Sven Eisenberger

Von Scharlatanen, Schiebern und Zeitungslesern

Wer jetzt genau beobachtet und akribisch Tagebuch führt, hält den Stoff für den kommenden post-coronaischen Seuchenroman in Händen. Eine Chronologie des durch Vernunftdiktat erzwungenen Irrsinns in Zeiten der Pandemie. Romanseuchen sind hingegen so schnell nicht zu befürchten, da es viele, vor allem kleinere Verlage vermutlich nicht mehr geben wird und vor allem die Zahl der Buchhandlungen, in denen sich aus einem großen Seuchenroman lesen ließe, dann sehr überschaubar sein dürfte. Da ich wohl zu allerletzt ein diszipliniert-systematischer Tagebuchschreiber bin, bleibt mir nichts anderes übrig, als persönliche Gedanken möglichst schnell in eine kurze Textform zu bringen. Bekanntlich wird unsere Sprache in hohem Maße sozial geprägt: Also, wenn ich Glück habe, steigt die Zahl der Leser in den ersten Tagen nach Veröffentlichung exponentiell, bevor die Kurve dann abflacht und das narrative Gewebe schließlich – früher als erhofft - ungelesen abstirbt.

Bevorzugt in Krisenzeiten sucht das Kollektiv nach Schuldigen. 2008 waren es entweder die vom Wettvirus befallenen Investmentbanker oder gleich der Finanzkapitalismus in toto, von dem viele fast zwei Jahrzehnte ebenso exzellent wie ethikfrei profitiert hatten. 2019/20 wurden zunächst die Chinesen als Urheber des Übels ausgemacht (“... schon wieder ein Virus aus China: was machen die da bloß?”), bevor auf europäischer Ebene gemutmaßt wurde, dass es ein Deutscher war, der die italienische Katastrophe ausgelöst habe. Für den Westfalen hingegen steht der rheinische Karneval am Anfang des Seuchenunheils, und so ließe sich problem- und endlos eine Kette fortsetzen, an deren Ende … unweigerlich der Anfang steht: die Natur. Allerdings halte ich es natürlich für unwahrscheinlich, dass es eine Fledermaus war, die auf einem chinesischen Speisezettel stand – ich favorisiere hingegen den aktuell global verhaltensprägenden Hamster, der als heißer Kandidat für das Tier des Jahres 2020 ... am Ende leider doch vom Maulwurf verdrängt wurde. In jedem animalischen Falle sollte fortan gelten: Immer erst kochen! Das ist ein Zivilisationsstandard, der sich selbst bei extrem rasch fortschreitender Welterwärmung nicht erübrigt.
Aufgeheizt ist das Klima inzwischen auch zwischenmenschlich, und die Umwertung aller Werte ist in vollem Lauf: aus Solidarität wird (gesellschaftlich gratifiziertes) Denunziantentum, aus Freiheitsrechten wird Rechtsfreiheit - allein Straßenverkehrsordnung und Erbrecht scheinen wie stets uneingeschränkte Gültigkeit zu besitzen -, und aus der “WIR”-beseelten Volksgemeinschaft von gestern wird ein schlagartig in den Hobbesschen Naturzustand (bellum omnium contra omnes) zurückgeworfener und durch die offizielle Kriegsrhetorik zusätzlich legitmierter Mob von hemmungslosen Panikkäufern und selbsternannten Gesundheits-Miliziomären. Kein Platz mehr für Dissidenten und Abweichler – das ganze Land erscheint wie von einem zähen Konformitätsbrei überzogen. Zudem ist bis in den letzten Krähwinkel hinein die Stimmung so angespannt, dass mein Freund Ben bereits befürchtet, jemand könnte im Netz das Gerücht verbreiten, ein Jude sei jener weltweit gesuchte Patient 0 gewesen. Er sei sich sicher, dass wir dann sofort wieder mit Pogromen in Deutschland zu rechnen hätten. Mir rutschte spontan der nicht ganz von der Hand zu weisende Einwand heraus, wie das denn gehen solle, wenn sich schon bei leichten Ausgangsbeschränkungen kaum noch jemand vor die Tür traue. Ich muss entschuldigend hinzusetzen, dass Ben in Israel aufgewachsen ist und sozusagen familiengeschichtlich für ein solches Szenarium vorsensibilisiert ist, denn natürlich wusste dieser sonst so scharfsinnige Analytiker, dass er auch Polen, Ungarn, Österreicher et alii hätte erwähnen müssen. Das Schlimme ist nicht, dass er trotz meiner launigen Erwiderung im Kern sehr wahrscheinlich gold(hamster)richtig liegt, denn das im Gewande des Opferduktus daherkommende Irrationale hat derzeit wahrlich Hochkonjunktur. Das eigentlich Schlimme ist, dass mir jegliche (Gegen-)Argumentationsgrundlage weggebrochen ist, seitdem Demokratien reihenweise erklären, ihre Fähigkeit zur Krisenbewältigung erschöpfe sich in der erzwungenen Selbstbeschneidung von Grund- und Freiheitsrechten. Ist das Argumentieren überhaupt noch sinnvoll, wenn schon der leisest geäußerte Zweifel nur noch hysterisch niedergeschrieen und weggepöbelt wird? Das letzte und sicherste Indiz für den Verfall und bevorstehenden Zusammenbruch einer Gesellschaftsform sind einerseits die explosionsartigen Ausbrüche von Bevorratungs-Stampeden (siehe Hamster) – Herdenwanhnsinn statt Herdenimmunität -, andererseits der blitzartige Aufstieg parasitären und ethikfreien Kleinunternehmer- und Marktbanditentums. Strukturierte Fortsetzung folgt:

Spekulative These: Sie ist wieder da: die windige Nachkriegsgestalt des Schiebers, der mit bewundernswertem Geschick im Eiltempo die steilen Hänge des Versorgungsengpasses besetzt. Wo das Atmen unter den Bedingungen des globalen Ausnahmezustandes selbst Noch-nicht-Infizierten zunehmend schwerfällt, da nimmt er genüsslich einen tiefen Zug aus seiner Sauerstoffflasche. Seine schmierige Visage bleibt vielfach ungesehen in Zeiten globaler Vernetzung und antiviraler Maskierung. Auch innerhalb der eigentlich geschützten Dreimeilen-Zone unseres Marktterritoriums fischt er die letzten Bestände an Sicherheitsmasken, Toilettenpapier, Schutzanzügen und allerlei in Normalzeiten eher verzichtbarem Mist leer.

Narrativer Beweis: “Five leaves left” - das war früher der Warnhinweis auf einen sich rapide dem Ende zuneigenden Bestand an Zigarettenblättchen. Ganz und gar unpoetisch war die reichlich verspätete, an Verdruckstheit kaum zu überbietende Einlassung meines ebenso unzeitlich erschienenen Wochengasts, dass uns möglicherweise weichpapierlose Tage bevorstünden. “Wie kann das denn sein? Wir hatten doch gestern noch ´ne ganze Rolle!”, entfuhr es mir. “Ja, da iss mir heute morgen so´n Malheur passiert mit dem Kaffee, und dann muss noch etwas in deinem Chicken Curry gewesen sein, was ich nicht so gut vertragen hab´.” “Bist du des Wahnsinns, da draußen ist Krieg und du aast hier mit dem Wertvollsten herum, was es derzeit auf dem europäischen Markt gibt! Selbst im Netz herrscht schon der gnadenlose Bieterkampf um die letzten Restbestände an Toilettenpapier - Preise wie 1923!”
In einem dieser ausgesprochen hässlichen Konsumsilos mit großen grünen Lettern versuche ich mein unwahrscheinliches Glück und bin schnell in eine Massenkarambolage von Einkaufswagen verwickelt, die sich gegenseitig blockieren und ineinander verkeilen, sobald man sich einen Ausweg zu schieben versucht. Wer denkt sich solcherlei Zwangsmaßnahmen im Verbund mit einem ohnehin hyperstressigen Einkaufsgeschehen nur aus? Dem Raubtier namens “Masse” stehe ich zeitlebens argwöhnisch gegenüber und mit Überschreiten einer bestimmten Altersgrenze ist man einfach nicht mehr bereit, “jeden Zirkus mitzumachen”, wie mein Vater sagen würde. Endlich im Kassenstau stehend, bricht eine Frau in Tränen aus, als ich betont laut vor mich hinspreche, dass die Wahrscheinlichkeit einer Ansteckung in einer Einkaufsschlange in Zweiminuten-Intervallen um je 10% steige (und wir ja bereits seit 14 Minuten hier aufgereiht hintereinander stehen). War natürlich frei erfunden, doch ich gestehe, dass in Kontexten galoppierender Hysterie in mir unverweigerlich ein sadistisches Bedürfnis nach maximaler Eskalation bereits sehr angespannter Situationen erwächst.
