Karl-Konrad Knooshood

Deutschsprachige Musikwunder 79 - Buchstabe W 705 bis W 715



 

  1. WITT/HEPPNER – "Die Flut" (1998)

Ein behäbig rumpelndes Orgel-Thema, Regen- und Donnergeräusche, eine extrem tief gestimmte Bassgitarre und das noch schwerfälliger rumpelnde Schlagzeug, eine Soundwand aus faustdicken Hagelkörnern oder gleich eine akustische Flutwelle baut sich vorm inneren Auge des Hörers auf, eh nach einigen Sekunden eine intensiv-tiefe, schwermütig-schwarzgallige Männerstimme erklingt, mehr grollend aus tiefstem Rachen als singend.

"Wenn ich in mir keine Ruhe fühl – Bitterkeit mein dunkles Herz umspült…" beginnt NDW-Legende JOACHIM WITT, der hier vom Sänger PETER HEPPNER, der das Lied auch mitkomponiert hat, unterstützt wird. In den Strophen allerdings noch nicht. Da ist nur sein eigenes auf Moll gestimmtes Organ zu hören.

Im Refrain, der dann ordentlich schwer aber heftig los rockt, die Soundwand über den Hörer einstürzen lässt wie eine gewaltige Flutwelle, die den Erwähnten unter sich begräbt, kontrastiert sich schön WITTs extreme Bassstimme mit der hellen, abgeklärt-melodiösen HEPPNERs, was eines der schönsten, spannendsten und gehaltvollsten Lieder (auch textlich) ergibt, die jemals in Deutschland gemacht wurden. Leider wird dieses Lied bis heute weit weniger beachtet als viele andere 90er-Kracher, egal ob auf Englisch oder Deutsch, die weit weniger Tiefgang (nicht nur stimmlich) besitzen. Es ist ein ganz großartiger Song, der über seelische Abgründe, möglicherweise Depressionen erzählt, deren Heilung oder Durchbrechung durch eine heftige Flut erwartet wird. Eine Flut als eher zerstörerisches, negatives Naturgewalt-Element soll hier die drastische Erlösung sein, die alles fortspült, das schlecht ist, die einen nicht unter sich begräbt und sich tödlich auswirkt, sodass man, selbst wenn man es schafft, nicht von ihr rein erschlagen zu werden, in ihrem Sog erstickt oder ertrinkt. Sondern die einen mit fortnimmt "in ein anderes, großes Leben – irgendwo". Selbstzweifel, Weltzweifel, ein Hadern mit der Welt: "Und du rufst in die Welt – dass sie dir nicht mehr gefällt". Doch zugleich auch die Resignation: "Doch es wird keine andere geben". Zugleich ist es der Wunsch nach einer besseren Welt, einer Wirklichkeit, die nie bestehen kann. Man ist unzufrieden mit der existierenden Welt. Soll diese durch eine Flut beseitigt/hinweggespült werden? Ist man so destruktiv? Ist man so, dass man nicht das Gute-Alte anerkennt und es bewahrt, während man das Schlechte-Alte zerstört, sodass etwas Neues-Besseres aus ihm erwachsen kann? Fragen über Fragen, die mich noch lange über dieses erhabene Stück Rock-Synthi-Pop rätseln lassen werden. Auf einsamen Inseln, wo besser? Übrigens wurde dieses Lied, das durchaus noch gelegentlich im Radio gespielt ward, wie einige andere (2006 erschien JULIs "Perfekte Welle") aus dem Programm verbannt, da es einige reale große Fluten/Überschwemmungen, etwa auf Haiti, gab. Man hielt nach gewissen Fluten den Song für unpassend, obgleich er inhaltlich nichts mit der realen Naturgewalt und ihrer Destruktivität zu tun hat. Auch bei der "perfekten Welle" ging es nicht um eine reale Flut(-Welle) und deren Verherrlichung, sondern um die Hoffnung auf die große, ultimative Liebe, die plötzlich, unverhofft, auf einen zukommt und deren Existenz und Eintreffen man zunächst nicht glauben kann. Ach, würde man doch mal genauer hinhören, worum es in Liedern wirklich geht!

