Steffen Herrmann

Die (fehlende) Zukunft der Menschen auf lange Sicht

Als Jugendlicher hatte ich versucht, einen Roman zu schreiben. Die Handlung spielte im sechsundzwanzigsten Jahrhundert und war auf dem Mars angesiedelt. Es ging um einen Computer, an den sämtliche Produktionsanlagen angeschlossen waren und der mehr oder weniger alles verwaltete. Als ihm eine anspruchsvolle Aufgabe gestellt wurde, gelangte er zu Bewusstsein und reklamierte den Planeten für sich. Der Mars musste evakuiert werden, letztlich wurde der Rechner aber zerstört. Ein Sieg der Menschen, aber ein bitterer und vielleicht letzter.
Bei der Beschreibung des alltäglichen Lebens stiess ich auf das Problem, geeignete Berufe zu finden. Was immer mir in den Sinn kam, ich hatte den Verdacht, dass diese Aufgaben in der fernen Zukunft von der Technik erledigt werden würden.

Ich gelangte zu der Überzeugung, dass in absehbarer Zeit jede Arbeit von der Künstlichen Intelligenz übernommen werden wird und den Menschen dann keine Aufgabe mehr bleibt. Wie das im Einzelnen erlebt wird, ist aus der Perspektive der Entwicklung nicht mehr relevant. Entscheidend ist, dass der Möglichkeitsraum der menschlichen Gesellschaft Grenzen hat, vor allem was die Beherrschung und Entfaltung von Komplexität betrifft.

Ich entschied mich, das Gebiet der Literatur zu verlassen und stattdessen eine spekulative Geschichte dieser Transformation zu schreiben, in der fiktive Personen oder Ereignisse nicht nötig waren. Die Strukturen des Übergangs der Produktionen (und zwar sowohl der ökonomischen, der künstlerischen als auch der wissenschaftlichen) von der menschlichen in die kybernetische Sphäre mussten als eine zeitliche entfaltet werden. Das führte zu einem Text, der weder Belletristik noch Philosophie, noch Wissenschaft sein konnte. Von Literatur trennte ihn der Anspruch, keine blosse Fiktion zu sein, sondern Entwicklungen zu beschreiben, die tatsächlich bevorstehen. Es handelte sich auch nicht um Philosophie, denn in einer wesentlichen Hinsicht war eine Geschichte zu erzählen, die in naher Zukunft beginnt und einige Jahrhunderte dauert. Und schliesslich konnte es sich nicht um Wissenschaft handeln, weil die Prozesse und die Strukturen, welche beschrieben und analysiert werden, zumeist noch gar nicht bestehen.

Die Hauptlinie der prognostizierten Entwicklung ist von schlagender Einfachheit. Durch die fortwährende Verbesserung der Technik übernimmt diese immer mehr und schliesslich sämtliche Arbeiten des Menschen (auch die intellektuellen), was schliesslich zur Entkopplung des kybernetischen Systems führt.

Als Reaktion auf diese Entwicklungen, und das ist eine interessante Nebenlinie, kommt es zu Programmen der genetischen Optimierung. Diese sind von dem Bedürfnis motiviert, sich in den knapper und anspruchsvoller werdenden Arbeitsmöglichkeiten zu behaupten, treiben aber letztlich die Entwicklung der KI weiter. 
Auch der Wunsch, sich von biologischen Restriktionen wie der Sterblichkeit zu emanzipieren, spielt eine Rolle. Sämtliche Kontingenzen der menschlichen Körperlichkeit stehen zur Disposition.

Die Künstliche Intelligenz stellt den Menschen ihre eigene Komplexität zur Verfügung, entlastet sie von den Mühen der Erwerbsarbeit, versorgt sie in vollem Umfang. 
Im Gegenzug vervollkommnen die Menschen dieses weltumspannende System einer automatisierten Produktion fortwährend und steuern es auch dann noch durch ihre Eingriffe und ihre Bedürfnisse, wenn es längst Ansätze einer eigenen Evolution zu zeigen beginnt.
Hinsichtlich des Gesellschaftssystems handelt es sich in der fortgeschrittenen Phase dieses Transformationsprozesses weder um ein Ermöglichungs- noch um ein Konkurrenzverhältnis. 
Es ist kein Ermöglichungsverhältnis, weil die Arbeitsplätze, welche von der KI übernommen werden, die Menschen zwar freisetzen, aber - mangels sinnvoller Alternativen – für nichts freisetzen. 
Und es handelt sich um keine Konkurrenz, weil Arbeitsplätze keine Ressourcen sind. Die KI übernimmt Aufgaben, die Menschen nicht erledigen möchten oder – und das zunehmend – nicht können.

In der Sprache der Theorie geht es also um eine operative Schliessung, die beginnende Autopoiesis des kybernetischen Systems.

Die Emergenz der kybernetischen Sphäre erzwingt also eine neue Reflexionsform der Gesellschaft. Sie kann ihre Selbstreferenz nicht mehr nur in einem zukunftsoffenen Sinnhorizont produzieren, stattdessen wird sie zu einem System, dessen Grenze zwei Seiten hat. Sie erkennt, dass sie in einem geschlossenen Formenraum operiert und es wird absehbar, wann für sie weitere Entwicklungen nicht mehr möglich sind. Jenseits dieser Komplexitätsschwelle sind dann nur noch die nun autopoietische Künstliche Intelligenz und eventuell – zumindest temporär – transhumane biologische Arten dazu fähig, weitere Komplexität aufzubauen.

