Jörg Aßmann

Der Beobachter

Langsamen, fast schleichenden Schrittes betritt er das Café. Er ist früh dran, wie jeden Tag. So hat er noch die Auswahl zwischen den Plätzen. Vorsichtig, als wolle er dieses Bild nicht zerstören, umgeht er die Tische und Stühle, nähert sich der Sitznische an einem der großen Fenster. Halb erlöst, halb angespannt gleitet er an den gewohnten Platz, nickt knapp der Kellnerin zu, deren Namen er nicht kennt obwohl er sie täglich sieht, und bestellt sich Kaffee.
Während er wartet, treiben seine Gedanken und der Geist lässt den Händen Spielraum, welche wie von selbst mehrere Dinge auf dem Tisch arrangieren. Zigaretten und Feuerzeug zur Rechten, unweit des Aschenbechers. Die Mitte vereinnahmt der kleine Block, der billige blaue Kugelschreiber liegt quehr darüber. Die linke Seite bleibt frei, denn ungestört soll jede Facette des Panoramas sich vor seinen scharfen Augen entfalten. Mit einem leisen kurzen Klirren wird der Kaffee abgesetzt. Ohne hinzusehen wandern drei Stück Zucker sowie ein Schluck Milch hinnein und automatisch beginnt die rechte Hand damit, den Löffel zu ergreifen und das heisse dampfende Getränk umzurühren.
Die Sinne bekommen nichts davon mit, zu vernachlässigt sind sie, bis auf einen. Die Augen sehen hinnab auf die Strasse, den Regen der Dort pfützenbildend zu Boden prasselt und die kleinen geduckten Gestalten, die mit Schirmen oder aber dick eingemummt und vorgebeugt geschäftig hin und her eilen. Er weiss nicht welches Ziel sie haben, zu grau und fern ist das Kaleidoskop der Masse.
Dennoch, aus dem öden Einerlei erheben sich immer wieder vereinzelte Punkte die seine Aufmerksamkeit auf sich ziehen.
Die junge Frau auf dem Fahrrad dort, wie sie sich mühsam durch die Menge drängelt, nicht bereit abzusteigen, das lange dunkle Haar hängt ihr nass ins bleiche Gesicht. Eine Studentin auf dem Weg zur Vorlesung?
Der dahineilende oft andern ausweichende Mann im Anzug, die Arme fest um den Mantel gewickelt, der nicht ganz geschlossen immer wieder aufgeht und unter dem die Kravatte langsam feuchte Flecken von Spritzern und Sprenkeln bekommt. Ein Bankier auf dem Weg zum Schalter?
Die drei Kinder, mit ihren großen knallbunten Ränzen fröhlich am Strassenrand tanzend, ja sogar in die Pfützen hüpfend und lachend fliehen vor dem Verdruss der getroffenen Erwachsenen, unbeschwert und sorgenfrei. Schüler eben, nicht wissend welche Sorgen das Leben mit sich bringt.
Sorgsam nehmen seine Augen jedes Detail war. Das Wackeln das Fahrrades, welches in der Menschenmenge nur langsam gefahren werden kann. Die Wassperlen auf der Aktentasche, welche immer wieder von den Stößen des Mantels umweht aber nie getrocknet wird. Das Geld und Blau der Gummistiefel, die den Weg wie auch die Pfützen gleichermassen oft passieren.
Die rechte Hand hat schon lange mit ihrer Arbeit begonnen. Den Kugelschreiber sorgsam umklammert beginnt sie damit, Bilder einzufangen und auf Papier zu bannen. Stück reiht sich an Stück, Facette an Facette. Er sieht was ihm auffällt, jagd förmlich nach dem Besonderen, um es dann in wenigen Sekunden zu vereinnahmen und wieder zu veräussern. Strich um Strich entsteht eine Kopie dessen was dort draussen vorgeht, während er hier drinne sitzt, im Trockenen, auf der bequehmen Ledercouch vor dem langsam erkaltenden Kaffee.
Doch keine Bilder sind auf dem einstmals weissen Papier zu sehen. Buchstaben und Worte, dicht an dicht, Reihe über Reihe, jede noch so kleine Stelle füllt sich hastig, bevor das volle Blatt dem nächsten leeren weichen muss, welches ebenso schnell die Eindrücke wahrnimmt.
Die Zeit vergeht langsam. Zigarettenstummel sammeln sich im Aschenbecher und die Kaffeetasse, nunmehr halb geleert, ist gezeichnet von Ringen ihrer früheren Inhaltsstände, so selten verringtert diese sich. Die beschriebenen Blätter erobern nach und nach den Tisch, breiten sich aus und halten die Zeit fest, die er hier verbrachte. Die Wolken lichten sich langsam und der lange Regen neigt sich dem Ende entgegen. Langsam, fast wiederstrebend, hält der Kugelschreiber inne und hört auf damit, in leisen gelegentlichen Kratzgeräuschen über unschuldiges Weiss zu eilen.
Er streckt sich und gähnt, sieht sich um als nähme er erst jetzt seine Umgebung wirklich war, zuckt zusammen über den Pegel der Gespräche, sind doch mittlerweile die Gäste zahlreicher geworden. Sorgfältig sammelt er die gefüllten Blätter ein, überfliegt sie, manchmal mehrmals, faltet sie in der Mitte und steckt sie in die Tasche, Block und Kugelschreiber folgen. Mit leisem Seufzer drückt er die letzte Zigarette aus, runtergebrannt fast bis auf den Stummel, streckt sich kurz und greift zur Tasse. Ohne sichtbaren Widerwillen nimmt er in großen Schlücken die zweite Hälfte des kalten und fade schmeckenden Getränks zu sich, winkt der Kellnerin und holt das Geld hervor.
Als er aufsteht, nickt er den anderen Gästen knapp zu und beginnt wie jeden Tag mit seinem vorsichtigen unmerklichen Rückzug, die Augen ständig unterwegs um selbst beim Rausgehen noch weitere Details einzufangen. Geschickt weicht er anderen Gästen aus, schliesst die Jacke und verlässt das Café. Es wartet Arbeit auf ihn, unzählige Zettel als Teil seiner noch ungeschriebenen Geschichten, denn immerhin kann ein Autor nicht von Beobachtungen alleine Leben.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 14.10.2003. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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