 

  1. WIZO – "Anneliese Schmidt" (1997)

Einer der ersten DIE-ÄRZTE-Songs, aus ihrer Frühphase, 1982, war ein dämonischer Tabubruch (wie für DIE ÄRZTE typisch), in welchem früh das Thema Kannibalismus behandelt wurde, lange bevor der Horror-Fall mit dem "Kannibalen von Rothenburg" und ein wenig später das Lied "Mein Teil" von RAMMSTEIN ans Licht der entsetzten Öffentlichkeit kam. 2000 hatten DIE ÄRZTE ein Lied auf ihrem Album mit dem sonderbarsten Titel überhaupt: "Runter mit den Spendierhosen, Unsichtbarer". Dieser Song hieß schlicht "Baby" – und behandelte das Thema Kannibalismus auf besonders satirische, völlig überzogene Weise: "Wenn dir der Magen knurrt, ruf 110 statt Call-A-Pizza!" – am Ende hieß es dann: "Gib Schweinen eine Chance – iss lieber einen Kindergarten leer!" Alles völlig überzogener Humor. Klar. Und wenn es gegen Kinder geht, kann manch ein Mensch, inklusive meiner Person, empfindlich werden. Es ist rein fiktiv. Ich glaube auch nicht, dass sich der Rothenburger Kannibale das Lied "Baby" zu Herzen genommen hat. Nein, ARMIN MEIWES war vorher schon leicht gestört gewesen…Das Timing damals aber, 2000, etwa ein Jahr vor der Tat dieses HANNIBAL LECTOR für Arme und Gestörte, hätte kaum "perfekter" sein können…Scheißegal. 1982 jedenfalls ging es in der Phantasie auf eine bizarr-verstörende Reise ins Hirn eines Psychopathen (der natürlich, damit 's unmittelbarer wird, aus der Ich-Perspektive erzählt), der sein junges Nachbarkind, ein Mädchen namens "Anneliese Schmidt" beobachtet und sich wünscht, dass "etwas von Anneliese auch ich mir wäre", woraufhin ganz zum Schluss, vorm letzten Refrain erst das Geheimnis gelüftet wird: "Ich ess das Kind – von meinen Nachbarn auf!". Soweit – so heftig. 15 Jahre später, DIE ÄRZTE hatten, mit fünf Jahren Unterbrechung wegen Band-Trennung von 1988 bis 1993, keine neue Musik mehr gemacht, ihr großer Erfolg mit einem ersten Nummer-1-Hit in den Charts stand noch ca. ein Jahr bevor ("Männer sind Schweine", 1998), doch sie hatten mit ihrem Comeback-Album 1993 ("Die Bestie in Menschengestalt") schon gut was vorgelegt.

Das erste Lied, das ich von der stringenten Sindelfingener Punkband um Sänger AXEL KURTH hier vorstelle, ist also eine Coverversion. Die aber im Gegensatz zum Original voll abgeht: Hier wird in die Gitarrensaiten gegriffen und richtig punkig-rockig vom Leder gezogen, wohingegen das Original mit ein wenig Gitarrengeklimper und extrem langsamem Schlagzeug auskommt, zu dem im Original zumindest makabereren Gesang. Das Original ist brav, die Coverversion ist cool.

Der Anlass war die Doppel-CD, das Doppel-Tributalbum "Götterdämmerung", auf dem diverse Weggefährten, befreundete Bands und einige andere der deutschen Independent- und Alternative-Rock- sowie Underground-Rockszene jeweils Hits der Band DIE ÄRZTE coverten, hauptsächlich natürlich welche aus deren Frühzeit in den frühen bis späten 80ern, aber auch von den drei in den 90ern bis dato erschienenen Alben "Die Bestie in Menschengestalt (1993), "Planet Punk" (1995) und "Le Frisur" (1996). Diese Coverversion ist eine der besten, wenn nicht die beste auf dem Doppel-Tribut-Album. Auch damals aktuelle Bezüge werden eingebaut. Ein kritischer Text über seine damalige Lehrerin, Frau SCHMIDT, hatte DER WOLF (siehe viel weiter oben mit "Gibt’s doch gar nicht!") nämlich 1997 einen Hit, deshalb kommt zum Schluss hin ein Zitat aus dem Hit "Oh shit, Frau Schmidt", das im Original der frühen 80er natürlich noch nicht enthalten weil unbekannt war.

Horrend und schauerlich – aber soundtechnisch geil, geil, geil. Mit extra viel Punksoße!