Eine solche analytische Erzählung hat ein Problem: Sie reflektiert eine Story, die auch anders erzählt werden könnte. 
Obwohl er anderes vielleicht versichern möchte, kann ein solcher Text seiner Kontingenz nicht entkommen. 
Er kann nichts in sich enthalten, was einen skeptischen oder auch nur kritischen Leser dazu bringen könnte, seine Vorhersagen auch ernst zu nehmen.
Er kann sein eigenes Fundament nicht liefern, sondern höchstens auf eine solche Theorie als einen ihm fehlenden, doch notwendigen externen Bezugspunkt verweisen.

Es war also nötig geworden, sich nach einer geeigneten Theorie umzusehen, sie zu entfalten und zu formulieren. Diese Aufgabe erwies sich bald als so besitzergreifend, dass der ursprüngliche spekulative Text zuerst marginalisiert und dann ganz verdrängt worden ist.

Eine die Zukunft prognostizierende Theorie benötigt vor allem eine tragfähige Grundlage für ihre Deduktionen. Sie kann also, weil sie Vorhersagen zu machen beabsichtigt, die über die menschliche Gesellschaft hinausreichen, kaum in der Gegenwart, der jüngeren Vergangen-heit, ja nicht einmal in der Geschichte insgesamt ein zureichendes Fundament finden. 
Sie muss weiter zurückgehen.
Dabei stellte sich bald heraus, dass keine natürliche Grenze zu finden ist, an der sich Halt machen lässt. Stattdessen muss bis an den Ursprung selbst zurückgegangen werden.

Ich versuchte nun herauszufinden, ob es mir möglich war, einen solchen Ursprung zu beschreiben, und von ihm ausgehend in einer zweigleisigen Bewegung vom Früheren zum Späteren und vom Einfachen zum Komplexen die sich entfaltenden Strukturen zu thematisieren und zwar derart, dass sich die ursprüngliche These als natürliche Konsequenz der Theorie ergibt. 
Dabei musste eine Methode angewendet werden, mit der sich die Gegenwart passieren lässt, die also von der Analyse des Gewesenen und des Bestehenden zum Zukünftigen übergehen kann, ohne dass es dabei zu einer Bruchstelle kommt, durch die die Glaubwürdigkeit der Theorie verlorengehen würde.

Weil Spekulationen grundsätzlich für verzerrende Interpretationen anfällig sind, ist ein leistungsstarkes Korrektiv nötig. Ich habe deshalb versucht, das rein Spekulative soweit wie möglich zurückzudrängen und die Aussagen des Textes in den Resultaten der Wissenschaft zu fundieren, womit diese zum Prüfstein wird, an dem eine solche philosophisch orientierte Theorie sich zu bewähren hat.

Es war also eine allgemeine Theorie zu entwerfen, eine Theorie, die zwar nicht alles enthalten kann, aber auch nichts als Thema zurückweisen darf. Eine Theorie, die zwar auf einen hohen Abstraktionsgrad angewiesen ist, sich aber jederzeit konkretisieren lassen muss.
Das weite und offene thematische Spektrum erzeugt dabei fortwährend zentrifugale Kräfte: der Versuch, dabei einen konsistenten oder sogar kohärenten Text zu entwickeln, droht immer wieder zu scheitern.   

Ein zu lösendes Problem besteht darin, die richtige Distanz zur Wissenschaft zu finden. Es war dabei sowohl zu vermeiden, sie zum Illustrieren von Thesen zu benutzen, als auch, ihre Ergebnisse bloss zu kommentieren oder sich sogar in laufende Auseinandersetzungen zu verwickeln.
Die Lösung, die ich gefunden habe, besteht darin, diese Bezüge aus dem Haupttext (gewissermassen der gedanklichen Aorta) zusammen mit verdeutlichenden Beispielen und gedanklichen Assoziationen auszulagern. Damit wird er zwar von einem Übermass an Komplexität entlastet, aber es entsteht dabei auch ein System von Fussnoten, das häufig droht, ihn zu überwuchern.

Der Text gliedert sich in elf Kapitel. Zunächst musste geklärt werden, in welchen Kontext historischer und gegenwärtiger philosophischer Strömungen er sich einzuordnen hat (erstes Kapitel). Dann musste eine Methode beziehungsweise ein geeigneter Leitbegriff erarbeitet werden, um eine organische Theorie zu ermöglichen (zweites Kapitel). Nach diesen Vorarbeiten liess sich von einem Anfang ausgehend das Hervorbringen immer anspruchsvollerer Formen aus dem bis dahin Gegebenen (drittes bis elftes Kapitel) und schliesslich die Etablierung der autonomen Operatoren als die komplexeste Struktur beschreiben (letztes Kapitel).
    
Die zentrale Frage ist allerdings, inwiefern eine Prognose wie die hier vorliegende überhaupt zulässig sein kann. Es wird nicht bestritten, dass kein System seine eigene Zukunft vorhersagen kann. Darüber hinaus lässt sich heute nicht mehr gut die Idee vertreten, dass sich von einer privilegierten Region aus die Wahrheit verkünden lässt. Niemand sieht mit dem Auge Gottes.
Das alles sich schwerwiegende, vielleicht unüberwindliche Hindernisse. 
Der Leser ist nun aufgefordert zu prüfen, ob das hier Geschriebene überzeugt.


Der vollständige Text findet sich auf meiner Website www.allgemeinetheorie.de

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 16.07.2021. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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