Manfred Bieschke-Behm

Zeitlos

Dürfen wir Sie fragen, wie es Ihnen geht?“ Der Mann, der mitten auf dem Bürgersteig auf der Erde lag, hatte sein Gesicht mit einem einst weißem Tuch abgedeckt. Neben ihm lagen eine leere Bierflasche und eine prall gefüllte Plastiktüte, die nicht erkennen ließ, was in ihr steckte. Meine Freundin und ich warteten auf eine Reaktion. Wir wollten schon weitergehen, weil es nicht den Anschein hatte, dass die Person Wert darauf gelegt hat, angesprochen zu werden. „Sprechen Sie mit mir“, wurden wir überraschend gefragt, nachdem der Mann sein Gesicht freigelegt hatte. Wir schauten in ein von Entbehrung gezeichnetes Gesicht und in Augen voller Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit. Ich erschrak, über das Gesicht, in das ich sah. Meine Freundin bekam davon was und hatte mich gefragt: „Was ist los mit dir?“ „Ich kenne diesen Mann.“, antwortete ich ihr und konnte nicht glauben wen ich vor mir liegen sah. Auch er schien mich erkannt zu haben. „Wer ist der Mann? „Das ist mein Bruder, den habe ich seit über zwölf Jahre nicht gesehen. Er hatte sich damals von der Familie getrennt und nie etwas von sich hören lassen.“ Meine Freundin war sprachlos. Ich hatte das Bedürfnis meinem Bruder die Hand zu reichen. Irgendetwas hinderte mich daran. War es sein Äußeres, was mich davon abhielt oder nicht zu wissen, ob er Nähe zulassen wird? Zwei vorbeilaufende Passanten warfen ihm ein paar Münzen zu und schauten ihn mitleidig an. Einen dritten hörten wir sagen: Wohl zu faul zum Arbeiten. Früher hätte man so einen wie dich ins Lager gesteckt.“ Meine Freundin und ich waren erschüttert. Beide wussten wir nicht, wie mit der Situation umgehen. „Es ist dein Bruder“, hörte ich meine Freundin wie aus weiter Ferne sagen. „Du musst was tun.“ „Was würdest du tun, wenn es dein Bruder wäre?“, wollte ich wissen. „Das weiß ich nicht“, gab sie mir zur Antwort und schaute mich hilflos an. Der auf dem Boden Liegende richtete sich auf und fragte: „Bis du Elke?“ Ich fing an zu weinen und hielt mich bei meiner Freundin fest. „Du musst unbedingt was unternehmen Elke.“ ‚Aber was‘, schoss es mir durch den Kopf. „Bist du es Elke?“, drang es erneut an meine Ohren. „Ja die bin ich. Deine Schwester.“ „Woran fehlt es Ihnen“, wollte meine Freundin wissen. Mein Bruder Oliver gab ihr zur Antwort: „An allem.“ Würde es dir helfen, wenn ich dir morgen ein paar Sachen vorbeibringe? Etwas Sauberes zum Anziehen zum Beispiel.“, wollte ich wissen. Von meinem Bruder bekam ich keine Antwort. Er nahm das schmutzige Tuch und bedeckte damit erneut sein Gesicht. Ich glaubte er schämt sich oder wollte nicht, dass wir sehen, was die Begegnung mit mir, mit ihm macht. „Dann bis Morgen so um die gleiche Zeit“, erklärte ich. Er sagte: „Was für Zeit? Für mich ist alles zeitlos.“ Wieder überlegte ich was ich ihm antworten könnte. „Schön, dass ich dich gefunden habe,“ sage ich, ohne mir dabei etwas zu denken. “Gefunden ist das richtige Wort. Gefunden wie eine weggeworfene Bierflasche.“ Darauf etwas zu erwidern war ich außerstande. „Oliver, wir gehen jetzt. Wir kommen morgen ganz bestimmt wieder.“ Wir hatten bei der Verabschiedung keine Gelegenheit ihm ins Gesicht zu sehen. Sein Gesicht blieb abgedeckt. Meine Freundin und ich liefen die Straße entlang, ohne dass wir ein Wort wechselten. Später verabreden wir uns für den nächsten Tag um meinen Bruder mit dem Notwendigsten zu versorgen und um ihn zu fragen, wie es weitergehen soll.
Die Enttäuschung war groß. Mein Bruder war nicht vor Ort. Nur das Tuch, hinter dem er sein Gesicht versteckt hatte, lag wie weggeworfen auf dem Asphalt.

 

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