 

  1. WIZO – "Anruf" (1994)

Im weiteren Verlauf der paar WIZO-Lieder, die ich hier besprechen möchte und muss, werde ich diese Band noch genug zerpflücken. Kritik wird kommen, von schärfster Sorte. Demnach will ich es zunächst mit einem Quäntchen Nettigkeit versuchen: Dass AXEL KURTH und seine damaligen Mannen (die Urbesetzung WIZOs ist eine andere – da seine beiden alten Bandveteranen keine richtige Lust hatten, die Band zu reaktivieren, schnappte sich KURTH ein Duo der Willigen und somit zwei wesentliche Bestandteile einer Punkband: Bassisten und Schlagzeugspieler. Dieses Lied, das wie "Bei Dir", "Bleib tapfer", "Die letzte Sau", "Mein Tod" und "Nix & Niemand" sowie "Überflüssig", in der Urbesetzung aufgenommen wurde, ist ein ungeheuer experimentelles. Es gibt eine Melodie und eine Art von "Text", der allerdings umringt ist von diversem Gesprochenem. Der Scherzbold AXEL KURTH konnte nämlich auch mal nicht bierernst und in schwarz-weiß-denkerischer Punkrocker-Manier ein einseitiges Weltbild ohne Nuancen, das ihm "ein JOSEF GOEBBELS mit Freuden abgezeichnet hätte" (SHLOMO FINKELSTEIN), experimentieren. Kreativ sein. Für mich war es auf einem Album, gleich welcher (deutschen oder internationalen) Band, ein absolutes Novum, dass eine Technologie, die erst ab den Fünfzigern in Deutschland aufkam, aber noch bis in die späten Achtziger ein wahres Luxusgut war (inzwischen ist sie in jedes Handy, Smartphone und jede digitale Telefonanlage automatisch als verfügbare Funktion integriert), für eine Aufnahme dieser Art verwendet wurde.

Wie der Name des Tracks bereits andeutet, handelt es sich um einen Anrufbeantworter (coole Leute sagen heute: Mailbox), der hier nicht nur für das Aufsprechen sprachlicher Nachrichten, sondern auch für Gesang inklusive Instrumentenbegleitung genutzt wird. Abgefahren.

 

  1. WIZO – "Bei Dir" (1992)

Eh ich meine Schimpfe über diese Band beginne, muss ich sagen: Ihr früheres Repertoire war wunderbar, jedes Lied ein Treffer, schöne Themenvielfalt, Fun- und Ernst-Punk mit Höhen und Tiefen, Tiefgang und Hohlheit, dem gesamten Spektrum menschlichen Lebens. Diese Nummer ist schnell erzählt: Musikalisch haben wir hier einen turbofixen Punktrack, lupen- und sortenrein, zack-zack geht’s zur Sache – und ruckzuck sind die Ohren durchgespült, bewusst schrammelig und trotzdem geil! Einfach geil! Geil, geil! Das Thema umso bizarrer: Wir haben es hier mal wieder mit einem "Omaboy" (siehe unter DIE ÄRZTE, sehr viel weiter oben), einen jungen Kerl, der aus irgendwelchen unerfindlichen Gründen auf ältere Damen steht, und zwar sexuell, sie nicht einfach nur sympathisch findet. Während erwähntes ÄRZTE-Lied eine fast schon geschmackvoll-züchtige Anbetung des (weiblichen) alternden Geschlechts ist, geht der lyrische Protagonist dieses rattenkurzen Titels, der kaum über 1,5 Minuten hinausgeht, noch weiter. "Ich möchte gern der Zettel sein – an deinem großen Zeh" beginnt er seine stürmische Liebeserklärung, mit anderen Worten: Er will seiner sehr betagten Angebeteten bis ins Leichenschauhaus folgen und dort als Zettel an ihrem Zeh weiterexistieren. Bzw. mit ihr auf diese Weise in den Tod und vielleicht über die berühmte Schwelle gehen. Sein Dilemma schildert er auch im weiteren Songverlauf, dessen Text überwiegend wie ein harmloses Liebeslied aufgebaut ist: "Dass ich nur alte Damen lieben kann, das scheint jetzt fatal – denn so alte Damen – die sterben nun einmal!" – Die bizarre Liebesvariante. Man könnte fast sagen: Solcherlei Liedtexte könnte sich nur ein deutscher Liedermacher ausdenken. Weit gefehlt jedoch, wenn man einige der krankeren Texte englischsprachiger Bands aus aller Welt übersetzt…Nun ja: WIZOs Beitrag zum Thema Tod, Sterben, Liebe über den Tod hinaus.

