Ralph Bruse

Der Mann am Brunnen

Der Mann am Brunnen


Er hatte keine Eile. Ging gemächlich für sich hin. In der einen 
Hand den mittelgroßen, kupfernen Käfig. Mit den acht Vögeln,
darin. Singvögel. Gelbe, rote und weiße. Sie sangen schüchtern,
weil der Käfig hin und her pendelte – langsam zwar – jedoch ge-
nug, um sie in Ängstlichkeit und Aufregung zu bringen.
Die Alten, die vorbeigingen, schüttelten nicht verstehend ihre
Köpfe. Andere lachten ihn aus. Die Kinder jedoch liefen ihm nach.
In Scharen. > Jörge ist daaa!...daaa!.., < schallte es über den Platz.
Sie kannten den Mann, der fast jeden Tag ins Stadtzentrum strebte;
zum Brunnen, am Marktplatz; sich dort auf eine Bank setzte; die
Vögel dicht neben sich.
Er zog lächelnd die kupferne Käfigtür auf. Lächelte auch, als eins
der Kinder – ein Mädchen – hinein und nach einem Singvogel 
griff, der zunächst jämmerlich fiepte. Lächelte noch, als er sagte:
jetzt lass ihn frei.
Das Mädchen öffnete vorsichtig und langsam die halb geschlosse-
ne Hand. Lachte fröhlich und laut, als der Vogel in die Lüfte stürm-
te und sich einstweilen am Brunnenrand wieder niederließ, um ei-
nigermaßen erregt sein Singen anzustimmen.
Dann ein Junge: Jörge lächelte, nickte auch ihm zu. Der Junge griff
nach dem kleinsten, weißen Vogel, dessen Köpfchen ein struppig 
abstehender Federkranz zierte. Zog ihn sanft hervor; blickte den
Mann fragend an. Der nickte abermals vielsagend. Und der Junge
öffnete, befreit lachend, die Hand.

So ging es weiter. Etwa fünfzehn Minuten lang – doch Zeit und Ort
schienen völlig abhanden zu sein. Schließlich war der Kupferkäfig
leer und all die bunten Vögel saßen, sich aufplusternd und zueinan-
der gesellend, am Brunnenrand. Direkt hinter ihnen schoss sprudeln-
des Wasser in die Höhe. Drei, vier Meter hoch – prasselnd, rauschend.
Nichts geschah. Die Vögel saßen vereint da, immer wieder zur Bank,
zum Mann hinschauend. Bis der sich langsam erhob, auf sie zuging;
sie erreichte; jedem einzelnen der acht Vögel behutsam über das Ge-
fieder strich und sie dann mit warmem Atem anhauchte – jeden ein-
zeln.
Erst da flogen sie wie auf ein unbestimmtes Zeichen hin davon und
in die Welt hinaus, bis sie niemand mehr sah und sie im kristallblau-
en Himmel verschwanden.

Der Mann ging frohgelaunt heimwärts, den leeren Käfig an der Hand.
Kommst du morgen wieder?, rief eines der Kinder ihm nach.
Ja, sagte er. Und lächelte freundlich. Dann war auch er im Getümmel
der Stadt verschwunden.

Die große Voliere im Hof des alten Hauses beherbergte an die zwei-
hundert Vögel. Und immer kam fast täglich Nachwuchs hinzu. Er gab
allen genug Wasser, Futter, Nistkörbchen mit frischem Gras darin; 
auch Sand und Stroh am Boden;  Geäst mit grünen Blättern – und viel 
Licht, das durch morsche, breite, graue Holzfenster hereinkam. Alles 
war da. Die Vogeleltern zogen ihre Jungen völlig selbstständig auf; füt-
terten, umsorgten sie.
Eigentlich ein kleines Paradies für seine gefiederten Freunde: die rie-
sige Voliere, im Hof des alten Hauses...Doch er ließ sie davonfliegen -
alle – nach und nach.
Brach am nächsten Morgen wieder auf, den Käfig in der einen Hand, 
mit sieben, acht Vögeln, darin. Richtung Brunnen, am Marktplatz.
Alles war wie immer. Doch dann geschah Ungewöhnliches...
Sie hielten ihn an – und fest. Polizisten auf Fußstreife. Zu zweit. Er
konnte sich nicht ausweisen, konnte auch nicht recht erklären, warum 
er sieben Vögel mit sich führte. Sie hielten ihn noch fester – da wehrte
er sich lautstark, schlug wild um sich. Der Vogelkäfig krachte zu Boden.
Die Vögel, darin, fiepten voller Angst.

Sechs Tage arrestierten sie ihn später, auf der Wache. So lange deshalb,
weil er einem Polizisten drei Vorderzähne ausschlug – unbeabsichtigt.
Jörge fühlte sich schuldlos, wollte sich nur aus den harten Griffen der 
Ordnungsmächtigen befreien. Wie die Vögel im Käfig war er plötzlich: 
wollte nur raus, ins Freie. Ruderte wild umherschlagend mit den Ar-
men, als seien sie rettende Flügel. Vergeblich.

Immerhin gaben sie ihm ausreichend Wasser und Nahrung im Arrest.
Auch den sieben Vögeln warfen sie spottend Brotkrumen vor den Käfig.
Er bettelte schon gleich zu Anfang, daß sie ihn bitte freilassen mögen , 
weil er doch jetzt sovielen Vögeln fehlt, die zu versorgen sind.
Sie hörten weg. Lachten nur über ihn.

Am siebten Tag endlich; frühmorgens, lief er auf kürzestem Weg nach 
Hause. Durchquerte das modrige, alte Haus – erreichte den Hof – riss 
die Tür zur Voliere auf.
Alle lagen sie dort, am Boden: leblos, verkrümmt, meist mit weit aufge-
rissenen Schnäbeln: verdurstet. 
Der Sommer in jenem Jahr war heiß und unerbittlich.

2.
Im Herbst, danach, führte ihn der Weg wieder unerschütterlich zum 
Brunnen am Markt. Acht Vögel hatten einst überlebt. Inzwischen waren
es wieder einhundertachtzig. Sieben davon führte er nun in die Freiheit.
> Jörge ist wieder daaaa!!….daaaa!!, < hallte es über den Platz.
Dann saßen sie alle aufgeregt da: mit großen, funkelnden Augen wie na-
he Sterne: die Mädchen und Jungen. Und der Mann, mittendrin, zog 
milde lächelnd die kupferne Käfigtür auf....



© Ralph Bruse

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 21.07.2021. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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