Angelika Güth

Bedruschka im Birnbaum

Frühe Erzählungen

Bedruschka im Birnbaum

Bedruscha saß versteckt in dem alten knorrigen Birnbaum auf dem verschneiten Hügel und schaute traurig auf die Winterlandschaft. Der Schnee schimmerte wie Silber, aber der Himmel war so grau wie das Kopftuch, dass ihre Mutter immer trug. Es war kalt, Bedruschka merkte es. Sie mochte keinen Schnee und sie mochte auch nicht diese schreckliche Kälte in ihren Fingern und in dem langen, schwarzen Haaren. Aber jetzt, auf der dicken Astgabel des alten Birnbaums, fühlte sie sich unantastbar. Von hier oben erschien ihr das kleine Steinhaus ihrer Mutter weit weg.

Sie holte tief Luft,  lehnte sich an den Stamm, fühlte sich irgendwie geborgen, so, wie in den Armen der Großmutter, als diese noch lebte. Hier oben, weit weg von diesem dunklen Haus und ihrer immer zornigen Mutter konnte ihr niemand etwas tun. Sie atmete tief ein, schaukelte langsam vor und zurück. Das tat gut und beruhigte ihre Seele. Doch die Wucht der Schläge auf ihrem Rücken und auf ihrem Kopf spürte sie noch immer. Dabei hatte sie sich doch so sehr angestrengt, es der Mutter recht zu machen.

Sie hatte in das alte braune Linoleum der kleinen Küche den Bohnerwax aus der Blechdose eingerieben und mit dem schweren Bohnerbesen bearbeitet. Ihre Mutter sollte sich freuen , wenn sie vom Markt kam. Vielleicht würde sie sie dann liebhaben, nur ein wenig, so wie die Großmutter sie geliebt hatte. Dieser schreckliche Zorn der Mutter, kam  immer so plötzlich,  machte ihr jedes Mal Todesangst. Geduckt vor den Schlägen, flüchtete sie dann zitternd in eine Ecke hinter dem braunen Küchenschrank, und hielt mit beiden Händen ihren Kopf fest, ohnmächtig ausgeliefert. Manchmal fragte sie sich, tat es der Mutter leid wenn sie so hart zuschlug ? Wenn sie es nur wüsste, dann könnte sie vielleicht verzeihen . Aber sie wusste es nicht.

In der Schule hatte sie heute wieder alles vergessen, keine Aufgabe gelöst, wie so oft in letzter Zeit, und die Klasse hatte sie ausgelacht.  Warum war ihr Kopf nur so leer ? Und in ihrem Hals steckte schon lange ein Kloß wie eine dicke Kartoffel. Bedruschka schluchzte laut und hart.

Ja, es gab auch ein wenig Freude.

Manchmal, wenn sie im Kirchenchor sang, in ihren russischen Märchenbüchern las oder heimlich Gedichte schrieb, die von Schuld, Sühne und einem rächenden Gott handelten und die sie unter ihrer Schreibtischunterlage verbarg.

Manchmal lief  sie zum alten Friedhof, saß hinter großen Ligusterbüschen an der verwitterten  Steinmauer und manchmal  ging in die alte Dorfkirche und betete, dass alles ein Ende haben möge..

Inzwischen hüllte Nebel den Birnbaum ein und Bedruschka fühlte sich wie in einem weißen Wattebausch. Komisch, sie fror gar nicht mehr und das Haus ihrer Mutter war inzwischen nur noch ein kleines, fernes Fensterlicht in der Dunkelheit. Ob ihre Mutter gemerkt, dass sie nicht in ihrem Zimmer war? Machte sie sich vielleicht doch Sorgen um sie ? Aber bei dem Gedanken, wieder nachhause zu müssen, schluchzte Bedruschka auf und zitterte wie ein trockenes Blatt im Winterwind. Nein, nachhause würde sie nicht mehr gehen, nie mehr. Ihr Kopf wurde müde, ihre Gedanken wanderten.

Wenn sie doch zaubern könnte, wie in den russischen Märchen, dann würde sie sich jetzt ganz weit wegzaubern. Aber vielleicht war es ja gar nicht so schwer sich einfach weg zu zaubern, ein Vogel sein, in den Himmel fliegen. In den Himmel, ja, das wäre schön.

Sie nahm all ihren Mut zusammen, schloss die Augen und zählte: eins, zwei, drei. Dann hielt sie den Atem an, wartete. Aber nichts geschah. Noch einmal, sie musste es noch einmal versuchen, ein Vogel sein, in den Himmel fliegen . Sie holte noch tiefer Luft, kniff die Augen fest zu und konzentrierte sich, wie sie sich noch niemals in ihrem Leben konzentriert hatte. Dann zählte sie wieder: eins, zwei drei, wartete. Ihr Herz klopfte laut, ihr Körper wurde leicht, immer leichter, ganz leicht, so schön, und dann wurde es ganz still in ihr und es geschah.  Bedruschka verwandelte sich in  einen großen, wunderschönen Zaubervogel  mit  dunkelblauen und grün gold schimmernden Flügeln, die immer größer wurden und im weißen Mondlicht wunderschön glänzten.

Und wie im Traum breitete Bedruschka weit ihre Flügel aus und eine weiche, sanfte Luftströmung trug sie zu den Sternen.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 16.07.2021. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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Ein Tag im Februar des Jahres 2006. Der EDV- Fachmann Klaus Gruschki kann kaum ausdrücken, was er empfindet, als er seine neugeborene Tochter Leoni im Arm hält. Seine Frau Michaela und er sind die glücklichsten Menschen der kleinen, süddeutschen Provinzstadt und voller Vertrauen in die gemeinsame Zukunft. Doch die Beziehung und das Glück zerbrechen. Auf einmal ist Klaus allein und Michaela mit Leoni verschwunden. Erst nach langer Suche und mit großen Mühen gelingt es dem Vater, Mutter und Kind wieder zu finden und den Kontakt zu Leoni neu herzustellen. Dann entzieht ein bürokratischer Akt dem Vater die gemeinsame Sorge fürs Kind. Gruschki weiß sich nicht anders zu helfen, als seinerseits mit der Tochter heimlich unterzutauchen. Nach einer dramatischen Flucht wird er in Österreich verhaftet und Leoni ihm gewaltsam entrissen. Er kommt in Haft und wird als Kindesentführer stigmatisiert. Doch Klaus Gruschki gibt den Kampf um sein Kind und um Michaela nicht auf …

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