 

  1. WIZO – "Bleib tapfer" (1992)

Was hatte ich nicht schon alles über diese Jungs gesagt, seitdem sie sich 2014 (nach fast siebenjähriger Pause) wiedervereint hatten? Im Nachhinein möchte ich sagen: Eine mittlerweile längst überflüssige Punkband mehr auf diesem Schrottplaneten, eine mehr in der deutschen Musiklandschaft, die durch sie ungefähr so bereichert wird wie durch messerstechende Muslim-Migranten mit Vergewaltigungsgelüsten oder ein bis obenhin vollgeschissenes DIXI-Klo. Denn in Zeiten, in denen der Mainstream politisch, sozial, gesellschaftlich und kulturell derartig stark nach links gerutscht ist (siehe auch: Overton-Fenster), wittern die linksradikalen Bands wieder Oberwasser. Da deren Scheiße, im Gegensatz zu dem ebenso ekelhaften rechtsradikalen Band-Zeug, von dem jeder die Finger lässt, der noch bei Verstand ist, nicht illegal ist (wieso nicht? ausgleichende Gerechtigkeit und so), können sie sie ungehindert in den Äther blasen und ernten für ihre simple Gut-Böse-, Nichtnazi-Nazi-Dichotomie noch Applaus. Gleichzeitig entlarven sie sich als die Heuchler, die sie sind. Als das Land noch wesentlich konservativer regiert wurde (von einer KOHL-CDU, die den Namen einer konservativen Partei noch verdient hatte) und hartlinke Strömungen noch ordnungsgemäß, gleichermaßen wie hartrechte verfolgt und ggf. deren Zeug indiziert oder zensiert wurde, hatten diese Leutchen selbst ein sehr schweres Leben. Seitdem sie überall die Zügel in der Hand haben und die CDU bis zur Unkenntlichkeit nach links gerückt, die einzig konservative Partei, AfD, jedoch geschmäht wird, entpuppen sie sich immer mehr als die Arschgeigen, die jegliches Andersdenken am liebsten unter Strafe gestellt sehen wollen und ihre Gegner lieber zensieren lassen als sich mit ihnen argumentativ auszutauschen. Die alles gern als "Hassrede" brandmarken, das ihnen widerspricht und sich unbequem nahe zur Wirklichkeit verhält. Wären sie sich der Überlegenheit ihrer Argumente so sicher, bräuchten sie freilich keine Zensur. Auf dass das "bessere" Argument gewinne, vielmehr das überzeugendere, das war einmal demokratische Devise. Leutchen wie AXEL KURTH und seine Mannen lässt dies kalt. Die erinnern sich offensichtlich nicht daran, als deren Werke zum Teil zensiert oder indiziert wurden, als es Prozesse gab, in denen sie um ihr Recht auf freie Meinungsäußerung und Kunstfreiheit kämpfen mussten. Nein, sie sind selbst die eifrigsten Hobby-Denunzianten und –Inquisitoren, die in jedem menschlichen Wesen (theoretisch) stecken, die man aber nicht herauslassen sollte. Das 2016 erschienene Album "DER" (siehe ALBEN) ist ein Beispiel für diesen unsäglichen Punkshit, der nur zwei Pole kennt. Ja, ich bin etwas wütend auf diese Band, muss jedoch anerkennen, dass sie früher einige für mich bis heute hörenswerte Liedbeiträge wertvoller Art, unter ihnen ein Anti-Neonazi-Lied, dem ich mich vorbehaltlos anschließen könnte, träfe die dortige Klischee-Beschreibung nicht auch auf die militante Antifa, andere linksradikale, linksextreme Gruppierungen, das Denken der SED (zurzeit: DIE LINKE) usw. zu zum einen – und wäre zum anderen nicht gewiss, dass sie heutzutage jeden Nichtlinken über einen Kamm mit der Nazimischpoke scheren würden!

