sie, dass Robby, Said und Mona Magnolia gegenüberstanden. Magnolias Nackenhaare waren gesträubt und ihre Ohren nach vorne gedreht, so dass sie fast wie zwei kleine Hörner wirkten. „Ich fordere dich auf,…mir den Giftbehälter zu zeigen…, ich habe Morde aufzuklären…“, hörte Blue Robby unwirsch sagen. „Verschwindet,…“, keifte Magnolia, „ihr habt kein Recht, in meine Intimsphäre einzudringen…, mir platzt der Kragen, wenn ich noch einmal diese Stalkerkatze sehen muss, die mein Liebesverhältnis belauscht hat…“ Sie wollte sich schon auf die kleine Mona stürzen, da sagte Said besänftigend: „Magnolia,…wir wollen doch nur, dass wieder Frieden in der Altstadt einkehrt…, vielleicht können wir das Gift entsorgen,…ich meine, wir sagen ja nicht, dass du es benutzt hast…“ „Das will ich dir auch geraten habe, du Perserbürschchen…“, erwiderte Magnolia, „und nun verzieht euch, ich kann selbst auf das Gift aufpassen…“ „So geht das nicht…“, ließ sich Robby hoheitsvoll vernehmen, „Ich bin Mahazedi aus der Rasse der heiligen Birmakatzen,…ich verlange augenblicklich von dir, den Gifttopf zu besichtigen…“

Verschwinde aus meinem Hof,…du verfluchter Pisskater…“, schrie Magnolia und im selben Augenblick erhob sich Robby mit einer Schnelligkeit, die man ihm bei seiner gemessenen Art nicht zugetraut hätte und packte Magnolia an der Gurgel. Er schnappte zu und biss hinein, bis Magnolia aufgab und sich ganz still hinunterduckte. „So, und jetzt zeige mir das Gift,…aber ein bisschen Tempo…“, sagte Robby näselnd.

Magnolia sah ihn böse an, wagte aber nicht länger, sich zu widersetzen. Geduckt schlich sie durch den Hof und stieg eine Kellertreppe hinunter. Sie murrte leise vor sich hin und ihre Augen glommen gefährlich. Die anderen folgten dicht hinter ihr. Die Stufen führten weit hinunter in einen düsteren Kellervorraum. Ein modriger Geruch wehte Blue um die Nase. Sie fand plötzlich wieder jeden Schritt anstrengend, fast so wie nach ihrer schweren Krankheit. Die unteren Stufen waren glitschig und von dünnen, feuchten Flechten überzogen. In einer Ecke neben einem rostigen Abfluss stand ein weißer Plastikeimer, auf dem ein schwarzer Totenkopf und zwei gekreuzte Knochen aufgemalt waren. Plötzlich fürchtete sich Blue, es war eine kalte, dunkle Angst, die nach ihr griff und sie in eine schwarze Wolke einhüllte. Robby berührte zögernd den Deckel. Er war nur lose aufgesetzt und ließ sich leicht zur Seite schieben. Mehrere Katzen reckten ihre Hälse, um besser in das Innere des Eimers hineinsehen zu können. Blues Angst verstärkte sich und sie drehte den Kopf beiseite. In einem Winkel ihres Gehirns fürchtete sie, die Abdrücke der Pfoten des Korsaren, die sie sehr gut kannte, in dem Eimer zu sehen. Die Katzen versanken schweigend in der Betrachtung des Giftes und Blues Brust zog sich schmerzlich zusammen. „Katzenpfoten,…“ sagte Robby schließlich. Blue zuckte zusammen. Vorsichtig schob sie ihre Nase in die Nähe des Eimers. In einer weißen bröseligen Masse sah sie Kratzspuren und die verwischten und verschmierten Abdrücke von Katzenpfoten. Robby richtete sich hoch auf und sagte: „So, Magnolia,…ich hoffe du kannst mir das erklären,…wie es aussiehst, scharrst du häufig in dem Gift herum,…und anschließend springst du unschuldige Katzen an, du verfluchte Mörderin…“ Die kleine Mona hielt sich vor Aufregung die Hand vor den Mund, doch dann entschlüpfte ihr: „Ich habe es schon lange gewusst,…sie tuschelt ja auch immer mit der unheimlichen Friedhofskatze herum…“ Alle anwesenden Katzen umzingelten Magnolia. Magnolia starrte sie mit hochmütiger Miene an. „Ich habe damit nichts zu tun,…das lasse ich mir von euch nicht unterjubeln…, jeder hatte Zugang zu dem Gift…, ich liege ja nicht immer im Hof herum,…“ „Es wäre besser für dich, du hättest