Es war, als hätten Marsianer mit chronischen Durchfallserkrankungen von ihren Raumschiffen aus mit riesigen Saugrohren alle Bestände an Toilettenpapier aus den Supermärkten herausgezogen. Zum Glück gibt es ja noch den Drogeriehandel. Denkste, da waren sie auch schon! Was tun? Da fiel mir ein: in seligen WG-Zeiten hatten wir, wenn zum Monatsende hin (oftmals auch bereits früher) die Haushaltskasse leer war - und staatliche Hilfsprogramme nicht in Sicht waren -, die in manchen Uni-Toiletten gestapelten Klopapierrollen einfachster Güte (bei Schleifpapier spricht man fachmännisch von “Körnung”) kurzentschlossen zu Volkseigentum erklärt und dann “privatisiert“. Wahrscheinlich waren im modernen, dem gehobenen Designbedürfnis heutiger Studierender und Dozenten geschuldeten Hochglanz-Universitätsbetrieb sogar superweiche, saugfähigkeitsmaximierte Edelrollen zu finden. Nichts wie los, doch auf halber Strecke fiel mir jäh die kalte Erinnerungsguillotine ins Genick, dass doch sämtliche Hochschulen im Lande bereits ihre Türen geschlossen hatten. Kein Zweifel mehr: Ich war am Ar... 

Lösungspraktischer Exkurs: Erinnere Dich - die praktischen Lösungen für fast alle Probleme der Gegenwart liegen in der Vergangenheit! Du bist doch Historiker, mach dir das zunutze! Hatte deine ländlich beheimatete Großmutter nicht sogar noch in den frühen 1970er Jahren regelmäßig Zeit darauf verwendet, gelesene Zeitungen in handliche, quadratische Kleinformate zu zerschneiden, um diese dann im ehedem als Schweinestall und dann als Plumpsklo genutzten Verschlag auf einen aus der Holzwand herausragenden Eisennagel (die Vulgärform des Klorollenhalters) zu spießen, der zwar in Reichweite einer erwachsenen Geschäftsperson liegen mochte, für Kinder aber stets mit einem kurzzeitigen Verlassen der soeben erst angewärmten, ebenhölzernen Klobrille verbunden war? Mensch, was hatte die stets nach Kernseife riechende alte Dame nicht damals schon alles recycelt bzw. einer multiplen Verwendung zugeführt! Wenn ich es recht bedenke, war dieses einfache, natürliche Leben auf dem Lande nichts anderes als der Inbegriff der nun allerorts vermissten Krisenfestigkeit. Und auch in anderer Hinsicht sollte das häufige Verweilen im behelfsökonomischen Haushalt der Mini-Renten-Bezieherin mir nicht zum Nachteil gereichen. So lernte ich schon vor Eintreten in den Kreis der bundesdeutschen Leserschaft, dass sich das Qualitätsgefälle zwischen seriöser Tagespresse und billigen Fernsehzeitschriften oder Unterhaltungsmagazinen wesentlich nach dem Grade der Absorptionsstärke des Papiers bemaß. Nur eine Zeitung, da war ich mir als Fünfjähriger bereits sicher, BILDete eine Ausnahme; da klaffte die Schere zwischen inhaltlicher Qualität und hygienetechnischer Tauglichkeit weit auseinander. Mit anderen, weniger sorgsam gewählten Worten: innen wie außen, gedanklich wie stofflich für´n Ar...!

(Der Autor entschuldigt sich für das verspätete Erscheinen und die punktuell angedeutete Verwendung expliziter Sprache!)

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 20.07.2021. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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