 

Kommen wir zu diesem Lied: Es ist eher kein klassischer Punk-Track, hier werden ruhigere Töne fast schlagerhafter Art angestimmt. Das ist gut so, denn wie ich unten noch weiter ausführen werde bei einem der anderen Lieder, nämlich "Chezus", ist Punkrock immer dann besonders gut und zugänglich, wenn er sich selbst gelegentlich nicht zu ernstnimmt. Wenn es auch vom Musikalischen her kein klassischer Punk, schon gar nicht die überdrehte Turbo-Version ist, kein Geschrammel angebracht also. Gemächlich sprudelt dieses humorige Kleinod vor sich hin und erzählt dazu die fiktive Geschichte eines zwar nicht sehr schlauen, aber dafür sehr zähen, überlebensfähigen Goldfischs und seines auch nicht über alle Maßen mit IQ gesegneten Besitzers, der das Aquarium kurzerhand auf den Herd stellt, als der Fisch sich scheinbar etwas kühl fühlt. Dem Lied, das der Titelsong der ersten Hälfte des 1992 erschienenen Doppelalbums "Bleib tapfer/Für 'n Arsch!" ist, kann man immer noch entspannt lauschen, es ist weiterhin ein Beispiel für exzellenten deutschen Humor in Liedform verpackt. Aufdrehen und zuhören. Hier kommt:

 

  1. WIZO – "Chezus" (2005)

Meine alten Lieblingspunkbands sind/waren immer dann am besten, wenn sie augenzwinkernde Ausflüge ins komödiantische, parodistische Gebiet unternahmen, insbesondere, wenn es im Kontrast des musikalisch fürs Genre der Band Ungewohnten zum textinhaltlich Altbekannten. So ist es bei diesem Song: Rein lyrisch betrachtet, haben wir es hier mit einem typischen Punk-Topos zu tun: Die Ablehnung sämtlicher Vorschriften, Vorgaben, Gesetze und auch aller Führer, Idole, Heiligen und Ideologien. Das ins Anarchistische gehende Lebensgefühl, das sich dann ja auch vom im Punk eher präferierten linken Geist, etwa Richtung Kommunismus/Sozialismus gehend, scharf abgrenzte. Richtige Hardcore-Punks streben selbstverständlich nach dem noch viel weltfremderen System, nämlich der Abwesenheit jeglicher Strukturen, Herrschaft und Ordnung, der Anarchie, einer quasi "täglichen Neuaushandlung der Werte", die unmöglich realisiert werden kann. Deshalb auch nicht angestrebt werden sollte.

Selbstverständlich sollte man sich nicht untertan machen, selbst mit einer guten Sache nicht gemein. Das gilt vornehmlich für den Journalismus, ist sonst jedoch ebenfalls nicht zu verachten. Die Wahrheit muss in der Mitte liegen, zwischen alldem, das einseitig geht. Dessen wir alle irgendwie anheimfallen, auch ich. Mein Weg geht zurzeit eher ins Konservative, was ja auch eine Richtung ist, nicht die Mitte jedenfalls. Mitte heißt natürlich auch, sich nicht festzulegen.