eine Erklärung…“, fauchte Robby, der begierig war, den Fall endlich abzuschließen. „Ich sollte dir die Kehle durchbeißen und dein schäbiges Leben beenden,…du beschmutzt unsere Altstadt und bist auch noch hochmütig…“, sagte Robby und näherte sich ihr bis auf wenige Zentimeter. Doch Magnolia zuckte mit keiner Wimper, mit aufrechtem Rücken sah sie Robby entgegen. Mit jedem Ausatmen schien sie etwas von ihrer Wut auf Robby zu blasen. Said beugte sich leise zu Robby hinüber und sagte: „Werter Freund, bedenke, dass wir sie nicht überführt haben,…sie könnte auch die Wahrheit sagen, auch wenn es eher unwahrscheinlich ist…“ „Papperlapapp…“, erwiderte Robby, und starrte gebannt auf Magnolia, „Said, du weißt, ich irre mich nie, das Gespür sitzt mir sozusagen in meinen weißen Pfoten…“ „Ich weiß, dass sie unschuldig ist…, wir sollten ihr eine Chance geben,…sonst muss noch eine Katze sterben,…“, ließ sich plötzlich der alte Omar vernehmen. Blue drückte sich verzweifelt tiefer in den Schatten, als sie seine Worte hörte, da sie wusste, wen er für den Täter hielt. Gebannt starrte sie auf Magnolia und hoffte, sie würde die Taten zugeben und diese quälende Unsicherheit endlich beenden. Mona saß mit eingerolltem Schwanz hinter ihr. Flüsternd berieten sich Robby und Said. Einem Schatten gleich drückte sich Omar an die Mauer, stumm und mit schnell hin- und herwandernden Augen. Alle warteten auf Robbys abschließende Worte. Die Zeit erschien Blue endlos und das Warten zermürbend und lang. „Ihr müsst das Gift entsorgen…“, sagte der alte Omar plötzlich und seine Augen blitzten, „das ist der sicherste Weg…“ Robby starrte wütend auf Omar, der ihn unverschämt und dreist angrinste. Er ärgerte sich, dass ihm das nicht selbst eingefallen war. Ratlos starrte er auf den Eimer mit dem Gift. „Wir könnten es in den Abfluss kippen, wenn es stark regnet, dann wird es hinuntergewaschen…“, sagte die kleine Mona und Robby wischte sich erleichtert über die Stirn. Beinahe dankbar streifte sein Blick die kleine Mona und fiel wieder auf die ihm unverfroren die Stirn bietende Magnolia. „Wir werden den Gifttopf bis zum nächsten Regen bewachen…“, sagte er und senkte die Augenlider, „sollten wir bis dahin einen anderen Täter überführen, bist du noch einmal davongekommen…, sonst wirst du es mit deinem Leben bezahlen…, dafür werde ich persönlich sorgen,…ich werde meine Zeit nicht länger mit deinen Ausflüchten verplempern…“ Magnolia zeigte wütend ihre Reißzähne. „Keine Widerrede…“, sagte Robby scharf. „Omar und Mona, ihr bewacht heute Nacht den Topf…“, befahl er und schüttelte angeekelt seine weiße Pfote, an der Schmutzkrümel klebten. Das ganze Geschehen glitt an Blue vorbei. Sie war innerlich in einem finsteren Loch gelandet und steckte immer noch fest. Sie konnte die Anschuldigungen von Omar nicht vergessen und befürchtete, sie könnten wahr sein. Immer deutlicher glaubte sie sich daran zu erinnern, dass der schwarze Korsar immer schnell von etwas anderem gesprochen hatte, wenn die Rede auf die Morde kam, dass er häufig lange Zeit abwesend war, auf der Jagd, wie er sagte. Sie dachte an das ungeklärte Verschwinden Tiffanys und wandte sich mit schwerem Herzen zum Gehen. Mona schwänzelte stolz um den Gifttopf herum und der alte Omar ließ sich schwerfällig am oberen Rand der Treppe nieder. Blue ertrug das alles plötzlich nicht länger und in einem langen Sprung ließ sie den Hinterhof zurück und nahm fast im Flug den Weg zurück zum Schuppen. Der Weg am Friedhof entlang war licht überflutet und erschien ihr endlos lang. Ganz gleich wie schnell sie rannte, die Wegstrecke schien immer gleich lang zu bleiben. Das gleißende Sonnenlicht, das den Föhnwind begleitete störte sie noch mehr auf und innerlich wund erreichte sie schließlich den Schuppen.