Soweit zur Theorie. Musikalisch jedoch haben wir es beim Song "Chezus" (eine im Nachhinein etwas missglückte Kofferwortschöpfung aus "CHE GUEVARA, JESUS und noch irgendwas/irgendwer dazwischen) mit einer astreinen Punknummer zu tun, die sich aber als etwas härter instrumentierter, weil mit E-Gitarren gestalteter, Reggae-Titel tarnt. Ja, der Rhythmus juckelt hin und her, zwischendrin, auch mit Halleffekten verstärkt und leichter Stimmverfremdung hier und da, ja, man hat es in der Tat mit einem modernen, in der Gangart etwas härteren Reggae-Stück zu tun. Melodie: Einfach aber tierisch ins Ohr gehend, zum Mitsingen gedacht und geeignet. Eine richtige Punk-Hymne für die Punker, die nicht nur das übliche Punkgeschrammel mögen. Sprich: keine Nummer für Puristen in dieser Hinsicht. Das Schöne am Lied ist: Hier kriegen alle ihr Fett weg, in selbstironischer Selbstreferenz auch "Punkbandsänger", aber auch die RAF (der in einem auf der EP "Herrénhandtasche" [sic!] schlicht "RAF" betitelten Stück ein fragwürdiges Huldigungsdenkmal gesetzt worden war), schmuddelige Rucksack-Punker, Fanzine-Schreiber (Fanzines sind die Punk-Magazine für Fans dieser Musik und dieses Lebensstils), Politiker, rote Ampeln und alles, was einem auf den Sack gehen kann. Natürlich wird sich gleichermaßen von CHE GUEVARA und Hitler distanziert, sogar vom "guten", viel zu früh verstorbenen Talent und möglichen Mörder seiner Jugendliebe NANCY SPRUNGEN  SID VICIOUS von der Ur-Punkband SEX PISTOLS – und sogar NIRVANA-Mastermind und Rebell KURT COBAIN, wird hier eine Absage erteilt. Man will frei sein – und alles in den Sondermüll schmeißen, vielleicht den der Geschichte, ständig ertönt ein entschlossenes "(alles) weg damit!" Eines der wenigen WIZO-Lieder, mit denen ich mich auch als nicht mehr linksradikale Socke, als eher gesetzt seriös-konservativer Zeitgenosse, noch halbwegs identifizieren kann – und können werde auf der Einsamen-Insel. Es ist einfach eine universelle Ablehnungshaltung, die ich wenigstens in großen Teilen noch teile. Nur dass ich nicht mehr nur echte Neonazis hasse, sondern mittlerweile auch die mir vor nicht allzu vielen Jahren noch sympathische Antifa & all die linksextrem(istisch)en Drecksbanden. Auch die Ablehnung jeglicher religiösen Shows und den Glauben an etwas Religiöses finde ich zurzeit noch ganz okay, selbst wenn ich mit diesen Vorstellungen, denen ich vor nicht allzu langer Zeit noch selbst anhing, meinen Frieden geschlossen habe. "Ich brauche keinen JESUS CHRISTUS – und keine Märchenreligion!" Fürwahr, das gilt insbesondere auch für den Drecks-Islam! Geiles Lied! Lobe ich mir!

 

  1. WIZO – "Die letzte Sau" (1994)

Gelegentlich können typische Punkbands auch humorvoll. Wie die Jungs um AXEL KURTH aus dem schönen schwäbischen Sindelfingen. Dieser Humor funktioniert immer dann glänzend, wenn man nicht zwangsläufig nach Punkrock klingt, sondern wie hier, eine Low-Tempo-, fast schon schlagereske Nummer abzieht. Für WIZO-Verhältnisse ungewöhnlich ruhig, kommt auch nicht der verkrampfte sozial- oder gesellschaftskritische Ton verkniffener Punkbands, die heutzutage längst der Inbegriff des neuen Spießertums sind, besser an. Wie in eine lokale Geschichtsstunde wähnt man sich versetzt, hört man die Geschichte des "alten Schlachthofs", der in einer nicht namentlich genannten Stadt liegt. Anlässlich seiner Schließung für immer schaut man allgemein mit Wehmut auf das Ende hin, mit einem leicht ironischen Unterton, der der Punkband WIZO angemessen ist. Prädestiniert für den Lokalteil einer Provinzpostille wie den WESTFÄLISCHEN NACHRICHTEN – oder, verlegt man die Handlung ins Herkunftsörtchen der Band, Sindelfingen im schönen Schwabel, in der SZ/BZ, der SINDELFINGER ZEITUNG/BÖBLINGER ZEITUNG, wird hier das alte Nutztiertötungshandwerk zu Grabe getragen. Gewiss, sicher nicht ohne eine gewisse Genugtuung, bestimmt aus Veganer-Sicht, doch ob Bedauern gänzlich fehlt, bleibt aus meiner Sicht ungewiss. Das Lied war der Renner in alten, halbwegs durchwachsenen oder sogar zaghaft glücklichen Tagen, als DOMINIK N. und viele andere Freunde noch zugegen waren und wir vieles von WIZOs Platten gutfanden.

 

  1. WIZO – "Mein Tod" (1992)

Um vor den Folgen des Drogenkonsums, dem Einschmeißen (überwiegend) verbotener Substanzen zum Sich-selbst-Abschießen, Genießen und der tristen Realität kurzzeitig entkommen, seltener: "sein Bewusstsein zu erweitern" zu warnen, muss man nicht mit der Holzhammer- oder Zeigefingermethode kommen. Es geht auch deutlich subtiler. In einem ihrer älteren, intelligenten Texte beschreibt die Band WIZO in einem vertrackten und das Tempo geschickt variierenden Punkrockstück, das sich insgesamt schwermütig und schnell aber auch stellenweise verzerrt langsam und qualvoll gibt. "Ist das mein Tod?" fragt Sänger AXEL KURTH immer wieder nachdrücklich und verzweifelt zugleich, während er das Gefühl eines Drogenrausches plastisch und eindringlich beschreibt. Dieses zwischen Schweben und Albträumen angesiedelte, das Schwinden der Sinne, der gefühlte freie Fall, das Knallen im Schädel. "Gedanken sind aus Pattex, die Gefühle sind aus Sand", "sie laufen durch die Uhr, die mein Lebensende kennt"… Der drogeninduzierte Horrortrip, aus dem es kein Entrinnen mehr gibt, bis man es sich sehnlichst wünscht, zu sterben. Am Ende piept das extrem schrille Geräusch eines Herzmonitors im Krankenhaus, sobald der Herzschlag versagt, eine quälende, peinigend lange Dissonanz, die man nicht unbedingt allzu nah am Ohr (etwa durch Kopfhörer) haben sollte, wenn man das Lied hört. Ich glaube, besser kann man nicht vom Drogenkonsum abraten. Ein wichtiges Lied, vor allem auch für die Einsame Insel, auf der ich auch an Substanzen geraten könnte (die dort natürlich vorkommen könnten), die eventuell zu Vergiftungserscheinungen und horriblen Räuschen führen könnten. Wichtiges Lied. 

 

  1. WIZO – "Nix & Niemand" (1992)

Einer der wenigen Anti-Nazi-Songs der alten Bundesrepublik, also die nach der Widervereinigung, Prä-Corona und erst recht vor MERKEL und ihrer beknackten Grenzen-Öffnen-Entscheidung, die funktionierten, zu Zeiten, als man noch zwischen Nazis, Konservativen, Rechtsliberalen, Moderaten und Sozialdemokraten unterscheiden konnte und selbst in der SPD noch Positionen okay und mittig waren, die jetzt, dank der Linksverschiebung des Overton-Fensters, schon als "inakzeptable rechtspopulistische Hassrede" auf Basis der AfD gelten. Einer der wenigen dieser Songs, der funktionierte. Er brachte das Thema auf den Punkt. Musikalisch handelt es sich um deutschsprachigen Punkrock-Sound, ein eher düsterer, harter und kämpferischer Klang mit schwerem Rumpeln, zischelndem, peitschendem Hi-Hat-Schlagzeug, herausfordernd jaulenden E-Gitarren und grobem Schliff. Textlich wird ein typischer Nazi der alten Fraktion thematisiert, wie er 1992, als das Lied entstand, leider nur zu präsent war: Ein Asylheime in Brand steckender Glatzenträger mit Springerstiefeln (DOC MARTENS, tragen Punks übrigens auch), der in seiner undifferenzierten und schwarz-weißem Denken entsprungenen Ausländerfeindlichkeit ohne Nuancen, ohne Zwischentöne und voller dumpfen Menschenhasses alles Nichtdeutsche oder alles nicht genug Deutsche hasst. Ein gewaltbereiter Schlägertyp, der mit Worten nicht zu überzeugen ist, nur eine "Sprache" zu verstehen scheint, die der körperlichen Gewalt. Ein Stereo- aber Prototyp eines 1488er-Spinners, der für Argumente nicht zugänglich bleibt.