 

Die Bäume rauschten und das Gras raschelte, als sie steifbeinig auf den Korsaren zulief. Der Wind schien zu flöten und die Vögel zwitscherten. „Da bist du ja endlich…, Blue, ich hatte schon Angst, dass euch etwas zugestoßen ist…“, sagte er und wollte Blue zärtlich begrüßen. Doch sie wandte sich schnell ab und sah zur Seite. Er versuchte, sich an sie zu drücken und mit ihr zu balgen. „Ich freue mich jedenfalls, dass du ganz und quicklebendig bist…“, sagte er friedlich. Als sie sich ihm rasch entzog, sagte er: „Du bist müde…, ruh dich aus, Liebes…“ Wie immer strahlte sein Körper eine wirbelnde Lebendigkeit aus und die dunkle Farbe seines Felles leuchtete. Plötzlich sagte Blue tonlos: „Sie haben den Eimer mit dem Gift im Hinterhof der Apotheke gefunden…“ Sie wandte sich um und musterte ihn scharf, so als könnte sie an seiner Reaktion ablesen, ob der Verdacht des alten Omars gerechtfertigt war. „Und was ist geschehen…?“ fragte der Korsar interessiert. „Nichts…“, erwiderte Blue dumpf, „Magnolia hat alles abgestritten, aber vielleicht weißt du ja mehr darüber, als du zugibst…der alte Omar hat so etwas angedeutet…“ Die Augen des Korsaren verengten sich. „Was willst du damit sagen,…Blue…?“ fragte er und seine Miene wurde eisig und finster. Blue wurde unsicher. Doch sie brachte es einfach nicht länger fertig zu schweigen und sie sagte tonlos: „Er glaubt, dass du der Mörder bist…“ Wie ein monströses Tier fielen ihre Worte auf den Korsaren herab. Er starrte sie schweigend an, dann sagte er mit rauer, fast brüchiger Stimme: „Und du hast ihm geglaubt, Blue…?“ Einen Augenblick lang sah er sie tieftraurig an, dann wandte er sich schweigend ab, nur seine Schultern schienen plötzlich tiefer zu hängen. Blue hatte insgeheim gehofft, dass er erbittert leugnen würde oder empört los schreien oder sogar lachen. Aber alles blieb still. Die Stille, die ihre Worte verursacht hatten, war entsetzlich. Tropfen für Tropfen schien sie herab zu sinken wie ein Bleigewicht. Plötzlich wand sich Blue vor Qual. Der Korsar drehte sich kurz um und sagte mit eisiger Stimme: Ich gehe Blue, deine Beschuldigungen sind mir widerlich,… ich will dich nicht mehr sehen…“ Er setzte sich in Bewegung und jede Sekunde wog für Blue wie geschmolzenes Blei. Ihre großen, geweiteten Augen verrieten ihre Panik. „Komm zurück…“, rief sie verwirrt, doch ihre Worte verhallten. Sie war unfähig zwei Gedanken zugleich zu fassen, alles versank in einem undurchdringlichen Nebel. Er entfernte sich immer weiter und ihre Kehle schnürte sich zu. Eine Schwäche überkam sie. Sie schloss die Augen und plötzlich wurde ihr klar, dass sie Omar auf den Leim gegangen war. Sie hätte ihm keine Sekunde Glauben schenken dürfen. Eine große Unruhe packte sie. Sie begann fieberhaft nachzudenken. Zuerst wollte sie dem Korsaren folgen und nach ihm suchen, doch eine unbestimmte Kraft zog sie zurück in den Hof der Apotheke. Sie zögerte und hielt Ausschau nach