Im Grunde entspricht dieser ungute Geist einem der heutigen Antifa-Wichser: Sie sehen überall Nazis – in denen, die nicht voll ihrer Meinung sind, sind weder für Worte noch irgendwelche Argumente zugänglich, überbrüllen einen – und sind, wie gewisse Angriffe mit Schreckschusswaffen bereits beweisen (oder solche mit Kanthölzern) zum Äußersten fähig und zur Gewalt bereit – jederzeit. Sie greifen jeden an, der für sie "Nazi" ist, was i.d.R. nicht dem entspricht, was früher de facto Neonazi war. Neonazis sind zum Glück in einer kleinen Minderheit, die sowieso keiner beachtet und denen keinerlei Sympathien von allen angeblich so rechten Konservativen entgegenschlagen. Doch auch dieses Lied macht den Fehler, moralisch nicht einwandfrei zu bleiben. Zur Gewaltlosigkeit wird hier nicht aufgerufen. Wenn es im Textverlauf, nach einem unverständlichen Soundmatsch aus verfremdeten, verzerrten, dunklen Monsterstimmen und vertrackten Gitarrenfiguren (nun, für einen Punkrocksong ziemlich ausgefeilte), heißt: "Ich bedien' mich deiner Sprache – sie allein kannst du verstehen – wenn du genug geprügelt wirst, dann wirst du vielleicht sehen…" – Gewalt soll also auch weiterhin mit Gewalt beantwortet werden, das gilt immer noch, da hat sich nichts am ach so hehren linken Ideal geändert. Man verstehe mich nicht miss, ich bin definitiv auch für Gewalt zu haben, halte sie in manchen Momenten, Situationen und unter gewissen Voraussetzungen sogar für zwingend gegeben, jedoch nicht in diesem Maßstab. Ich befürworte Gewalt nur als Selbst- und Fremdverteidigung (Notwehr bzw. Nothilfe) und als reine Reaktion auf Tyrannen und andere Totalitäre, jedoch nach Möglichkeit nicht, nach Möglichkeit keine politische Gewalt. Die verabscheue ich! Ebenso wie die als Selbstzweck und aus reiner Animosität. So passt denn auch der Rest des Textes wie die Faust aufs Auge der heutigen Antifanten: Bunte Köpfe statt "kahler", Leder- und Jeansjacken statt Bomberjacken, uniform und primitiv ist auch übereinstimmend, Gruppenzugehörigkeit wird auch bei Antifanten großgeschrieben. Wenn nicht als Mensch, so als Antifanter, so will ich es weiter übersetzen in modernen Kontext.

 

  1. WIZO – "Überflüssig" (1994)

Zur punkigen Attitüde, der gesamten sie umrahmenden Lebenseinstellung, gehört wie selbstverständlich auch ein deftiger Nihilismus, mit mal melancholischem No-Bock-No-Future-Einschlag und mal einem Existenzialismus, der gröber auf Spaß und Saufen aus ist. Hier haben wir es mit ersterer Variante zu tun: "Überflüssig", ein flott peitschender, mit deprimierend gestimmten E-Gitarren und tiefem, schrillem E-Bass und einem nicht minder wilden Schlagzeug, Titel drückt die ganze Sinnlosigkeit im fast schon Vanitas-Sinne aus. "Von der Geburt bis in den Tod ist's nur ein kurzes Stück – die Lebensuhr tickt unaufhaltsam – nichts dreht sie zurück", beklagt sich AXEL KURTH in pessimistischem Duktus und Tonfall, alles scheiße, alles sinnlos, alles ohne etwas Gutes, Bleibendes, von existenziellen Zweifeln nahezu zerfressen ist dieses Lied. Was hülfe es dann? Gibt es einen Ausweg? Jugendliche wie ich damals war, stellen sich diese Fragen. Ja. Fürwahr.

 

  1. WIZO – "ZGV" (2005)

Ebenfalls typische Punk-Angewohnheit: Über bestehende und längst vergangene Zustände heulen: Die Vergangenheit ist tot, sie wird nicht wiederkommen, früher war zwar nicht "mehr Lametta" (laut LORIOT), aber immerhin fast alles besser. Die Punkbewegung war noch geschlossen, einig und noch nicht vom Kult und Kommerz vereinnahmt, noch nicht kapitalistisch ausgeschlachtet, die Songs waren echter, die Bands nicht am Gewinn interessiert…blablabla. Dabei ist es doch bekannt, dass selbst die SEX PISTOLS oder THE CLASH auch nicht einfach nur für lau gespielt haben. Nun, mir geht es in Teilen ähnlich: Früher war zwar nicht alles besser – aber das allermeiste, das es gab, schon! Es ist jedoch vorbei damit. "Zukunft, Gegenwart, Vergangenheit" sind zwar untrennbar miteinander verbunden, doch das "ZGV" abgekürzte Lied ist eine Klage darüber. Begleitet von einem charakteristischen, das ganze Lied bis zum letzten Ausklingen (selbst nachdem der letzte Sang verklungen ist) durchziehenden Uhrenticken, hektisch aber gut. Die Nummer: gewohnt hart, relativ zahmer Punkrock zwar, kein Turbo, aber heftig. Ja, die Verklärung des Vergangenen, die Erinnerung an all das Schöne, darf niemals getrübt werden, weshalb dieses Lied mich auf der einsamen Insel immer begleiten wird, ich werde es gern hören.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 18.07.2021. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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