Ebony. Aber sie war wie vom Erdboden verschluckt. Sie taumelte in den Schuppen, um etwas Fressbares zu suchen und schwankte immer noch zwischen dem blinden Verlangen, dem Korsaren zu folgen und dem Drang, zurückzulaufen. Vielleicht hatte sie in dem Hof etwas übersehen, das wichtig war. Wieder packte sie eine Woge der Schwäche und am liebsten hätte sie sich in einer dunklen Ecke des Schuppens verkrochen und wäre nie wieder aufgetaucht. Doch gleichzeitig fühlte sie sich furchtbar allein. Immer wieder streifte sie das niederschmetternde Bewusstsein, eine nicht wieder gut zu machende Katastrophe zu durchleben. Da draußen lief jetzt irgendwo der schwarze Korsar herum, den sie zu Unrecht beschuldigt hatte. Alles begann sich, um sie herum zu drehen. Wieder tanzte die schreckliche Fratze aus dem Ritual vor ihren Augen in dem dämmrigen Schuppen, dann verblasste das Bild und sie sah wieder die Reflexe der Sonne auf dem Fell des Korsaren vor sich. Draußen senkte sich nun schnell die Dunkelheit herab. Blue lauerte in die Finsternis hinein und zitterte plötzlich an allen Gliedern. Sie starrte in einen offenen Abgrund und nun tauchte die dämonische Maske von Neuem aus dem Schlund auf und kroch mit höhnischem Gekicher und glitzernden Augen näher. Sie erkannte die Hinterlist und die Heimtücke der grausamen Augen, als die Fratze sich noch näher an sie heranschlich, fast so als hätte die Hölle sie ausgespien. In einem glasklaren Moment glaubte sie zu wissen, wer der Mörder war. Fast erstaunt hielt sie einen Moment inne, die plötzliche Erkenntnis packte sie wie ein Zangengriff. Sie lauschte nach draußen und hoffte einen Augenblick lang, der schwarze Korsar würde zurückkommen. Der Schuppen wimmelte plötzlich von gefährlichen Schatten und Blue spürte, die unüberwindliche Distanz, die sie nach ihrer Beschuldigung vom Korsaren trennte. Sie hatte den geliebten Kater tödlich beleidigt. Sie wusste, dass sie nun allein handeln musste, obwohl sie ein würgendes Gefühl der Angst hatte, das sie fast erstickte. Noch einige Sekunden wartete sie auf Ebony, doch als sie sich nicht blicken ließ, raste sie los in die Nacht hinaus.

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Eine in musealer Recherche und volkskundlicher Feldarbeit vom Autor erstellte und geschilderte Entdeckungsgeschichte eines sächsischen Universalgenies. Elias Augst (1775 - 1849) ein "Landbauer in Steinigtwolmsdorf", wie er sich selbst nannte, fertigte nicht nur ein mechanisches Figurentheater, "Das Leiden Christi" in sieben Abteilungen (Heute noch zu sehen im Museum für Sächsische Volkskunst in Dresden), sondern noch weitere mechanische biblischen Szenen, aber auch ein Planetarium, für welches er auf der Dresdner Industrie-Ausstellung 1825 vom König Friedrich August I. eine silberne Medaille zugesprochen bekam, versuchte sich mit Ölgemälden, baute Draisinen und machte Flugversuche...!

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